Der Stahlriese und der Staub
ThyssenKrupp versucht in Brasilien, unliebsame Stimmen mundtot zu machen
In dem Staub, den das umstrittene Stahlwerk Companhia Siderúrgica do Atlântico (TKCSA) von ThyssenKrupp in Rio de Janeiro (siehe LN 427) in die Umgebung emittiert, finden sich entgegen der Beteuerung des deutschen Stahlherstellers auch giftige Schwermetalle. Dies hat eine Analyse der dem Gesundheitsministerium unterstellten Stiftung Fundação Oswaldo Cruz (Fiocruz) ergeben. Demnach enthalte der Staub nicht wie von ThyssenKrupp wiederholt behauptet „nur Graphit“, sondern auch „Eisen, Kalzium, Mangan, Silizium, Schwefel, Aluminium, Zinn, Titan, Zink und Kadmium“, so die Anfang Oktober vorgestellte Studie der Forscher_innen. Die Wissenschaftler_innen verwiesen auf die „Verschlimmerung der Luftverschmutzung seit dem Hochfahren des ersten Hochofens“ und auf die Gesundheitsprobleme der Anwohner_innen. Diese klagen vor allem über Atemwegs- und Hauterkrankungen sowie Augenreizungen.
Die von ThyssenKrupp gemeinsam mit dem brasilianischen Minderheitspartner Vale an der Bucht von Sepetiba, rund 70 Kilometer westlich vom Stadtzentrum, betriebene Stahlfabrik soll jährlich bis zu fünf Millionen Tonnen Stahlbrammen für die Werke des Konzernriesen in Alabama und Duisburg herstellen – und ist seit Baubeginn heftig umstritten. Lokale Kleinfischer der Bucht von Sepetiba beklagen, das Werk habe sie ihrer Lebensgrundlage beraubt. Seit Betriebsaufnahme Mitte vergangenen Jahres protestieren die Anwohner_innen gegen die Staubbelastung durch die Fabrik. Laut dem Bundesstaatsanwalt in Rio de Janeiro, Daniel Pereira, lagen im ersten halben Jahr die vom Stahlwerk in die Umgebung abgegebenen metallischen Schwebstoffe in der Luft 23,5 Prozent über den international zulässigen Werten. Dies sagte der Staatsanwalt Anfang Oktober auf einer Anhörung zu dem Fall im brasilianischen Kongress. ThyssenKrupp habe sich bei der Standortentscheidung für das Stahlwerk im Stadtteil Santa Cruz auch nicht an den vorgeschriebenen Mindestabstand von 1.500 Metern zu den nächsten Wohnhäusern gehalten.
Angesichts der vergangenen Dezember unverhohlen ausgesprochenen Drohung der Staatsanwaltschaft, notfalls die Fabrik schließen zu lassen (LN 439), scheinen nun bei den Firmenverantwortlichen der TKCSA die Nerven blank zu liegen. Während die endgültige Entscheidung über die Erteilung der Betriebslizenz für die sechs Milliarden Euro teure Anlage noch immer aussteht, hat TKCSA Verleumdungsklage gegen die drei Wissenschaftler_innen der FIOCRUZ und einer Uniklinik erhoben.
Zuerst war es der Forscher und Arzt, Hermano de Castro, der ein medizinisches Gutachten erstellt hatte, in dem er auf die Gesundheitsgefahren für die Anwohner_innen hinwies, wenn sie über längere Zeiträume der vom Stahlwerk verursachten Staubbelastung ausgesetzt werden. Der Fiocruz-Forscher empfahl, im Hinblick auf chronische Erkrankungen wie Krebsfälle, die Anwohner_innen über 20 Jahre ärztlich zu beobachten. TKCSA erstatte Anzeige gegen ihn. Nach dem Erscheinen der Studie zu den Gesundheitsgefahren durch das Werk Mitte Oktober wurde von TKCSA einer der Autor_innen der Studie angezeigt. Und die Biologin Mônica Lima, Mitarbeiterin der Universitätsklinik Hospital Universitário Pedro Ernesto, erhielt eine Klageschrift wegen der „immateriellen Schäden und anderem“, die der deutsche Tochterkonzern TKCSA erlitten habe. Lima vermutet, dass es um die Gutachten geht, in denen sie auf die Gesundheitsgefahren durch den Stahlwerkstaub hinwies. „Aber ich lasse mich nicht mundtot machen“, so Lima. „Ich hoffe, dass kein Anwalt von mir verlangen wird, dass ich schweige, denn das werde ich nicht tun!“
Währenddessen berichtete Anfang November die Tageszeitung Estado de São Paulo, das Stahlwerk hätte im ersten Betriebsjahr 5,7 Millionen Tonnen Kohlendioxid in die Luft gepustet – und damit die CO2-Emissionen des gesamten Stadtgebiets von Rio de Janeiro gegenüber dem Vergleichsjahr 2005 – dem letzten, aus dem Daten vorliegen – um satte 50 Prozent erhöht. Da das Werk noch nicht unter Vollast laufen darf, sei ein Gesamtanstieg von bis zu 72 Prozent zu erwarten. Ähnliche Zahlen hatte die Zeitung O Globo bereits vor zwei Jahren errechnet. Damals hatte TKCSA diese Berechnung in Zweifel gezogen, die Zahlen beruhten auf veralteten Angaben, das Werk im Westen von Rio de Janeiro sei eines der modernsten weltweit. Nun gab es also doch eine satte Emissionssteigerung um mehr als die Hälfte aller zusammen gerechneten Emissionen von Haushalten, Verkehr und Industrie im Stadtgebiet. Diesmal bestritt die Firmenleitung die Zahlen nicht: stammen sie doch aus dem Hause ThyssenKrupp selbst, die der Konzern der Zeitung auf Anfrage übermittelt hatte.
Für Rios Politiker_innen eine peinliche Angelegenheit. Sie hatten von Anfang an das Stahlwerkprojekt eifrig mit Steuererleichterungen unterstützt und von den „tausenden Arbeitsplätzen“ geschwärmt. Doch angesichts der zunehmend kritischen Berichterstattung in den Medien, scheint die Fabrik in der Gunst der Politiker_innen zu sinken. Der massive Anstieg der Treibhausgasemissionen durch ThyssenKrupp vermiest den Politiker_innen auch ihre Werbekampagne für die „grünen“ Olympischen Spiele, die 2016 am Zuckerhut stattfinden werden. Bis 2016 wollte die Stadt die Kohlendioxidemissionen im Vergleich zu denen von 2005 um 16 Prozent senken. Durch das Werk des Stahlriesen drohen diese um mehr als 70 Prozent nachgerade zu explodieren.
Das Stahlwerk wird mehr und mehr zum Imagedesaster für die Stadt – und eine Gesundheitskatastrophe für die Anwohner. Die Fischer, die seit Jahren gegen das Werk protestieren, wussten es schon früh: „Sie haben unsere Fischgründe zerstört, nun wollen sie unsere Gesundheit, die Zukunft unserer Kinder zerstören“, so der Fischer Isac Alves, dessen Fänge seit Beginn der Bauarbeiten des Stahlwerks um bis zu 80 Prozent zurückgegangen sind. „Warum haben die Deutschen das hier gebaut?“, fragt Isac. „Weil sie in Deutschland zu hohe Umweltauflagen haben und diese dort nicht nur auf dem Papier existieren, sondern eingehalten werden. Und hier in Brasilien haben wir tolle Gesetze – aber eben meist nur auf dem Papier. Aber wir machen weiter“, bekräftigt der Fischer, „dieses Werk muss stillgelegt werden!“