Die Dinge stehen schlecht
Als der junge Kommunist Carlos Cerda nach dem Putsch im September 1973 wie Tausende seiner Landsleute den Weg ins Ostberliner Exil antritt, beschränkt sich seine literarische Produktion auf einschlägig Weltanschauliches. Der Doktor der Philosophie an der Universidad de Chile, der unter anderem auch Unterricht an der Theaterschule genommen hat, kann auf die Veröffentlichung eines Essays mit dem Titel “El leninismo y la victoria popular” (Der Leninismus und der Sieg des Volkes) zurückblicken.
In der DDR weitet Cerda, der dort den Doktortitel für Literaturwissenschaft erwirbt und zuletzt an der Humboldt-Universität über lateinamerikanische Literatur doziert, sein schriftstellerisches Schaffen aus. Er schreibt Erzählungen, Hörspiele, Romane. Im Gegensatz zu vielen anderen ChilenInnen hat er es relativ leicht, auch das Leben westlich der Mauer kennenzulernen. Im Dezember 1984 kehrt er nach Chile zurück.
In “Morir en Berlín” zeichnet Cerda den Alltag und die spezifischen Konflikte der ExilchilenInnen in kalten Farben und ohne Mitleid. Fremd geblieben in einer grauen und bürokratischen Welt mit schwer nachvollziehbaren Spielregeln, im Ostberliner Winter, überschneiden sich und kollidieren die Schicksale mehrerer Protagonisten(paare):
Zunächst ist da der Chilene Mario, der für die Beziehung mit der Tochter eines Ministers seine Frau Lorena verlassen hat. Cerda stellt literarischen Bezug zum Motiv der “Medea” aus der griechischen Tragödie her: Der Verbannte, der “die Tochter des Königs” zur Frau nimmt, steigt auf, fällt heraus aus dem Chor der Minderprivilegierten, der Bewohner des chilenischen “Ghettos”, für die er zum Fremden wird.
Lorena, die Verlassene, begehrt gegen das enge Korsett staatlicher Bevormundung auf und beantragt gegen den erbitterten Protest der mit Partei und Bürokratie kooperierenden chilenischen Oficina die Ausreise nach Mexiko. Sie erfährt vom unerwarteten Besuch ihrer Eltern aus Chile. In einer Szene vollkommener Trostlosigkeit zerbrechen die “frommen Lügen” der Exilantin, die zur Beruhigung Briefe voller gefälliger Schilderungen des Lebens in Deutschland nach Hause geschickt hat, aber auch die der Eltern, die in Wirklichkeit im Zuge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs den Glauben an das Pinochet-Regime sowie ihre ganze Habe verloren haben und nun Zuflucht bei der Tochter suchen.
Schließlich der ehemalige Senator, ein alt gewordener orthodoxer Kommunist, des Deutschen nicht mächtig, der aus einer unreflektierten Dankbarkeit dem sozialistischen Staat und “Gastgeber” gegenüber seine Landsleute zu systemkonformem Verhalten anzuleiten sucht. Am Tag, an dem er von seiner tödlichen Krankheit erfährt, macht er die Zufallsbekannschaft einer jungen deutschen Tänzerin. In dieser vielleicht ersten echten Begegnung mit einer Bürgerin des von ihm verehrten Staates bekommt er mit einem Mal das ganze Ausmaß seiner Isolation zu spüren. Gleichzeitig aber verschließt er verzweifelt die Augen vor den Schattenseiten eines Sozialismus, der die junge Frau als Vorzeigeobjekt seiner kulturellen “Leistungsfähigkeit” mißbraucht.
Das Buch ist eine – nicht polemische – Abrechnung mit dem System der DDR, das für viele zur Rettung nach der Verfolgung durch die Militärs geworden war, gleichzeitig aber auch eine virtuose und beklemmende Studie über menschliche Abgründe, über das Festklammern an brüchig gewordenen Ideologien, über Schuld, Lüge und Depression. Dabei bewahrt Cerda – trotz des kalten, analytischen Blicks – eine solidarisch wirkende Anteilnahme am Scheitern seiner Figuren.
Interview mit Carlos Cerda
Inwieweit spiegeln das Leben und die Konflikte der Personen in Ihrem Buch “Morir en Berlín” Ihre persönlichen Erfahrungen in der DDR wider?
Jeder Roman ist zu einem guten Teil autobiographisch – und jedes Zeugnis einer persönlichen Erfahrung enthält einen großen Anteil an fiktiven und poetischen Elementen. “Morir en Berlín” ist ein Roman, der mein Leben, aber auch das vieler anderer Chilenen in der DDR zum Thema macht. Darüber hinaus ist es aber auch ein Buch über den Zusammenstoß zwischen den Idealen, den Utopien, die uns hierher ins Exil gebracht hatten, und der für uns außerordentlich spannungsreichen, konfliktgeladenen und bis zu einem gewissen Grad entfremdenden Wirklichkeit dieses Staates. Dessen Fehler sind zu Genüge bekannt, und ich halte es schlichtweg für eine Dummheit, aus einer falsch verstandenen Loyalität heraus diese Defizite rechtfertigen zu wollen. Wenn nun Chilenen, aber auch Deutsche, die in der DDR gelebt haben, mein Buch mit dem Hinweis auf heute geschehende, von einem anderen System verübte Ungerechtigkeiten kritisieren, dann hat das eine mit dem anderen einfach gar nichts zu tun. Ich habe Gespräche mit vielen Exil-Chilenen geführt, die nach dem Anschluß der DDR ihre Arbeit, aber auch die Anerkennung ihrer persönlichen Würde verloren haben. Das waren Willkürakte, die mit nichts zu rechtfertigen sind. Aber dieses Buch handelt von etwas ganz anderem, von der Realität in der DDR bis zum Jahre 1985, als ich hier lebte. Ich hätte übrigens nach 1989 die Gunst der Stunde nutzen und in Chile einen Roman über den Fall der Mauer veröffentlichen können – aus kommerzieller Sicht sicherlich ein größerer Erfolg. Aber das hätte ich unredlich gefunden: Ich kann nur über das berichten, was ich selbst erlebt habe.
In der Tat habe ich auf indirekte Weise von vielen Seiten Kritik an meinem Buch erhalten. Der Tenor dieser Kritik – meist von chilenischen Kommunisten, die mit mir hier im Exil gelebt haben, aber auch von solchen, die in der BRD lebten und gleichzeitig das System der DDR verteidigten – unterstellt mir eine Art Verrat. Verrat an den kommunistischen Idealen zu einem Zeitpunkt, da es angebracht wäre, diese mehr denn je zu verteidigen.
Ich habe früher nie einen Hehl aus meiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei gemacht. Ausgetreten bin ich 1983, ein Jahr vor meiner Rückkehr nach Chile. Seitdem habe ich keine Verbindung mehr zur Partei. Mein Austritt hatte zwei Gründe: Einerseits die absolute Unfähigkeit der Kommunisten, zu erkennen, daß das System der DDR sozialistischen Idealen einfach widersprach. Andererseits die verfehlte Strategie des bewaffneten Kampfes gegen die Diktatur in Chile: Er hat nicht zum Erfolg geführt, aber den Tod von hunderten hervorragenden Genossen bedeutet. Vor diesem Hintergrund meiner Trennung von der KP läßt sich mein Buch besser verstehen.
Hat sich in den 12 Jahren ihres Exils in der DDR ihr Urteil über diesen Staat zur Kritik hin gewandelt oder waren Ihnen die Widersprüche der realsozialistischen Wirklichkeit von Anfang an bewußt?
Für uns Chilenen, die wir aus einem Land der Dritten Welt – und darüberhinaus aus einer brutalen Diktatur – in die DDR kamen, war der erste Eindruck außerordentlich positiv. Nicht nur aufgrund der Geste umfassender Solidarität, die uns zuteil wurde. Uns beeindruckte zutiefst ein Staat, der so massiv ein kulturelles Leben förderte; uns faszinierte eine Gesellschaft, die sich als antirassistisch definierte. Die Ideale von Gleichheit und Menschlichkeit, die beschworen wurden, schienen unsere eigenen zu sein. Und das Lebensniveau war in unseren Augen – vielleicht nicht im Vergleich zur BRD – relativ hoch. Vor allem aber hatten wir das Gefühl, in einem Land zu sein, das nach vorn schaute und das – so kam es uns damals vor – gar nicht so viel Angst vor Kritik, vor Dissidenz hatte.
Der erste Schritt zu einer realistischeren Sichtweise war das Erlernen der deutschen Sprache. Wir begannen uns mit dem Arbeitskollegen, der Sekretärin, dem Taxifahrer zu unterhalten, mit dem Nachbarn, der zum selben Fußballspiel ging. Das waren teilweise sehr offene Gespräche. Sie fragten mich: “Warum sind Sie eigentlich hierher gekommen?” – “Weil es in meinem Land eine Diktatur gibt.” – “Aber wie konnten Sie denn dann hierher ausreisen?” – “Ich bin hier im Exil.” – “Aber kann denn ein Chilene, der in seinem Land lebt, nach Argentinien, nach Peru, nach Bolivien reisen?” – “Wenn ihm das seine ökonomische Situation erlaubt, natürlich.” – “Sehen Sie, ich kann nicht einmal meine Mutter in Bremen besuchen.” Solche Gespräche waren irgendwann ausschlaggebender als das, was uns der Hauswart oder die Lehrerin über Marxismus-Leninismus erzählten. In “Morir en Berlín” habe ich dies in eine Szene zu fassen versucht, in der zwei Chileninnen im “Linden-Korso” auf zwei junge Deutsche treffen, die in die Parteischule gehen. Da kommt es nicht nur zu einem billigen Flirt, sondern zu einer echten Annäherung, als einer der beiden sagt: “Die Dinge stehen schlecht bei euch und hier auch.”
Desillusionierung angesichts innenpolitischer Verhärtung
Uns Chilenen jedenfalls gingen spätestens zu dem Zeitpunkt die Augen auf, als sich die Lage in Polen zuspitzte und Jaruzelski an die Macht kam. Plötzlich wurde offenbar, daß die DDR zweierlei Maß anlegte: Was sie im Falle Chiles so scharf verurteilt hatte, lobte sie auf einmal in ihrem Nachbarland. Und die Ähnlichkeit der Vorgänge war erschreckend: das Parlament aufgelöst, die Gewerkschaft verboten, die im Ansatz kritische Presse zensiert – mit anderen Worten: eine Diktatur. Selbst der General Jaruzelski mit seiner dunklen Brille glich dem General Pinochet – auch wenn das eine zufällige Parallele ist.
Zuletzt begann sich ja das System der DDR unter dem Eindruck der Ereignisse in Polen, später in der Sowjetunion, immer mehr zu verhärten. In der Humboldt-Uni, wo ich arbeitete, wurden plötzlich renommierte und beliebte Dozenten, die nicht der SED angehörten, gegen Parteikader ausgetauscht. Es wurde an keinem Punkt mehr eine Öffnung zugelassen. Vor dem Hintergrund dieses Prozesses habe ich damals die DDR verlassen.
Als ich zurück in Chile war, war der gesellschaftliche Protest gegen die Diktatur in vollem Gange. Die regelmäßigen Demonstrationen auf den Straßen, die offene Ablehnung des Regimes hatten eine ziemlich breite Basis, bis diese zusammenschmolz – nicht zuletzt aufgrund der Option der KP für den bewaffneten Kampf gegen die Militärherrschaft. In diesem Zusammenhang stand auch das Attentat gegen Pinochet 1986, das eine enorme Repression, aber auch einen Stimmungsumschwung zugunsten der Rechten bewirkte. Der Schluß, den ich daraus ziehe, ist, daß die Kommunistische Partei hier und dort die falschen Wege gegangen ist. Daß ich dies in meinem Buch benenne, hat mir aus diesem Lager freilich schärfste Ablehnung beschert.
Hätten Sie dann nicht schon viel früher, noch in der DDR, offen Kritik an den von Ihnen empfundenen Mißständen üben sollen?
Im Rahmen meiner Möglichkeiten glaube ich, das getan zu haben. Beispielsweise habe ich Anfang der achtziger Jahre ein Hörspiel für den Rundfunk der DDR geschrieben. Die Geschichte hieß “Die Zwillinge von Calanda” und schilderte auf metaphorische, aber ziemlich offensichtliche Weise die Doppelmoral, die Schizophrenie von Menschen, die in einem totalitären System leben: Den Menschen von Calanda wächst eine Art siamesischer Zwilling aus dem eigenen Körper, der immer das sagt, was der andere gewohnt war zu verschweigen. Am Ende töten diese Menschen ihr verhaßtes, unerwünschtes alter ego. Als ich mit dem Entwurf zu den verantwortlichen Redakteuren kam, die sehr offen für kritische Töne waren, sagten sie: “Tja, das könnte ganz schön schwierig werden. Aber wenn man genügend lateinamerikanische Musik unterlegt…” Schließlich wurde es gesendet, und nicht ohne Erfolg. Für mich ist so etwas durchaus Kritik.
Wie wurde Ihr Buch in Chile aufgenommen? Beschränkt sich das Interesse auf den Personenkreis derer, die auch das Exil durchgemacht haben, oder gibt es eine breitere Aufmerksamkeit?
Das Buch erschien in erster Auflage im Sommer 1993. Inzwischen ist die vierte Auflage á 3000 Exemplare gedruckt worden, was für Chile einen enormen Erfolg darstellt. Die Kritik war bis auf Ausnahmen sehr positiv, selbst im Punto Final, einer Zeitschrift des linken MIR, wurde es gelobt. Im Mai diesen Jahres hat es den zweiten Preis beim Premio Pegaso gewonnen, einem lateinamerikanischen Literaturpreis, an dem über 400 Romane aus den Jahren 1990 bis 1993 teilnahmen.
Welche kulturelle, aber auch politische Rolle kann Literatur heute in Chile spielen? Welche Rolle sollte sie spielen?
Ich glaube, die Literatur – und die Kunst im allgemeinen – spielt immer eine positive Rolle, wenn es darum geht, ein von Vernunft, von Respekt gegenüber kontroversen Ansichten geprägtes Klima zu schaffen. Vor allen Dingen aber schärft sie das moralische Urteilsvermögen. Die Länder Lateinamerikas sind heutzutage im Begriff, wirtschaftlich wieder Fuß zu fassen, meine ich. Sie bieten ihre Produkte mit zunehmendem Erfolg auf dem Weltmarkt an und stehen davor, Rückstände aufzuholen, die sich in Jahrzehnten aufgebaut haben. Aber dieser Prozeß, der an und für sich positiv zu beurteilen ist, birgt die Gefahr, daß unser alltägliches Leben in zunehmendem Maße nur noch von den Charakteristika des Produktionsprozesses und des Konkurrenzdenkens geprägt wird. Unter dem ökonomischen Druck wird unser Lebensstil von Tag zu Tag entfremdeter, vom Prinzip der Konkurrenz diktiert. Die Fähigkeit zur Kritik, zum Urteilen, das Gefühl für unsere Identität als Lateinamerikaner gehen dabei verloren.
Bücher sind in unserem Kontinent – und zumal in Chile – ein knappes Gut: Für den größten Teil der Bevölkerung sind sie zu teuer, und Leihbüchereien gibt es praktisch überhaupt nicht. Freilich muß man in Betracht ziehen, daß es immer weitaus mehr Leser als Käufer von Büchern gibt. Pro verkaufter Ausgabe zirkulieren oft vier oder fünf kopierte Versionen eines Werkes. Aber ich finde sehr interessant, was Carlos Fuentes vorgeschlagen hat: Die lateinamerikanischen Regierungen sollten bei ihrer nächsten Verhandlung zum Abbau von Handelshemmnissen als ersten Tagesordnungspunkt die Frage der Literatur behandeln. Noch vor allen anderen Gütern – Kiwis, Orangen, Kaffee – vor irgendeinem Produkt unseres Bodens und unserer Arbeit sollten Bücher – als geistige Produkte der Völker unseres Kontinents – ohne einen Peso Abgaben oder Zölle die Grenzen passieren. Das hätte auch eine Verbilligung der Literatur zur Folge.
Vergangenheitsbewältigung der Diktatur
Die Hauptfigur in Ihrem Buch, ein Chilene im Ostberliner Exil, erklärt einer Deutschen in einer Metapher, daß es “viele Chilenen gibt, die in Weimar wohnen und von Buchenwald nichts wissen wollen”. Sie ziehen also Parallelen zwischen der deutschen und der chilenischen (jüngsten) Vergangenheit. Kann und muß die Literatur in Chile einen Beitrag zu einer Vergangenheitsbewäl-tigung leisten?
Auf jeden Fall. Das muß in der Kunst, in der Literatur geschehen, denn die Politik kann das in Chile nicht leisten, was ich durchaus nachvollziehen kann. In der literarischen Reflexion, aber auch im Theater und im Film können Rechnungen beglichen werden, können Konflikte ausgetragen werden, die auf dem Gebiet der Politik nur zu unheilvollen Konfrontationen führen würden. Ein Beispiel aus einem anderen Land: Die Konflikte, die der kubanische Film Fresa y Chocolate aufgreift, werden auf diese Weise bewußter und konkreter, als eine Behandlung des Themas auf politischer Ebene. Wenn wir also heute drängende ethische Fragen, die unser Land beschäftigen – die Toten, Verschwundenen, das Exil etc. – ins Bewußtsein rufen wollen, dann funktioniert das besser in der Einsamkeit des Lesens als in einer Auseinandersetzung zwischen Parteien. Die Romane von Heinrich Böll haben mehr zur Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit beigetragen als die meisten Diskussionen im Bundestag über dieses Thema. Die moralischen Konflikte einer Gesellschaft werden am tiefgründigsten durch ihre kulturellen Aktivitäten bewältigt.
Was wäre – nach Ihren Erfahrungen mit dem Leben in der DDR und vor dem Hintergrund des politischen Prozesses in Chile – Ihre Definition, heute links zu sein?
Eine zutiefst humanistische Antwort auf die heutigen Probleme zu geben. Auf die alten, wie Armut, Ungerechtigkeit, Rassismus, Diskriminierung, und auf die neuen: Umwelt, öffentliche Moral, Individualismus. Für die Linke, wie ich sie definiere, gibt es den unumstößlichen Wert des Menschen und das Verdienst, gegen jede Art von Diktatur gekämpft zu haben – und gegen die egoistischen Partialinteressen der Unternehmen. Diese Welt ist momentan eine Welt der Unternehmen. Um sie wieder zu einer Welt des Menschen zu machen, muß der Staat regulierend eingreifen, die Wirtschaft den Interessen der Menschen unterordnen.
In Chile, glaube ich, läßt die Demokratie selbst in ihrer jetzigen Form Platz für alle möglichen Ziele – auch für dieses. Ob im Jahr 2000, wenn eine neue Regierung gewählt wird, die Concertación (die Regierungskoalition in Chile, Anm. d. Red.) weitermacht wie bisher, oder ob sich die Macht nach links oder rechts verschiebt, ist vollkommen offen. Aber genau das führt zu einem größeren Verantwortungsbewußtsein bei denen, die heute Politik machen.
Gibt es irgendeinen Zusammenhang, ein verbindendes Element zwischen den Autoren der sogenannten “Nueva Narrativa Chilena”, der auch Sie zugerechnet werden?
Es gibt einen Zusammenhang, der über die Tatsache hinausreicht, daß wir mehr oder weniger der selben Generation angehören. Ich halte es für ein relativ neues kulturelles Phänomen in Chile, daß ausgerechnet chilenische Autoren zu den meistgelesenen gehören. Es ist ungeheuer bedeutend für ein Land wie das unsere, daß auf einmal die eigene Literaturproduktion im Mittelpunkt des Interesses steht. Wohlgemerkt: das soll zu keinem kulturellen Nationalismus führen. Aber früher gab es einfach kein Vertrauen in unsere eigene Literatur. Kein Wunder, denn wer seine Bücher während der Diktatur veröffentlichen konnte, mußte ja von vornherein das Plazet der Zensur erhalten haben. Genauso war es unter der Franco-Herrschaft in Spanien: Plötzlich gab es einen Nachfrageboom nach lateinamerikanischer Literatur, denn zensierte Kultur hat nun mal einen faden Beigeschmack.
Was die Nueva Narrativa Chilena angeht, so vereint sie AutorInnen mit teilweise sehr unterschiedlichen politischen Überzeugungen, mit sehr verschiedenen Stilen, und das ist gut so. Wir sind kein Fußballteam, wir suchen kein gemeinsames Programm, sondern wollen unabhängig voneinander dem Beruf des Schreibens nachgehen.
Zu guter letzt: Was machen Sie jetzt, und was sind Ihre Projekte?
Ich schreibe an einem neuen Roman und an einem Hörspiel. Darum dreht sich für mich momentan alles: weiterschreiben und weiterleben.
Und vom Schreiben leben?
Nie und nimmer! Das können die wenigsten, und in Chile schon gar nicht. Was mich betrifft, ich arbeite vormittags in einer Werbeagentur, die ich auch leite. Die Nachmittage gehören dann ausschließlich der Schriftstellerei.
Stellt das für Sie keinen Widerspruch dar, Werbung und Literatur?
Schon. Aber man muß eben lernen, mit Widersprüchen zu leben.
Herr Cerda, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.