Brasilien | Nummer 384 - Juni 2006

„Der Unterschied zwischen Kriminellen und Polizei verschwimmt“

Carlos Eduardo Gaio (Justiça Global) über die jüngste Polizeigewalt in São Paulo

Nach einer Serie von Gefängnisrevolten und Attacken auf Polizeistationen der Mafiaorganisation PCC schlug die Polizei in São Paulo brutal zurück (siehe Artikel in dieser Ausgabe).
Dabei wurden 109 Verdächtige getötet. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit Carlos Eduardo Gaio, Direktor für internationale Beziehungen der brasilianischen Menschenrechtsorganisation Justiça Global, über Menschenrechtsverletzungen der Polizei.

Thilo F. Papacek

Gibt es Hinweise darauf, dass unter den 109 von der Polizei getöteten Verdächtigen auch Unschuldige waren?

Erst einmal beunruhigt diese hohe Zahl sehr. Offensichtlich herrscht bei der Polizei ein Bedürfnis nach Rache vor. Ihre Vertreter machten durch etliche Aussagen klar, dass sie die Morde an ihren Kollegen rächen würden. Die Gewalt der Polizei nahm zu, als die Angriffe des PCC [„Erstes Kommando der Hauptstadt“ – die größte brasilianische Mafiaorganisation] abnahmen. Das ist nicht die Aufgabe der Polizei. Sie ist nicht dazu da, herumzulaufen und wie zufällig Menschen zu töten und ihre Stärke zu beweisen. Sie ist dazu verpflichtet, innerhalb des Rahmens der Gesetze zu handeln und sehr vorsichtig mit dem Gewaltmonopol des Staates umzugehen.
Etliche Zeugen haben berichtet, wie Polizisten Beweise und Tatorte gefälscht haben. Dabei stellen Sie eine Situation so nach, dass es aussieht, als ob sie von dem Getöteten angegriffen worden seien, und dass dieser dann in einem Feuergefecht umgekommen sei. Darüber gibt es bereits viele Berichte. Das gab es auch schon vorher in allen Städten Brasiliens. Eine mit uns befreundete Anwältin hat jetzt gesehen, wie die Polizei in Jadinêla – einer Siedlung an der südlichen Peripherie von São Paulo – einen solchen „Tatort“ nachgestellt hat. Auch viele Familienangehörige von Getöteten haben ausgesagt, dass die Polizei Verdächtige regelrecht exekutiert. Weil sie arm und marginalisiert waren, wurden sie zur Zielscheibe der Polizeigewalt.

Wie reagiert die Justiz auf solche Fälle?

Die Justiz selbst trägt zu diesem gewalttätigen Verhalten der Polizei bei. Was wir schon seit Jahren, vor allem in Rio de Janeiro, kritisieren, ist der Gebrauch des richterlichen „mandado de busca e apreensão“, eine Art kombinierter Durchsuchungs- und Haftbefehl. Diese richterliche Anordnung ist zwar gesetzlich legitim, es ist aber vorgesehen, dass sie sehr detailliert und spezifisch erteilt wird. Tatsächlich wird sie aber über Gebühr missbraucht. Das beobachten wir nun schon seit 2004. Richter erteilen dieses Mandat teilweise für ganze Gemeinden, ganze Favelas. Die Polizei kann so – illegal, aber mit richterlichem Befehl – willkürlich in Häuser eindringen, Menschen beleidigen und erniedrigen. Oftmals foltern sie dabei auch. Vom rechtlichen Standpunkt gesehen ist das absurd. Und genau so verwendet die Justiz von São Paulo dieses Mandat nun als Reaktion auf die Angriffe des PCC. Ganze Siedlungen, vor allem an der Peripherie, werden so kriminalisiert. Die Bevölkerung dieser Siedlungen leidet ohnehin schon unter der Gewalt von Kriminellen, und nun müssen sie auch noch die Gewalt der Polizei ertragen.

Der General-Kommandant der Militärpolizei von São Paulo, Oberst Elizeu Eclair Teixeira Borges, sagte in einem Interview mit der Tageszeitung Folha de São Paulo, dass die Reaktion der Polizei nicht unangemessen sei. Das sehe man daran, dass 70 Prozent der Getöteten ein Vorstrafenregister hätten.

Ein Vorstrafenregister zu haben ist doch kein Grund jemanden umzubringen! Es ist doch vollkommen absurd, dass das als Legitimation herangezogen wird. Wenn die Polizei das Recht hätte, alle Menschen mit Vorstrafenregister zu töten, wie viele sollten denn dann noch sterben? Aber auch das passt auf eine schon eine ältere Taktik: Polizisten gehen mit richterlichen Mandat in eine Siedlung und nehmen irgendwelche „Verdächtigen“ fest. Dann suchen sie nach eventuell vorhandenen Vorstrafenregistern. Wenn sie welche finden, exekutieren sie die „Verdächtigen“. Danach wird dann der „Tatort“ hergerichtet, wie ich es eben beschrieben habe. Ich weiß noch nicht, ob das diesmal in São Paulo auch so passiert ist, aber es würde mit der Rechtfertigung der Polizei übereinstimmen, von der Sie eben erzählt haben.

Noch verweigert die Regierung des Staates São Paulo die Herausgabe der Akten der getöteten Verdächtigen.

Das ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Aktionen der Polizei illegal waren. Wir haben noch keine plausible oder legale Rechtfertigung gehört, warum die Polizei die Herausgabe der Namen der Getöteten verweigert. Gerade bei einer so hohen Anzahl von Getöteten müssten sie Namen und Umstände des Todes jedes Einzelnen veröffentlichen.
Wir fordern, dass eine unabhängige Kommission aus mehreren Organisationen – sowohl staatlichen als auch zivilgesellschaftlichen – gebildet wird, um die Untersuchungen zu begleiten. Ansonsten könnten Hinweise auf Massenexekutionen ungesehen verschwinden.

Ist die Gewalt des PCC somit eine Reaktion auf die Polizeigewalt? In ihrem Statut schreiben die Gründer dieser Organisation, dass das PCC auch gegründet wurde, um Rache zu nehmen für das Gefängnismassaker von Carandiru.

Dieser Bezug auf Carandiru… Naja, das ist eben das, was sie so sagen. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die Aktionen des PCC entschuldbar wären. Das Massaker von Carandiru war auf jeden Fall ein großes Verbrechen und die Verantwortlichen sind immer noch in Freiheit. Doch die Kriminellen verstoßen gegen Gesetze und missachten Menschenrechte. Der Skandal ist, dass die Polizei die Gesetze und Menschenrechte auch nicht achtet, und genauso agiert wie die Kriminellen des PCC. Die Polizei darf nicht einfach herumlaufen und Rache nehmen. So verschwimmt der Unterschied zwischen Banditen und Polizei. Die Polizei hat mehr Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.

Was halten sie von den Forderungen, die Mitglieder des PCC in Isolationshaft zu verschieben?

Das ist eine demagogische Forderung. Nur weil die Häftlinge isoliert werden, werden nicht die Gefängnisrevolten aufhören. Solche Forderungen von Politikern sind eher unbedachte Reaktionen auf den Aufschrei der Bevölkerung und der Medien. Das sind unreflektierte Forderungen nach härteren Strafen, die niemandem nützen.

Und was halten Sie von der elektronischen Blockade von Mobiltelefonen, die man nun versucht, in den Gefängnissen einzusetzen?

Das ist etwas anderes. Das ist wirklich notwendig. Die Gefangenen sollen das Recht haben, mit ihren Familien, ihren Freunden zu kommunizieren – während der Besuchszeiten. Das Gefängnis muss aber die Kriminellen schon von ihren Geschäften isolieren, die sie über Mobiltelefon weiterführen.

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