Kolumbien | Nummer 243/244 - Sept./Okt. 1994

Der Wutausbruch des Juan Tama

Das Erdbeben in Tierradentro und seine Folgen

“Mein Auto hatte einen Motorschaden. Ich stieg aus. Dann bebte alles um mich herum. Wenig später hörte ich einen dumpfen Lärm talaufwärts. Etwa einen Kilometer entfernt sah ich eine schwarze Staubwolke, die sich mit großem Getöse auf unser Dorf zubewegte. Ich rannte den Hügel hinauf. Die Häuser, viele Menschen und mein Auto wurden fortgerissen. Manche wurden von der Lawine gepackt und dann wieder an Land geschleudert.” So erlebte Floresmiro Lectamo aus Tóez die Naturkatastrophe des 6. Juni in der vorwiegend von Páez-Indianern bewohnten Region Tierradentro.

Gerhard Dilger

Vieles erinnert an den Vulkanausbruch des Nevado del Ruiz 1985, als über 20 000 Menschen von einer Schlammlawine ge­tötet wurden. Auch diesmal war ein schneebedeckter Vulkan beteiligt: Durch ein Erdbeben der Stärke sechs lösten sich Eisplatten des 5750 Meter hohen Nevado del Huila und vermischten sich mit riesi­gen Erd- und Schlammassen zu einer töd­lichen Lawine, die das Flußtal herunter­donnerte. Im Gegensatz zu damals er­eignete sich die Katastrophe nachmittags, so daß sich die meisten Menschen retten konnten. Trotzdem gehen die vorsichtig­sten Schätzungen von über 600 Toten und 400 Schwerverletzten aus, über 1000 blei­ben vermißt, und weitere 18 000 Men­schen sind direkt Betroffene, die oft nur ihr nacktes Leben retten konnten und noch heute in Notunterkünften leben.
Im Notlager Escalereta
Escalereta ist eines dieser Camps. In knapp 3000 Meter Höhe und bei Tempe­raturen zwischen fünf und zehn Grad hau­sen hier 2000 Menschen in teils gespen­deten, teils selbstgebauten Zelten. Die feuchte Kälte und das ungewohnte Essen haben viele Indianer, besonders Kinder, erkranken lassen. Ein kleines Team von Ärzten und Krankenpflegern, zuweilen auch ein Páez-Medizinmann, sichern die nötigste Versorgung. Immer wieder hört man, daß Hilfsgüter auf dem Landweg von der Provinzhauptstadt Popayán oder in den Depots des Heeres oder des Roten Kreuzes verschwunden sind. Viele CampbewohnerInnen stammen aus Mos­coco, einem Dorf, das das Erdbeben völlig zerstört hat. Zu Fuß ist es eine halbe Stunde zum Fluß Moras, wo eine kleinere Lawine 30 Menschen und die Brücke fortgerissen hat. Nach Moscoco, wo ein Teil der EinwohnerInnen unter Plastikpla­nen lebt, kommt man nur, wenn man sich traut, den Fluß mit einer halsbrecherischen Seilbahn zu überqueren, die jeden Mo­ment reißen kann. Rotbraune Narben ver­unstalten die sonst grünen Steilhänge, dort, wo das Beben Erdrutsche auslöste.
80 Soldaten sollen Escalereta vor der Gue­rilla schützen, einer eher hypothetischen Gefahr. Umberto Rocha aus Moscoco be­richtet, dort hätten Soldaten einen Ge­sundheitsposten demoliert und nach Waf­fen durchsucht. Die Lebensmittelvertei­lung wurde den Einheimischen entrissen und willkürlich gehandhabt. In Escalereta hingegen gelingt die Zusammenarbeit zwi­schen Heer, den Freiwilligen des Roten Kreuzes und des Zivilschutzes so­wie den Führern der hier vertretenen Dorfgemein­schaften, die in enger Verbindung mit der Indianerbewegung CRIC (Regionaler In­dianerrat der Provinz Cauca) stehen.
Wohin mit der Bevölkerung?
Im Katastrophengebiet wurden alle Stra­ßen und Brücken zerstört. Man konnte sich Anfang August nur per Hubschrauber fortbewegen. Daher war in den ersten Wochen das dringendste Problem vieler BewohnerInnen die Zusammenführung ih­rer Familien. In den nächsten Monaten soll die Um- und Rücksiedlung geklärt werden. Etwa 3000 Menschen haben das Páeztal bereits endgültig verlassen. Auch die Regierung favorisierte anfangs diese Variante. Dagegen besteht der CRIC, in dem die meisten Páez organisiert sind, auf einer Neuordnung der Gemeinschaften, die den weitverbreiteten Wunsch nach Zu­sammenhalt und Verbleib in Tierradentro berücksichtet. Diese Position scheint sich durchzusetzen.
Wie dies bewerkstelligt werden kann, ist aber noch unklar. Der nicht-indianische Teil der Betroffenen, vor allem schwarze und mestizische Campesinos, hat eine we­niger intensive Bindung an die Region und läßt sich leichter in andere Gegenden der Provinz Cauca umsiedeln. Das wird auch auf einen Teil der indianischen Dorfgemeinschaften zukommen, denn vordem fruchtbare Teile des Páeztals wurden zur Hochrisikozone erklärt und können wohl auf Jahrzehnte nicht mehr besiedelt werden. Andere Ländereien in Tierradentro müßte die Regierung Privat­besitzern abkaufen, zu denen auch Dro­genhändler gehören.
Mohnfelder vernichtet
Der Anbau von Mohn stellte in den letzten Jahren eine der bedeutensten Nebener­werbsquellen vieler Bauern dar. Die Na­turkatastrophe vernichtete nahezu alle – meist kleinere – Pflanzungen, die in die­sem Jahr wieder verstärkt angelegt wor­den waren. Die desolate ökonomische Si­tuation – Tierradentro zählt zu den ärmsten Gegenden Kolumbiens – brachte viele dazu, das zur Heroinherstellung notwen­dige Mohnlatex an Zwischenhändler zu verkaufen. Im vergangenen Jahr schloß die Regierung mit den Einheimischen ein Ab­kommen über die Ersetzung des Mohnan­baus durch alternative Produkte. Das nun von der Lawine begrabene Ausbildungs­zentrum in Tóez gehörte zu diesem Pro­gramm. Der Substitutionspro­zeß war je­doch bereits vorher ins Stocken geraten, da die versprochenen Mittel nur spärlich flossen. Allgemein herrschte der Eindruck vor, daß das Interesse der Regie­rung an der erfolgreichen Durchführung des Projekts rasch nachließ.
Staatliche Inkompetenz
Inwieweit der Mohnanbau zur Abholzung und diese wiederum zum Ausmaß der Katastrophe beigetragen haben, ist um­stritten. Fest steht, daß WissenschaftlerIn­nen bereits 1986 eine Landkarte der Re­gion mit den jetzt verwüsteten Risikoge­bieten erstellt hatten: Auch eine Studie der staatlichen Umweltorganisation Inderena vom vergangenen Jahr nahm in einem Krisenszenario (Vulkanausbruch oder Erdbeben) die jetzige Katastrophe ziem­lich genau vorweg. Diese Studie mit den darin vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vorbeugung verschwand unbeachtet in den Schubladen der politisch Verantwort­lichen.
Ein Trauerspiel war auch die dilettanti­sche Reaktion staatlicher Instanzen in den ersten Tagen. Die Hubschrauber der Me­dien waren denen der Regierung weit vor­aus. Erst nach 48 Stunden trafen die ersten staatlichen Hilfsleistungen ein. Noch heute gibt es Menschen in abgelegenen Winkeln des Páeztals, die keinerlei Hilfe erhalten haben.
Die Indianer mußten ihre angemessene Beteiligung in der Kommission zum Wie­deraufbau erst einklagen. Der von der Re­gierung eingesetzte Ausschuß “Nasan Kiwb” (Land der Menschen) muß nicht nur mit der Neuordnung des Lebens in Tierradentro fertigwerden, sondern auch mit internen Streitigkeiten, die wiederum die Interessenskonflikte in der Region wi­derspiegeln.
Die Strafe der Götter
So stellen in der Kommission VertreterIn­nen regierungs­naher Positionen die Mehr­heit. Dazu gehört auch der Bogotaner Ar­chäologe und Astrologe Mauricio Puerta, eine schillernde und in Tierradentro höchst umstrittene Persönlichkeit. Er lebt seit über zwanzig Jahren dort und hat mit sei­nen Ausgrabungen dafür gesorgt, daß die Regierung einen archäologischen Park mit indianischen Grabstätten einrichten konnte, der zu den touristischen Haupt­attraktionen Kolumbiens zählt. Puerta, Schulfreund des neuen Präsidenten Erne­sto Samper und astrologischer Berater mehrerer Minister, wird beschuldigt, vor dem Beben eine wertvolle Urne mitge­nommen zu haben, ohne die vorgeschrie­benen indianischen Riten vollziehen zu lassen. Deswegen, so ein weitverbreiteter Glaube, seien die Götter zornig geworden und hätten das Erdbeben geschickt. An­dere sehen in der Katastrophe allgemein eine Antwort der Götter auf die Tatsache, daß die Natur durch den Einfluß der Wei­ßen aus dem Gleichgewicht gebracht wor­den sei. Der legendäre Indianerführer Juan Tama, der im 18. Jahrhundert den Wider­stand gegen die Spanier organisierte, habe – ebenso wie Kiwe, die Mutter Erde – die Menschen strafen wollen.
Jesús Piñacué, der bekannteste Aktivist der Indianerbewegung in Cauca (siehe Interview) nimmt die erste Version ernst. Puerta bestreitet sie vehement und be­hauptet, der CRIC habe sie selbst lanciert, um die IndianerInnen gegen ihn aufzu­bringen. Tatsache bleibt, daß beide Seiten um den Erhalt von Hilfsgeldern und den Einfluß in der Region konkurrieren. Da­neben gibt es Parteipolitiker, Kirchen­obere und VertreterInnen der anderen eth­nischen Gruppen, die ebenfalls Sitz und Stimme im Führungsgremium von “Nasan Kiwb” erhalten haben.
Die – neben den RegierungsvertreterInnen – gesicherte Beteiligung der Betroffenen am jetzt beginnenden Neuanfang in Tierra­dentro stellt zweifellos einen Fort­schritt gegenüber der Bewältigung des Vul­kanausbruchs von 1985 dar. Gustavo Wil­ches: “Die Krise ist eine Zeit der Ge­fahr, aber auch der Chancen. Deswegen müssen wir sie nutzen, um diese Region nach vorne zu bringen. Wir werden mit allen zusammenarbeiten, mit Schwarzen, Me­stizen und Indianern.” In den kom­menden Monaten wird sich zeigen, ob die Kom­mission diesem Anspruch gerecht wird, was vielleicht noch schwieriger sein wird als die technische Seite des Wiederauf­baus.

“Mit Unterstützung von außen werden wir uns erholen”
Der Páez Jesús Enrique Piñacué (30) vom CRIC ist einer der profiliertesten Aktivisten der kolumbianischen Indianerbewegung. Vor kurzem war er im Team mit An­tonio Navarro Wolff (Demokratische Allianz M-19) Kandidat für die Vizeprä­sidentschaft des Landes.
Wie wirkt sich die Katastophe auf die Páez aus?
Unser Volk hat viele harte Proben hinter sich: den Kampf gegen die Spanier, die politische Gewalt nach der Unabhängig­keit Kolumbiens, den Bürgerkrieg der Parteien, die Gewalt von seiten der Gue­rilla und der Drogenhändler – all dies in einem Staat, der sich der Straffreiheit beugt.
Wie beurteilen Sie das Verhalten der Regierung?
In den ersten Tagen wurden wir auseinan­dergerissen, weil die Rettungsdienste die Leute überstürzt herausholten, ohne die lokalen Führer zu konsultieren. Allmäh­lich kommen wir aber wieder auf den richtigen Weg zurück.
Glauben Sie, daß die Leute nach der Katastrophe wieder mehr Mohn anpflan­zen werden?
Nein, denn viele einflußreiche Indianer­führer sind mit diesem Lösungsversuch für die wirtschaftliche Notlage nicht ein­verstanden. Jetzt herrscht große Trauer, Verzweiflung und Angst, aber wenn die kolumbianische und die internationale Gemeinschaft uns unterstützen, werden wir uns erholen.
Welche Probleme sehen Sie beim Wie­deraufbau?
Die Arbeit der Kommission “Nasan Kiwb” könnte von politischen Interessen behindert werden, besonders wegen der bevorstehenden Kommunalwahlen.
Wer soll die Hilfsgelder verwalten?
Präsident Gaviria hat darauf bestanden, daß alle Gelder von der Kommission ka­nalisiert werden. Der CRIC hat dies be­reits auf seiner letzten Sitzung beschlos­sen.

Interview: Gerhald Dilger
und Harry Clegg

Von Deutschland aus leitet “Brot für die Welt” Spenden an den CRIC weiter. Konto 500 500 500 bei der Postbank Köln (BLZ 370 100 50), Stichwort: Erdbeben Kolumbien.

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