Der mafiöse Staat
Verbrechen und Staatlichkeit sind in Brasilien eng miteinander verflochten
Justiça, Paz e Liberdade!“ – „Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit“, so steht es an zahlreichen Häuserwänden in den Armenvierteln von São Paulo geschrieben. Doch ist dies keine Forderung einer sozialen Bewegung. So lautet das Motto der Gefängnismafia Erstes Hauptstadtkommando (PCC). In Rio de Janeiro findet man ähnlich gelagerte Sprüche an den Wänden: „CV ist die Macht der Jugend!“ CV, das ist das Comando Vermelho – das Rote Kommando – die älteste Verbrecherorgansisation Brasiliens. Passend dazu kann man im Internet Hip-Hop-Lieder hören, welche die Gewalt des CV oder des PCC feiern und legitimieren. Nur sie würden sich wirklich um die armen Viertel kümmern, ihre Gewalt sei letztlich eine legitime Selbstverteidigung, so der Tenor dieser Texte.
Moderne Robin Hoods?
Zu gerne geben sich die Drogengangs als Rächer der Enterbten. Allein der Name „Rotes Kommando“ suggeriert, dass dieses sich als eine Widerstandsbewegung präsentiert, die für die unteren Klassen der brasilianischen Bevölkerung kämpft. Ihre Herkunft aus den Armenvierteln passt dabei sehr gut zum romantischen Bild vom Sozialrebellen. Tatsächlich wurden beide Organisationen, CV und PCC, in Gefängnissen gegründet, um sich gegen die brutalen Haftbedingungen gemeinsam zu wehren. Auch außerhalb der Gefängnisse halten die Bandenmitglieder zusammen. In ihren Pressebotschaften sprechen sowohl PCC als auch CV immer vom „Widerstand“ gegen die Polizeigewalt.
Doch die Realität sieht anders aus. Hauptbeschäftigung der Banden ist der Konkurrenzkampf um die in den Favelas angesiedelten Verkaufsstellen für Drogen. Blutige Auseinandersetzungen zwischen den hochbewaffneten Gruppen gehören dabei, insbesondere in Rio de Janeiro, zum Alltag in der Favela. Die Gewalt der Drogengangs richtet sich mitnichten ausschließlich gegen die Polizei. BewohnerInnen der Favelas, die sich nicht dem Willen der Gangs unterwerfen, werden schnell zur Zielscheibe der Brutalität der Jugendbanden. Um gleichzeitig ein wenig Rückhalt in der Bevölkerung zu bekommen, verteilen die Kommandos gelegentlich Essen oder Medikamente in den Favelas. Der hochgehaltene Wert der Solidarität gilt jedoch nur untereinander.
Pervers integriert
Von den – nicht nur brasilianischen – Medien werden die Chefs dieser Banden immer wieder als „Feudalherren“ bezeichnet. Die Bosse werden als souveräne Herrscher über die Favelas dargestellt, die absolute Kontrolle über einen von jeglichem staatlichen Zugriff befreiten, autonomen Raum besitzen würden. PCC, CV und ähnliche Vereinigungen seien ein „Staat im Staat“ oder eine „Parallelmacht“, heißt es oft.
Diesen Mediendarstellungen widerspricht Marcelo Freixo, Aktivist der in Rio de Janeiro tätigen Menschenrechtsorganisation Justiça Global vehement: „Die Drogenbanden stellen keine Parallelmacht dar! Die Macht der Drogengangs ist lokal extrem beschränkt. Sie erstreckt sich ausschließlich auf die Armenviertel.“ Gegen die Polizei hätten sie keine wirklich „militärische“ Chance, sagte er den Lateinamerika Nachrichten.
Der Gedanke einer Parallelität führe in die Irre. Schon allein über die Verbindungen zum internationalen Waffenhandel werden Drogengangs und staatliche Akteure zu Geschäftspartnern. Drogenhandel ist schließlich eines der lukrativsten Geschäfte der Welt. „Die Versorgung mit Waffen funktioniert über korrupte Polizisten“, erklärt Freixo. Die Waffen würden von Netzwerken innerhalb der Polizei und des Militärs vor allem über Paraguay nach Brasilien geschmuggelt. Die moderne Bewaffnung und die lokale Macht der Gangs in den Armenvierteln lässt sich nicht ohne die Beteiligung von Teilen des Staatsapparats erklären.
Zu diesem Schluss kommt auch die Anthropologin Alba Zaluar. Für sie handelt es sich deshalb um eine „perverse Integration“ der Drogengangs in den Staat. So lautet der Titel ihres Buches von 2004, in dem sie die Ergebnisse ihrer jahrzehntelangen Forschung über Armut und Drogenhandel präsentierte. Der Transport der Drogen – vor allem Kokain aus den Andenländern – würde von GroßgrundbesitzerInnen und UnternehmerInnen organisiert. Sie machten den großen Profit. „Die kleinen Dealer aus der Favela, ihrem ganzen militärischen Apparates zum Trotz, helfen in Wirklichkeit nur denen, sich zu bereichern, die tonnenweise mit Drogen handeln und den Waffenhandel kontrollieren: dem Handelsunternehmer, der in illegale Geschäfte involviert ist, dem korrupten Polizisten, dem kriminellen Anwalt und so weiter“, schreibt sie in ihrem Buch.
Dass vermeintliche Sozialbanditen gut in den Staat integriert sind, hat in Brasilien Tradition. Bis heute wird Lampião, ein Bandit, der in den 1920er Jahren im Hinterland des Nordostens aktiv war, von vielen Linken und armen BrasilianerInnen als Held der Armen dargestellt. Letztlich waren die cangaceiros, wie die Banditen des Nordostens genannt wurden, jedoch weniger Sozialbanditen als Banditen zur sozialen Kontrolle, wie der Publizist Julio Chiavenato schreibt. So erhielten die Banditen ihre relative territoriale Kontrolle nur dank Verbindungen mit Großgrundbesitzern und Politikern, welche im Gegenzug für die Freiräume die Banditen als Privatgarde gegen unliebsame Kleinbauern in den Dienst nehmen konnten. Letztlich unterschieden sich Banditen und Polizei wenig in Brasilien, und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Wer Bandit ist und wer nicht, hat vor allem mit Beziehungen zu tun.
Dies macht eben die brasilianische Staatlichkeit aus: Seit der
Kolonialzeit bediente sich die Administration extralegaler und nichtstaatlicher Gewalt, um die bestehende Ordnung zu verteidigen. Dies war auch nötig, um das große und dünn besiedelte Territorium überhaupt kontrollieren zu können. Im 19. Jahrhundert wurden die Privatarmeen der lokalen Eliten in der Form von Milizen sogar institutionalisiert. Dies führte zu der paradoxen Situation, dass nichtstaatliche Gewaltakteure Teil der brasilianischen Staatsformation sind (Vergleiche den Artikel von Markus-Michael Müller in dieser Ausgabe).
Einen wichtigen Wandel im Verhältnis von staatlichen Sicherheitsorganen und Bevölkerung brachte der Militärputsch von 1964. Ab dieser Zeit bekam die Polizei einen Freifahrtschein für jegliche Gewaltanwendung gegen die politische Linke. „Nach dem Ende der Militärdiktatur gab es keine strukturelle Änderung der Sicherheitsorgane. Die Demokratie hat diese Struktur übernommen“, meint Mauricio Campos gegenüber den Lateinamerika Nachrichten. Er ist in dem Netzwerk Front des Populären Kampfes (FLP) gegen Polizeigewalt in Rio de Janeiro aktiv, die Menschen betreuen, die Opfer von Polizeigewalt wurden und versuchen, Fälle willkürlicher Polizeigewalt aufzuklären.
Polizei außer Kontrolle
Meistens ist die Polizeigewalt Resultat von Streitigkeiten innerhalb mafiöser Strukturen. „Die brasilianische Polizei, insbesondere die in Rio de Janeiro, ist extrem korrupt“, erzählt Campos. 30 bis 40 Prozent der Einnahmen der Drogengangs in den Favelas gingen als Schutzgelder an die Polizei. Diese Zahlen wurden auch von O Globo, der größten Tageszeitung Rio de Janeiros, bestätigt. „Die mafiösen Strukturen brauchen das Klima der Gewalt. Die Polizei muss immer wieder Gewalt ausüben, sonst verliert sie ihre Verhandlungsmasse. Sie muss demonstrieren, dass sie fähig ist, das Geschäft empfindlich zu stören, damit sie Schutzgelder abpressen kann“, erzählt Campos weiter. Außerhalb ihrer Dienstzeit würden viele Polizisten noch bei paramilitärischen Gruppen arbeiten. Diese wurden von Ladenbesitzern gegründet, um als private Sicherheitsfirmen zu agieren, doch mit der Zeit suchten sich diese Gruppen noch andere Geschäftsbereiche wie etwa Schutzgelderpressung oder die Kontrolle von illegalem Glücksspiel. Die berüchtigte Paramilitärische Gruppe Scuderie Detective Lecocq, der vor allem Polizisten, aber auch Staatsanwälte, Richter und Politiker angehören, kontrolliert etwa den gesamten Drogenhandel des Bundesstaates Espirito Santo. In der dortigen Hauptstadt Vitoria existiert einer der größten Fernhäfen Brasiliens, und die Scuderie kontrolliert auf diese Weise auch einen großen Teil des Exports von Kokain aus Brasilien nach Europa und in die USA.
Kontrolle der Überflüssigen
„In Brasilien hat die Polizei nicht die Aufgabe, die Rechte der Bevölkerung zu garantieren, sondern die Armen zu kontrollieren“, meint deshalb Marcelo Freixo. Die Repression der Polizei konzentriere sich auf den schwächsten Teil des Drogenhandels, die Gangs in den Favelas, während der große Reibach an andere ginge. „Eine effektive Verfolgung der Geldströme, die aus dem Drogengeschäft stammen, würde wahrscheinlich viele Politiker, Unternehmer und sogar Richter auffliegen lassen.“
Marcelo Freixo vergleicht das Strafsystem Brasiliens mit dem der USA, wie es der französische Soziologe Loïc Wacquant beschrieben hat: als Strafstaat. „In den neunziger Jahren hat sich in Brasilien mit dem neoliberalen System ein ‚minimaler‘ Staat herausgebildet, der immer weniger in den sozialen Bereich investiert. Allerdings wird er begleitet von einem Staat der maximalen Repression, der totalitäre Züge trägt, dem ‘Strafstaat’“, sagt Freixo. Immer mehr Menschen in Brasilien seien für die kapitalistische Wirtschaft schlicht überflüssig. Diese Bevölkerung gelte es zu kontrollieren. Armut und die Bevölkerung ganzer Armenviertel werde kriminalisiert. Deshalb sei auch der Diskurs, der von einer „Parallelmacht“ in den Händen der Drogengangs rede, so gefährlich. „Jeder Bewohner einer Favela wird als verdächtig angesehen, als potentieller Feind der Gesellschaft betrachtet.“ So werde das extrem brutale Vorgehen der Polizei gegen die FavelabewohnerInnen gerechtfertigt, meint Freixo. „Wir haben es mit einer Ausrottungspolitik des brasilianischen Staates zu tun, die sich vor allem gegen schwarze und männliche Jugendliche aus den Armenvierteln richtet.“
Mauricio Campos sieht das ähnlich. Das brasilianische Justizsystem hilft dabei, die Ungleichheit zwischen Armen, die von der Polizei einfach getötet werden dürfen, und Reichen, die beschützt werden müssen, aufrecht zu erhalten. „Wir haben es teilweise mit Richtern zu tun, die von ‚genetischem Müll’ reden‘ wenn sie über die Bewohner und Bewohnerinnen von Favelas sprechen.“ In Rio de Janeiro unterstützen einige Politiker sogar paramilitärische Milizen, die Sicherheit bei den diesjährigen Panamerikanischen Spielen in Rio de Janeiro „anbieten“. Selbst Bürgermeister César Maia bezeichnete den „Sicherheitsservice“ der Kommunitären Selbstverteidigung (ACD) im Zusammenhang mit den Spielen als „nur ein kleines Problem, ein viel kleineres als etwa der Drogenhandel.“ Den Begriff ACD, der an die berüchtigten Paramilitärs AUC in Kolumbien erinnert, hat der Bürgermeister höchstpersönlich erfunden.
Rebellen ohne Perspektive
Vor diesem Hintergrund erscheint es verständlicher, weshalb es den Drogengangs zum Teil gelingt, sich als Widerstandskämpfer darzustellen. Dennoch ist es falsch, sie als Sozialrebellen zu betrachten. Alba Zaluar hat in ihren jahrelangen Forschungen nachgewiesen, dass die Drogengangs in keiner Weise zu einer Umverteilung des Reichtums beitragen. „Die Jugendlichen sind in einer Ideologie des absoluten Egoismus und Konsumismus gefangen“, schreibt sie in ihrer Studie. Häufig sind sie selbst drogenabhängig, deshalb hoch verschuldet und dadurch gezwungen, in dem Geschäft weiterzumachen, wenn sie ihr Leben nicht riskieren wollen. „Der Drogenhandel hat nichts Revolutionäres“, meint deshalb auch Marcelo Freixo. Vielmehr sei es eine unbewusste Reaktion auf eine Gesellschaft, die die Armen ausgrenze, aber Konsum als das reine Glücksversprechen anpreise. „Die Drogengangs in Rio de Janeiro sind extrem unorganisiert. Ihre Mitglieder werden immer jünger und immer brutaler. Die meisten bocas de fumo [Drogenverkaufsstellen, Anm. d. Red.] machen sogar ein Minusgeschäft. Diese Jungen arbeiten im Drogengeschäft, um etwas soziales Prestige zu bekommen. Sie wollen ein paar moderne Turnschuhe, ein bißchen Macht und mit ihren Waffen vor den Mädchen angeben. Es ist keine soziale Ideologie, die diese Jungen antreibt.“
Zudem ist die Gewalt der Jugendgangs in Brasilien hochgradig sexualisiert und maskulin aufgeladen. Die Jungen treibe eine extreme Form des Machismo zu ihrer Gewalt, schreibt Alba Zaluar. Frauen haben in besonderer Weise unter der Gewalt in den Favelas zu leiden. Denn durch die Abwesenheit oder den frühen Tod der Männer gibt es immer mehr alleinstehende Frauen, die ihre Familien nur auf sich gestellt durchbringen müssen. Diese Frauen müssten extrem viel arbeiten, was nicht selten dazu führe, dass die Kinder verwahrlosten, nicht zur Schule gingen und so auch leichter in die Fänge der Drogenbanden gerieten. So entstehe ein Teufelskreis, meint Alba Zaluar.
Als Lösung sehen Marcelo Freixo und Mauricio Campos nur eine wirkliche Umgestaltung der brasilianischen Gesellschaft. „Innerhalb des kapitalistischen Systems sehe ich keine Lösung für diese Probleme“, meint Freixo. „In Wirklichkeit ist der Staat die Mafia“, resümiert Mauricio Campos. Diese mafiöse Struktur müsse abgelöst werden von einem System, das auf Solidarität basiert. Nur so könnte die marginalisierte Bevölkerung auf eine Weise in die Gesellschaft integriert werden, die nicht pervers ist.