Der neue Kandidat
Der neue Kandidat
Eigentlich hatte man mit der Bekanntgabe des Colosio-Nachfolgers warten wollen, bis sich die erhitzten Gemüter über die Osterfeiertage wieder beruhigen würden. Aber die vielfach beschworene Gefahr einer “Instabilität” machte eine schnelle Entscheidung nötig. Nicht nur die Oppositionsparteien, sondern auch Teile der eigenen Parteibasis zeigten sich allerdings wenig begeistert von dem traditionellen “dedazo”, dem undemokratischen Fingerzeig des Präsidenten, der am Dienstag – nach “Beratung” des Parteivorstands – erneut seinen potentiellen Nachfolger bestimmte.
Überraschend aber kam die Personalentscheidung nicht. Schon vier Tage nach dem Attentat hatte die Wochenzeitschrift “Proceso” vorausschauend festgestellt: “Als Vertreter der orthodoxesten und radikalsten Linie des Neoliberalismus … ist Zedillo die einzige legale Option, die die Kontinuität des salinistischen Projektes sichern kann.” Eigentlich galt bei politischen Beobachtern zwar Finanzminister Pedro Aspe als neoliberaler Favorit. Wegen verfassungstechnischen Hindernissen – ein Präsident darf bis zu sechs Monaten vor seinem Amtsantritt kein Ministeramt bekleidet haben – mußte dieser aus der neuen Kandidatenkür ausscheiden. So wurde notgedrungen Ernesto Zedillo zum Wunschkandidaten vor allem der Wirtschaft, da er – wie diverse Unternehmer schon am Vortag der Nominierung gegenüber der Presse äußerten – “die Sicherheit der Finanzmärkte garantieren” würde.
Wie schon sein toter Vorgänger stammt der 42jährige Salinas- und Colosio-Nachfolger, der laut “Proceso” der “Technokratenelite” des Landes angehört, aus dem engen Kreis der sogenannten Salinas-Gruppe. Als Amtsinhaber des aufgelösten Planungs- und Haushaltsministeriums war er verantwortlich für die Geburt des umstrittenen Solidaritäts-Programmes PRONASOL, eine Art internes Entwicklungshilfeprogramm, das von Kritikern als ineffizient und manipuliert bezeichnet wird. Mit dem unter seiner Leitung entworfenen Entwicklungsplan für 1988 bis 1994 wurde der Grundstein für die “makroökonomische Modernisierung” des Landes gelegt.
Unbeliebt gemacht hatte sich der ansonsten eher unscheinbare Politiker bei vielen seiner Landsleute vor allem mit der sogenannten “Schulbuch-Affäre”. Während seiner kurzen Amtszeit als Bildungsminister (von Januar 1992 bis November 1993) waren die (einheitlichen) Geschichtsbücher für die Grundschule “modernisiert” worden: Anstelle des revolutionären Pathos und der Betonung der politischen Brüche der mexikanischen Geschichte sollten die Lehrbücher den kleinen MexikanerInnen nun die wirtschaftliche Kontinuität von Diktator Porfirio Díaz bis Präsident Salinas nahebringen. Auch als Kampagnenleiter habe sich der jetzige “Not-Kandidat” – so “Proceso” – nicht gerade durch Brillanz ausgezeichnet. Ob allerdings die zunächst eher freudlosen Wahlveranstaltungen von PRI-Kandidat Colosio wirklich auf die Kappe seines damaligen Wahlkampfleiters und nicht eher auf die der chiapanekischen Zapatisten gehen, ist wohl zu bezweifeln.
Schon vier Monate zuvor, bei der regulären Kandidatenkür im November, war Ernesto Zedillo einer der sechs Prä-Kandidaten seiner Partei gewesen. Chancen hatte dem ehemaligen Bildungsminister damals allerdings kaum jemand eingeräumt: eindeutige Favoriten im Vorwahlkampf waren Finanzminister Aspe, der liberale Manuel Camacho Solis und der damalige Sozialminister Luis Donaldo Colosio gewesen.
Wieweit der Polit-Joker mit dem uncharismatischen Technokratenimage in den verbleibenden fünf Monaten ein eigenes Profil gewinnen kann, bleibt abzuwarten. Es sei denn, die PRI setzt für die Augustwahlen hauptsächlich auf den Trauereffekt. Die Reihenfolge der Widmungen in Zedillos Antrittsparole ist für sich genommen jedenfalls bezeichnend: “Für Colosio, für die PRI, für Mexiko”.