“Der Privatsektor hat nur marginale Bedeutung”
Interview mit dem Sekretär der kubanischen Botschaft Gerardo Peñalver Portal vom 4. Mai 1997
Die offizielle Arbeitslosenquote in Kuba beträgt knapp acht Prozent. Allerdings müssen viele KubanerInnen nur wenige Stunden am Tag arbeiten, weil die Betriebe beispielsweise keine Rohstoffe für die Produktion haben oder weil sie aufgrund von Rationalisierungen beurlaubt werden. Kubanischen Schätzungen zufolge müssen über kurz oder lang rund 500.000 bis 800.000 Leute entlassen werden. Wie will die kubanische Regierung dieser Massenarbeitslosigkeit begegnen?
Unterbeschäftigung ist ein ernstzunehmendes Problem in Kuba. Sie hängt mit unserer historischen Entwicklung zusammen. Wir haben ein Ausbildungssystem aufgebaut, das die Ausbildung von GeisteswissenschaftlerInnen stark fördert. Allerdings fehlt es uns an TechnikerInnen, IngenieurInnen usw. im produktivem Bereich. Kuba ist ein Agrarland und die Zahl der Fachleute in diesem und im industriellen Sektor ist verhältnismäßig niedrig. Dieses Mißverhältnis muß langfristig verändert werden, die Arbeit in der Landwirtschaft, aber auch im industriellen Sektor muß wieder attraktiver werden. Wir brauchen weniger Menschen im Dienstleistungsbereich und mehr im gewerblichen Bereich. Deshalb wird das Ausbildungssystem umstrukturiert werden. Außerdem müssen die Leute mobiler werden und bereit sein, aus den Zentren des Landes in die Provinz zu gehen.
Aber eine Veränderung der Ausbildungsstruktur wird allein kaum ausreichen, um die steigende Arbeitslosenquote zu reduzieren!
Ja, es gibt viele Sektoren der kubanischen Wirtschaft, in denen Fabriken geschlossen werden oder die Belegschaft reduziert wird. In einigen Betrieben teilen sich drei Leute die Arbeit, die eine Person problemlos schaffen könnte. Das können wir uns nicht mehr leisten, denn wir müssen uns in den internationalen Markt integrieren, uns den allgemeinen Produktions-, Effizienz- und Kostenkriterien anpassen. Diejenigen, die durch die Schließungen arbeitslos werden, werden oftmals nicht in ihrem eigentlichen Beruf weiterarbeiten können. Das ist eine schmerzliche Erfahrung, aber es hilft nichts. Der Staat wird auch weiterhin jedem und jeder KubanerIn einen Arbeitsplatz garantieren, aber den Arbeitslosen werden Arbeitsplätze in den Bereichen angeboten bekommen, wo es einen Arbeitskräftemangel gibt – in der Landwirtschaft oder in der Bauwirtschaft. Die dritte Möglichkeit für sie besteht darin, sich eine Nische im kubanischen Privatsektor zu suchen, in dem rund 200.000 Selbständige arbeiten.
Allerdings haben rund 25 Prozent der etwa 200.000 Selbständigen im letzten Jahr das Handtuch geworfen und ihre Lizenz zurückgegeben. Ist es unter den derzeitigen Gegebenheiten überhaupt realistisch zu glauben, daß Arbeitsuchende ihr Glück im Privatsektor finden können?
Es ist in der Tat so, daß die Zahl der Selbständigen auf etwa 160.000 gesunken ist. Da wir vorher kein Steuersystem hatten, haben mit der Einführung des progressiven Steuersystems die Selbständigen eine neue, zum Teil bittere Erfahrung machen müssen. Diejenigen, die im Gastronomiebereich tätig sind, verdienten vorher zwischen 2.500 und 3.500 Peso im Monat und zahlten etwa 100 Peso Abgaben. Das ist nun vorbei. Zudem wurden Kontrollen sowohl von steuerlicher Seite als auch den Kauf der Lebensmittel betreffend erweitert. Hinzu kommen neue Bestimmungen vom Gesundheitsamt, aber auch die steigende Konkurrenz, wodurch sich die Qualität vieler Produkte verbessert hat. Nicht alle Selbständigen konnten oder wollten da mithalten.
Die Zunahme an Betriebskontrollen wie Revisionen und Inventuren, hat den Diebstahl von Ressourcen eingeschränkt. Auch das hatte Folgen für den Privatsektor. Gestohlene Produkte sind nun einmal billiger zu kaufen als legal erworbene. Wenn ein Restaurant das benötigte Mehl, das Bier u.a. zum Ladenpreis kaufen muß, muß es neu kalkulieren.
Ist die Erweiterung der Möglichkeiten, auf eigene Rechnung zu arbeiten, für die kubanische Regierung trotz ideologischer Probleme eine Option gegen steigende Arbeitslosenzahlen?
Der Grund für die Zulassung des Privatbereichs war, die Versorgung der Bevölkerung zu verbessern. Das Angebot sollte erweitert und die Ernährung verbessert werden, besonders in den Bereichen, wo der Staat dazu nicht in der Lage war. Dieser Prozeß ist unumkehrbar. Auf der anderen Seite ist die “Arbeit auf eigene Rechnung” keine Quelle sozialistischen Bewußtseins. Die Einkommenspyramide wurde auf den Kopf gestellt, weil die Selbständigen zumeist besser leben, als der Rest der Bevölkerung. Aber das ist nun mal so. Ziel des Staates ist es allerdings nicht, daß sich die Händler von Tag zu Tag mehr bereichern, sondern die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen – nicht eine reiche Klasse in Kuba zu erzeugen. Aus diesem Grunde ist es auch notwendig, diesen Sektor zu kontrollieren, damit der vorgegebene gesetzliche Rahmen eingehalten wird. In der Tat ist es so, daß vom sozialistischen Standpunkt aus die Erweiterung des Privatsektors über ein gewisses Maß hinaus nicht vertretbar ist.
Was wird sich an der Versorgung des Privatsektors verändern? Bisher hatten die “Privaten” es äußerst schwer Materialien und Ressourcen legal zu erwerben – in vielen Bereichen mußten sie quasi zu halblegalen Methoden greifen, um Produktionsmaterialien zu kaufen, weil die staatlichen Betriebe ihnen nichts verkaufen durften. Werden Großmärkte, wie für die privaten RestaurantbetreiberInnen geplant, auch für Handwerker und andere eingeführt werden?
Die Versorgung des Privatsektors kann keine Priorität genießen, da es an allen Ecken und Enden an Produktionsmaterialien, an Rohstoffen oder Halbfertigprodukten fehlt. Es kann also nur Stück für Stück vorangehen.
Seit über dreißig Jahren gab es keinen Privatbesitz in Kuba. Dies hat sich nun in den letzten Jahren geändert, da die ökonomische Situation es gebot. Was aber fehlt, sind Erfahrungen: die Erfahrungen, wie man so etwas kontrolliert, wie man verkauft, wie man die Produktion vermarktet. Das braucht alles Zeit und hängt auch davon ab, wie sich das ganze Land entwickelt und wie die wirtschaftliche Erholung weiter voranschreitet. Unser Hauptziel ist, die Exporte zu steigern, um der Bevölkerung mehr Reis, mehr Milch, mehr Brot und mehr Nahrungsmittel garantieren zu können. Wir wollen nicht vorrangig den Privatsektor entwickeln oder den Privatbesitz fördern. Der Privatsektor ist ein zusätzliches Mittel, um die Versorgung der Bevölkerung zu verbessern, nicht mehr und nicht weniger. Letztlich hat der Privatsektor nur eine marginale Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung Kubas. Die wichtigsten Einnahmequellen für Kuba sind der Tourismus, der Zucker- und Nickelexport sowie die Ausfuhr von Tabak und Meeresprodukten. In allen diesen Bereichen spielt die Privatinitiative keine Rolle.