Literatur | Nummer 284 - Februar 1998

Der violette Duft des Erzählens*

Pünktlich zu William Faulkners 100. Geburtstag: ein karibischer Blick auf sein Werk

Édouard Glissant bietet in seinem Essay „Faulkner Mississippi“ eine aparte Lektüre des großen amerikanischen Autors und verbindet sie mit einem vehementen Plädoyer für seine eigene „Poetik der Beziehung“. Verkürzt bedeutet das: jedes Kleine ist Teil des Ganzen, und es gibt nichts, was nicht zur Realität gehört. Ein interessanter Blickwinkel auf Faulkner, der gelegentlich des Rassismus bezichtigt wurde.

Rike Bolte

Édouard Glissant, 1928 auf Martinique geboren und unter anderem Autor der Romane Die Hütte des Aufsehers, Mahagony und die Entdecker der Nacht, begründet in seinem Essay Zersplitterte Welten eine Ästhetik der kulturellen Beziehungen. In seinem seit 1997 in deutscher Übersetzung vorliegenden “Faulkner Mississippi” über den nobelpreisgekrönten Literaten aus den Südstaaten der USA greift er seine Vision noch einmal auf und läßt sie wie einen Tropfen auf den heißen Stein auf das Werk des Amerikaners fallen, das er dem Leser in einer wuchernden, sich selbst feiernden und doch frappanten, auch thesenartig fordernd geschriebenen Erzählung exegiert. In Faulkner Mississippi trifft die Utopie des karibischen Schriftstellers auf das fikitve Terrain, das bei Faulkner den Namen „Yoknapatawpha County“ trägt und die „verfluchte“, ja im wahrsten Sinne mit einem „Fluch“ versehene Heimat seiner literarischen Figuren ist.

Das „Land Irgendwo“

Wie Glissants Heimat von den Narben des Kolonialismus gezeichnet und noch heute Opfer einer kruden Realität ist, so weisen auch die Wurzeln dieses scheinbaren Anti-Utopia, dieses negativen „Landes Irgendwo“ Faulkners in die Richtung einer Gesellschaft, die auf dem Fundament des Sklavenhandels großgeworden ist. Wie viele andere lateinamerikanische Autoren von der durch Fremdherrschaft zersplitterten Identität ihres Landes traumatisiert, begibt Glissant sich auf die Suche nach einem neuen, alternativen kulturellen Selbstverständnis für seine Heimat.
Dieses Vorhaben bezeichnet er als Programm der „Antillanité“ (Antillanität), das er weit- und weltsichtig mit einem Projekt verbindet, das sich zum Ziel gesetzt hat, über nationale und kulturelle Grenzen hinauszublicken, um den globalen Zusammenhang eines Aspektes zu erblicken, – sei er rein politischer oder auch künstlerischer Art. Auf diese Perspektive gründet er seine „Ästhetik der Beziehung“, in der immer wieder die pathetischen Begriffe „Welt-Gemeinschaft“ und „Welt-Ganzes“ von großer Bedeutung sind. Dabei handelt es sich insofern um ein ästhetisches Programm, als Glissant aufzuzeigen versucht, daß jedes regionale Detail, jedes scheinbar isolierte Problem in einem großen Gesamtzusammenhang steht, ja seinen „Platz in der Welt“ hat und nur über diese Einsicht gelöst werden kann. Im Zeitalter der langsamen Etablierung ökologischer Fragestellungen ist das eigentlich keine aufregend neue Position, wohl aber eine renitente Stimme vor dem Hintergrund der postmodernen Ironie so vieler Schriftsteller. Glissant integriert dies nicht nur in sein essayistisches, sondern auch in sein fiktionales Werk.
In Faulkner Mississippi ist ein reichlich spät eingeführtes Motto richtungsweisend. „We are all related“, so zitiert der Autor das Plädoyer einer Initiative gegen Rassismus aus dem US-amerikanischen Internet und sieht darin das Programm seiner Ästhetik der Beziehung formuliert. In seinem Faulkner-Essay spielt er seine Vorstellung über globale Zusammenhänge und Analogien komplett aus. So rekonstruiert er mit dem Blick des Historikers die beiden parallel scheinenden Schicksale der Südstaaten und der Karibik. In diesem Zuge deklariert er Faulkner, in dessen literarischen Schilderungen des US-amerikanischen Südens die Schwarzen häufig „Nigger“ genannt werden (Glissant zufolge eine Provokation) und die Indianer im Gegensatz zu den Weißen die Züge instinktgetriebener, undurchdringlicher Wesen tragen, als einen Schreiber, der das Problem der Apartheid durchaus auch kritisch anvisiert – eine mitunter fragwürdige Perspektive.

Es fängt mit den Gemeinsamkeiten an

“Glauben Sie wirklich, man kann das vergleichen, Louisiana und die Antillen?…“, fragt eine Stimme aus dem Off in dem Meta-Text, der den Essay bis zu seinem Ende flankiert, den Autor Glissant, der sich gerade auf die Spurensuche Faulkners in dessen realer Heimat Mississippi gemacht hat. „Also“, antwortet der Autor, der wieder zum Erzähler wird, „fängt man (…) von vorne an“ – mit der Aufdeckung schließlich einleuchtender Parallelitäten oder Gemeinsamkeiten. „Die Kolonistenfamilien waren mit Sklaven und Gepäck vor der Revolution auf Haiti und den französischen Inseln geflohen. Daher finden sich in der Karibik die gleichen Namen, die gleichen Geschlechter wie in Louisiana (…). Einige Sklaven waren von dort nach New Orleans gekommen, um sich befreien zu lassen, doch nur für kurze Zeit, dann waren sie wieder Sklaven.“ Was in der Sklavenhaltergesellschaft der Südstaaten zum unerwünschten Nebenprodukt wird – die Vermischung der Rassen, bei Faulkner immer wieder tragischer Nukleus der Erzählung – findet in der lateinamerikanischen Karibik als Kreolisierung statt. Oft ist sie wie in den Südstaaten Auslöser für und Produkt von Gewalttaten: Lynchjustiz und Vergewaltigung.
Faulkner exemplifiziert den Rassenkonflikt seiner Heimat nicht nur an seinen Texten, macht ihn nicht nur zum Element seines textuellen Universums, nein, er ist – jedenfalls Glissant zufolge – auch persönlich von ihm betroffen. Den großen Schriftsteller kennzeichnet in diesem Punkt eine große Ambivalenz, die aufzudecken Glissant sich zur Aufgabe gemacht hat: War Faulkner ein Verteidiger oder ein Gegner rassistischen Denkens? Édouard Glissant ist bei der Beantwortung dieser Frage geduldig; er bietet das Werk zu einer freundschaftlichen Relektüre im Sinne seiner Poetik der Beziehung an. Er gibt keine eindeutige Antwort, sondern versteht Faulkner als konservativen Südstaatler, aber auch als Kenner des „menschlichen Herzens“ und seiner Abgründe; der Rassenkonflikt bei Faulkner ist für ihn immer auch Resultat des inneren Konfliktes einer verzweifelten Figur.
Ein weiterer Aspekt in Glissants Faulkner-Portrait ist die Darstellung des amerikanischen Autors als Mitbegründer der literarischen Moderne. Faulkner rezipiert das Grundmodell der Epik, beschreibt seine Helden in unendlichen Irrfahrten, in sinnlosen Versuchen, die „Legitimität“ ihrer Familie zu sichern. Glissant benutzt in diesem Zusammenhang das große Wort “Genesis” und den Neologismus „Digenesis“. Mit ersterem meint er die „Schöpfung der Welt, einer legitimen Geschlechterfolge entgegen, die durch eine Nachkommenschaft in der männlichen Linie garantiert wird“. „Digenesis“ bedeutet das Gegenteil hiervon: eine Auflösung, ein „Ursprung neuer Art“ im Sinne einer Kreolisierung, eines mestizaje. Und dieser „Ursprung neuer Art“, in dem die Erkenntnis reift, daß alles miteinander verbunden ist und die alte Ordnung nicht mehr greift, ist für Glissant ein Moment, das Faulkner in den desaströsen Schicksalen seiner Figuren ansiedelt. Und in diesem Sinn versteht er ihn, wie in seiner Schreibweise, die experimentell ist und dem „Schreiben in einem Schwebezustand“ folgt (eine Technik, die Glissant ausführlich beschreibt und die Literaturwissenschaftler den Amerikaner oft in einem Atemzug mit James Joyce nennen läßt), als modern.

Faulkner: Vorbild für den Süden

Als Einführer der Moderne hat William Faulkner noch bei weiteren lateinamerikanischen Autoren zentrale Bedeutung, so bei Augustín Yáñez, Juan Carlos Onetti, Mario Vargas Llosa und Gabriel García Márquez. Sie alle lassen sich von seinen Erzähltechniken beeinflussen und siedeln ihre Figuren auf fiktiven Terrains an, die dem „Yoknapatawpha County“ ähneln. Es sind, gleich dem literarisierten Mississippi Yoknapatawpha, bei ihnen auch oft die großen Flüsse, an denen die Welt beginnt und an denen sie endet.
Vor allem bei Juan Carlos Onetti (in seinen Werken des „Santa María“-Zyklus El asterillero und Juntacadáveres) und Mario Vargas Llosa (in Das grüne Haus) drängt sich dieser Eindruck auf. Und wie im „County“ ist der seit dem Boom literarisch so vielbereiste Ort „Macondo“ in Hundert Jahre Einsamkeit von García Márquez ein Mikrokosmos, der Ursprung und der Mittelpunkt der Welt. William Faulkner hat mit seiner literarischen Utopie beziehungsweise Antiutopie – also den Texten über die verfluchten, aber auch die zauberhaften Orte seines imaginären Landstriches – ein Modell für die sogenannte „Gründungsliteratur“ lateinamerikanischer Autoren geliefert, die mit Werken auf die Suche nach ihren Ursprüngen gegangen sind.
Édouard Glissant hat als einer ihrer Vertreter mit Faulkner Mississippi ein vibrierendes, emphatisches, wenn auch mitunter anstrengend redundantes und gelehrtes Buch über das Werk des amerikanischen Autors geschrieben. Er hat einen Essay verfaßt, dem es gelingt, Faulkners Hinterlassenschaft mit all ihren Fasern aufzuspüren, zu erhellen und poetisch widerzuspiegeln. Denn in der Darstellung des Faulknerschen Stils, der „in einer sich wiederholenden Zirkularität“ endet, in einen „Taumel“ gerät, gelangt der karibische Autor zu einer parallelen Beschreibung seines eigenen Schreibens.

* Glissant begibt sich bei der Beschreibung des Erzählstils von Faulkner oft in die Naturmetaphorik. Der Titel dieses Artikels ist eine Zitat-Synthese.

Édouard Glissant, Faulkner Mississippi. Aus dem Französischen von Beate Thill. Wunderhorn-Verlag 1997, 320 Seiten, 48,- DM (ca. 25 Euro).

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren