Der Reichtum dieser Welt
Als Alejo Carpentier im Jahre 1943 nach Haiti reiste, war das für ihn wie eine nochmalige Entdeckung der Neuen Welt. Der 1904 auf Kuba geborene Schriftsteller hatte lange in Paris gelebt, den Surrealisten nahegestanden und ihre Bewunderung für afrikanische Kunst geteilt. Auf Haiti begegnete er einer Wirklichkeit, die ihm all das, was die Surrealisten künstlich herstellten, ganz lebendig bereitzuhalten schien. Für den Wunderglauben der haitianischen Bevölkerung, für Trommelrhythmen und üppige Natur fand er den Begriff des “real maravilloso”, des wunderbar Wirklichen, und formulierte dies 1949 als Konzept im Vorwort seines Romans Das Reich von dieser Welt.
In dem Werk erzählt Carpentier die Geschichte Haitis in den Befreiungsjahrzehnten um 1800. An der Seite des Sklaven Ti Noel rückt die grausame Willkür der weißen Kolonialherren ebenso nahe wie die anschließende neue Unterdrückung durch den schwarzen König Henri Christophe. Die Befreiung selbst dürfte für Carpentier als Utopie gegolten haben: Ein Sklavenaufstand, lange vor der eigentlichen Unabhängigkeit, scheitert; als es dann 1791 wirklich so weit ist, entlädt sich die Spannung in einer trunken-brutalen Vernichtungsorgie und macht die Hoffnung auf eine Freiheit des Einzelnen rasch zunichte.
Dass das Reich des Menschen in dieser Welt liege und dass Amerika mit seiner wunderbaren Wirklichkeit dazu auch genügend Potenzial bereithalte, davon muss Carpentier fest überzeugt gewesen sein. Heute verbietet es sich, Amerika als Ganzem Eigenschaften zuzuschreiben, die uns in Europa fehlen, und längst hat sich das literarische Konzept des “real maravilloso” totgelaufen. In seiner wortgewaltigen Opulenz und (das ist das Raffinierte) zugleich unglaublichen Kürze hat der alte Text aber von seiner mitreißenden Kraft nichts verloren. Die überarbeitete Übersetzung, die auch das berühmte Vorwort sowie einen stilanalytischen Kommentar von Mario Vargas Llosa enthält, sollte man unbedingt lesen.