Jamaika | Nummer 489 - März 2015

Der Mozart von Jamaika

One Love – zum 70. Geburtstag von Bob Marley

In Kingston gilt der Februar als Reggae-Monat. In diesem Jahr wurde mit großen Open-Air-Konzerten, One-Love-Football-Match und einer universitären Tagung zu „Musical Legends and Cultural Legacies“ der runde Geburtstag von Bob Marley gewürdigt. Der Mythos um den Rasta aus Trenchtown und seine Omnipräsenz auf T-Shirts, Feuerzeugen, Eisverpackungen und in Dokumentarfilmen über Jamaika sind seit dessen Tod 1981 ungebrochen. Doch die musikalische Entwicklung findet heute eher im Dancehall statt.

Patrick Helber

Bob Marley, Reggae und Jamaika erscheinen außerhalb der Karibikinsel oft als Synonyme. Am 6. Februar 2015 wäre Robert Nesta Marley 70 Jahre alt geworden. Bereits mit 34 Jahren an Krebs gestorben, gilt der Erfolg von Bob Marley und den Wailers gerade im globalen Norden als einzigartig. Die hiesigen Medien porträtieren den Rastafari-Künstler gerne als „einzigen globalen Superstar, den die Dritte Welt hervorgebracht hat“, wie es 2012 Der Spiegel formulierte.

Jamaika ist jedoch kein zeitloses Reggae-Idyll. Auch wenn Reggae im 21. Jahrhundert nichts von seiner Attraktivität für das jamaikanische und internationale Publikum verloren hat, so hat sich der Sound der Insel doch weiterentwickelt. Seit den 1980er-Jahren pendelt der Musikstil zwischen dem energetischen, hedonistischen Dancehall und revolutionären, panafrikanischen Reggae-Klängen hin und her. Gedenkorte wie das Bob-Marley-Museum in der Hope Road und die lebensgroße Marley-Statue am National Stadium in Kingston sind deshalb meist den internationalen Tourist*innen überlassen. Sie liegen uptown und damit fernab der Plätze, an denen sich das gegenwärtige musikalische Geschehen des Landes abspielt.

Nur im Februar, der von offizieller Seite aufgrund der Geburtstage von Marley und dessen Kronprinz Dennis Brown zum Reggae-Monat erklärt wurde, rückt der Reggae durch zahlreiche Veranstaltungen in das Zentrum der Öffentlichkeit. Organisiert werden die Events von der Jamaica Reggae Industry Association (JaRIA), die auch zeitgenössische Reggae-Künstler*innen fördert, und der University oft the West Indies (UWI) in Mona. Das dortige Institute of Caribbean Studies lädt alle zwei Jahre Wissenschaftler*innen aus aller Welt zum Austausch über jamaikanische Populärkultur und deren globale Verbreitung ein. Anlässlich des runden Geburtstages von Bob Marley fand die Tagung vom 11. bis zum 13. Februar 2015 unter dem Motto „Musical Legends and Cultural Legacies“ statt. Analysiert wurde unter anderem die Entwicklung der Soundsystem-Kultur in Brasilien, die 31-jährige Geschichte des kontroversen Dancehall-Festivals Sting, neue Entwicklungen im Reggae und die Abbildungen auf den Schallplattencovern von Bob Marley. Bei der jährlichen Bob-Marley-Vorlesung, die die UWI gemeinsam mit der Bob-Marley-Stiftung organisiert, kommen dagegen Zeitzeug*innen zu Wort. 2015 sprach dort Roger Steffens, Buchautor und Radiomoderator, der sich seit den 1970er-Jahren mit jamaikanischer Populärkultur befasst.

Der King of Reggae dient nicht nur auf Jamaika, sondern auch im globalen Norden häufig als Projektionsfläche für moralische Aufrichtigkeit und gleichzeitige Abgrenzung zur als vulgär, gewaltverherrlichend und materialistisch portraitierten Dancehall-Kultur. Dabei werden Gemeinsamkeiten zwischen den Genres übersehen: Auch Marley und die Wailers posierten mit Pistolen auf dem Cover ihres Albums Soul Revolution (1971) und schreckten im Lied „I Shot The Sheriff“ (1973) nicht vor dem verbalen Abfeuern von Schusswaffen zurück.
Die Inszenierung von Heterosexualität, demonstriert durch zahlreiche sexuelle Beziehungen zu Frauen und gezeugten Kindern, ist, laut der jamaikanischen Kulturwissenschaftlerin Donna Hope, eine wichtige Säule des Entwurfs von Männlichkeit in der Dancehall. Aber auch Bob Marley, der mit sieben Frauen elf Kinder hatte, schwebte ebenfalls nicht die Emanzipation der Jamaikanerinnen vom heterosexuellen Patriarchat vor, wenn er „Emancipate yourself from mental slavery“ sang. Ihm ging es lediglich um das Ende rassistischer Indoktrination.
Auch die einseitige Darstellung Marleys als altruistischem Hippie oder antikapitalistischem Freiheitskämpfer hält einer näheren Betrachtung des Künstlers nicht wirklich stand. Nach dem ersten großen Erfolg durch das Album Catch A Fire (1973) hielt er, im Gegensatz zu seinen Bandkollegen Bunny Wailer und Peter Tosh, an der Zusammenarbeit mit dem britisch-jamaikanischen Produzenten Chris Blackwell fest. Blackwell brachte Marley und die Wailers weg vom rauen jamaikanischen Sound hin zu einem Musikstil, der den weißen Konsument*innen in den USA und Europa vertraut war.

Wenn heute Kritik am Ausverkauf Marleys geäußert wird, erscheint die verstorbene Legende oft als Opfer kapitalistischer Verwertungsprozesse. Dabei wird übersehen, dass der King of Reggae selbst ein disziplinierter Geschäftsmann war. Es ist relativ unwahrscheinlich, dass er sich beim Gedanken an die heutige Bob-Marley-Produktpalette im Grabe herumdrehen würde. Seine älteste Tochter Cedella dementierte erst kürzlich im Magazin Speakeasy den Vorwurf, das Erbe ihres Vaters sei überkommerzialisiert. Bob Marley persönlich sei der erste gewesen, der sein Konterfei auf ein Shirt drucken ließ. Es existieren also auch hier Parallelen zu Dancehall-Künstler*innen wie Vybz Kartel, die neben ihrer Musik auch Rum, Kondome oder Schuhe auf den Markt bringen.
Obwohl Dancehall heute die populärste Musik der Insel ist, hat sich seit 2010 eine neue Generation an jungen Reggae-Künstler*innen hervorgetan, die gemeinschaftlich zu einem Wiederaufleben der Offbeat-Musik beigetragen haben. Teilweise bewegen sie sich auch gekonnt zwischen den beiden Genres hin und her wie der erst 22-jährige Chronixx, der mit Dread & Terrible ein afrozentrisches, international viel beachtetes Album vorgelegt hat. Auch seinem 33-jährigen Kollegen Protoje gelingt die Verbindung von Dancehall-Kultur, Reggae und antikolonialen Rastafari-Botschaften.

Das Verdienst des King of Reggae liegt jenseits des musikalischen Erbes darin, dem Sound Jamaikas die Türen zum internationalen Markt und Publikum geöffnet zu haben. Auch der Rastafari-Bewegung und den Lehren des jamaikanischen Panafrikanisten Marcus Garvey verhalf er zu globaler Bekanntheit und Popularität. Für die gegenwärtigen Entwicklungen der Musik auf der Insel spielt er eher eine untergeordnete Rolle, aber er wird verehrt wie sonst nur Wolfgang Amadeus Mozart in Österreich.

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