Literatur | Nummer 294 - Dezember 1998

Die Linke in Lateinamerika

Ein Sammelband, der zum Standardwerk werden könnte

Was ist nach den schweren Niederlagen aus der Linken Lateinamerikas geworden? Was haben die Abwahl der sandinistischen Regierung in Nicaragua, die Niederlagen der revolutionären Bewegungen in El Salvador und Guatemala, der Übergang zur formalen Demokratie ohne Veränderung der Machtverhältnisse und unter dem Vorzeichen der Straflosigkeit zu bedeuten? Welche Wirkungen hatten die äußeren Faktoren, vom Mauerfall bis zum Siegeszug des Neoliberalismus? Das Buch „Die Linke Lateinamerikas“ gibt viele Antworten – und wirft noch mehr Fragen auf.

Kathrin Buhl

Albert Sterr gebührt das Verdienst, als Herausgeber und Mitautor den Versuch unternommen zu haben, einen Überblick über die Vielfalt linker Kräfte in dem trotz aller Gemeinsamkeiten höchst differenzierten Lateinamerika zu geben. Das Buch kann dem Anspruch nur begrenzt gerecht werden, die Linke von innen und außen, aus theoretischer Perspektive und mit praxisbezogenen Stellungnahmen zu analysieren. Dazu zwingen Umfang, Preis, Lesbarkeit und der bisweilen von Zufällen abhängende Zugang zu Artikeln.
Die Gliederung in eine einführende Übersicht, neun Länderbeiträge und fünf themenorientierte Artikel gestattet eine Art multifunktionaler Nutzung sowohl für SpezialistInnen wie für allgemein interessierte LeserInnen. Bedauerlich ist allerdings, daß mögliche Querverbindungen zwischen den beiden großen Teilen des Buches, ein Bezug der themenorientierten Beiträge auf die spezifischeren Länderbeschreibungen ausbleibt.

Die schlechteren Rechten

In seinem einführenden Beitrag beschreibt Albert Sterr die wirtschaftliche und politische Entwicklung der Rahmenbedingungen für die linken Strömungen seit den achtziger Jahren und die subjektive Verfaßtheit der Linken, wobei hier zunächst die dem linken Parteienspektrum zuzuordnenden Kräfte betrachtet werden. Wichtig erscheint der Verweis auf außerparlamentarische, zum Beispiel Bauernbewegungen oder die ZapatistInnen am Ende des Kapitels. Wer sind die auf Demokratisierung und alternative Entwicklungsstrategien gerichteten Kräfte? Wer wirkt jenseits der traditionellen Arten der Machtergreifung, sei es durch Wahlen oder durch bewaffneten Kampf? Die Offenheit, beide großen Strömungen zu betrachten, ist einer der Vorzüge der Konzeption des gesamten Bandes. Edgar Gutiérrez benennt die Herausforderung für die Linke treffend: „Sie muß eine andere Zukunft entwerfen. Dies heißt, die Linke neu zu begründen und ihr Modell der Macht noch einmal zu diskutieren. Schließlich hat Macht nicht nur eine Dimension, und es gibt viele Hinweise dafür, daß die Linken, wenn sie die Macht im Staate innehaben, die schlechteren Rechten sind.“
Die nachfolgenden Länderartikel stellen die Entwicklung und die gegenwärtige Verfaßtheit der Linken exemplarisch dar. Die Aussagekraft der einzelnen Beiträge ist dabei quantitativ und vor allem qualitativ recht unterschiedlich. Neben umfassenden, wenngleich nicht sonderlich neuen Überblicksdarstellungen wie zu Mexiko oder Venezuela stehen Beiträge, in denen prozeßorientiert die Wechselwirkung zwischen den jeweils sehr unterschiedlichen nationalen Entwicklungen und den existierenden linken Kräften reflektiert wird. Zu nennen sind hier besonders die Artikel zu Guatemala, Kolumbien und Peru, die auch die subjektiven Faktoren einschließen, die gemeinhin eher vernachlässigt werden.
Edgar Gutiérrez analysiert den Werdegang der guatemaltekischen Linken, also vor allem der Guerillabewegung, unter den Bedingungen von jahrzehntelangem Terror und brutaler Repression und stellt fest: „Konspiration als Prinzip des politischen Handelns, geheime Bräuche, Verzicht auf private und berufliche Normalität, die Einhaltung einer quasi-militärischen Arbeitsdisziplin, von der die physische Unversehrtheit und die Sicherheit der Organisation abhingen, die unvermeidliche Anpassung an die Kunst der Kriegsführung, das Loslösen von materiellen Gütern und die Führung eines Doppellebens waren die Folgen. Heldentum und Aufopferung, aber auch Verrat und Untreue. Grausame Intrigen, persönliche Streitigkeiten und Machtkämpfe unter feindlicher Belagerung… Die Linke durchquerte diese Etappe wie jemand, der in einer lange andauernden Grenzsituation lebt.“ Für die Führer (und viele namenlose Mitglieder) der guatemaltekischen Linken dauerte diese Grenzsituation zum Teil mehr als 40 Jahre – ein Menschenleben lang. Auch in anderen Ländern wie El Salvador und Kolumbien, unter modifizierten Bedingungen auch in Argentinien und Uruguay, sind diese Faktoren zumindest für Teile der Linken kennzeichnend.

Zwischen eigener Entscheidung und Notwendigkeit

Wie kann diese Linke, wie können Menschen mit dieser persönlichen Geschichte, mit einer Tradition, die notwendigerweise antidemokratisch und intolerant ist, nunmehr Toleranz und Demokratie voranbringen, eine „Zivilgesellschaft“ mitgestalten? Wie kann unter solchen Voraussetzungen ein Neuanfang aussehen, nach einem letztlich verlorenen Kampf, der das eigene Leben prägte? Welche Chancen bestehen für die nachfolgenden Generationen der Guerilla, für diejenigen, die oftmals weniger aus politischer Überzeugung denn als einzigem Ausweg aus einer unabwendbaren Gewaltsituation und traumatischen persönlichen Erlebnissen zu den Waffen griffen und „Normalität“ nie kennengelernt haben? Die Beiträge von Gutiérrez und Rütsche können keine endgültige Antwort auf diese Fragen geben, aber die Einbeziehung dieser sozialpsychologischen Faktoren erscheint für das Verständnis der Linken in den genannten Ländern unabdingbar.
Eher enttäuschend hingegen sind die fragmentarischen Darstellungen zu El Salvador, Haiti oder Nicaragua, in denen erklärende Hintergründe zu der teilweise übergroßen Vielzahl von Namen und Fakten nur ansatzweise beschrieben werden. Am Beispiel von Haiti wird dies besonders deutlich. Einen deutlich tiefergehenden Einblick ermöglicht der Beitrag von Löwy zum „Befreienden Christentum“ und dessen Abschnitt zu Aristide.
Sowohl für Nicaragua als auch für El Salvador gilt, daß der Blickwinkel einseitig auf das jeweilige parteipolitische Spektrum gerichtet ist; hier wäre die Einbeziehung anderer sozialer Kräfte wünschenswert gewesen. Eine Aussage wie „Innerhalb der FSLN gab es schon immer eine ausgeprägte Faulheit, sich mit theoretischen Problemen zu befassen“, ist nicht nur von erstaunlicher Arroganz, sondern auch als Erklärung wenig hilfreich.
Der letzte der Länderbeiträge, der Brasilien gewidmet ist, richtet seinen Fokus auf die ganz speziellen Erfahrungen in der kommunalen Arbeit einer Partei, der PT in Porto Alegre. Der Ansatz unterscheidet sich mit diesem Praxisbezug deutlich von den anderen Beiträgen und illustriert die auf lokaler Ebene bestehenden Veränderungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen linker Kräfte jenseits einer neuen Vision der Systemveränderung. Die kurze Beschreibung macht neugierig auf eine umfangreichere und vielleicht auch kritischere Analyse dieser Erfahrungen.

… lokal handeln

Auf die Länderbeiträge folgen thematisch orientierte Artikel, die einen umfassenden Überblick über wichtige Wurzeln, Bezugspunkte und gegenwärtige Wirkungsmöglichkeiten und -formen der lateinamerikanischen Linken geben, angefangen mit Ernesto Che Guevara über die Entwicklung der Guerillabewegungen in verschiedenen Ländern des Kontinents, den Einfluß der Theologie der Befreiung, bis hin zu den sozialen Bewegungen und der Zusammenarbeit der linken Parteien. Einen auch quantitativ zentralen Platz nimmt Sterrs Analyse des Guerillakampfes und der Befreiungsbewegungen ein.
Es ist möglicherweise der für die breite Themenstellung notwendigen Verknappung und Verallgemeinerung geschuldet, daß einige wichtige Fragen offen beziehungsweise einige Thesen zweifelhaft bleiben. So ist die Militärdiktatur in Chile nicht ohne die Regierungszeit der Unidad Popular denkbar, auf die jeder Hinweis fehlt.

Offene Fragen

Dies deutet auf ein Manko des gesamten Buches hin: Es fehlt eine genaue Betrachtung der Entwicklung im Cono Sur. So wird ein wichtiger Teil der lateinamerikanischen Linken ausgeklammert, der für eine Gesamtdarstellung eigentlich unverzichtbar ist.
Auch im zweiten Abschnitt des Artikels, in dem es um die Integration geschlagener Guerillagruppen in die legale Opposition geht, wird zu stark verallgemeinert – zeigen doch spätere Ausführungen, daß sich diese Integration durchaus in verschiedenen Zeiträumen und sehr unterschiedlichen Ausprägungen vollzog.
Ein merkwürdiger Widerspruch wird in den beiden letzten Abschnitten deutlich, die im wesentlichen am Beispiel Mexikos einen Ausblick auf die Gegenwart und die mögliche Zukunft der Guerillabewegung geben. Neben der Analyse der neuen Ansätze und Konzeptionen besonders der EZLN erfolgt abschließend die Kritik, „daß die Zapatisten zu gesellschaftlichen Schlüsselfragen keinen eigenen klaren Standpunkt haben“. Zunächst erscheint dies durchaus zutreffend, nur: Welche linke Kraft kann für sich in Anspruch nehmen, eine realistische Antwort auf diese Fragen zu haben, die über die zugegebenerweise bestenfalls mittelfristig konkretisierten Vorstellungen der ZapatistInnen hinausgehen? Wie die den Linken gemeinsame Vision einer gerechten Gesellschaft konkret umgesetzt und ausgestaltet werden könnte, welche Strategien und Konzepte notwendig sind, bleibt nicht nur bei der EZLN offen: mir ist zumindest kein klares Konzept anderer Kräfte bekannt, das diesem Anspruch gerecht würde. Handelt es sich also um eine der (deutschen?) Linken durchaus nicht unbekannte Projektion, wenn die EZLN an Maßstäben gemessen wird, denen sie selbst nicht gerecht wird? In diesem Zusammenhang wäre eine genauere Untersuchung interessant, warum „Sympathiebezeugungen politischer Parteien und der Solidarität“ für die EZLN als unverbindlich und offensichtlich wenig hilfreich („bündnispolitische Schwäche“) bewertet werden.
Michael Löwy gibt einen knappen, aber aussagekräftigen Überblick über die Entwicklung des „Befreienden Christentums“, vertrauter unter dem Stichwort „Theologie der Befreiung“. Hervorzuheben sind die an den Beispielen von Haiti und Mexiko beschriebenen Wirkungen und Einflüsse dieser Strömung der lateinamerikanischen Linken in den gegenwärtigen Prozessen.
Trotz aller kritischen Anmerkungen sind die von Sterr herausgegebenen Analysen und Berichte nicht nur lesenswert, sondern aufgrund ihrer erstaunlichen Vielfalt nahezu als obligatorisches Standardwerk für Lateinamerikainteressierte zu betrachten. Viele der notwendigerweise offengebliebenen Fragen verdienten eine ausführlichere Analyse, zu der der Band vielleicht Anregungen gibt. Ein Wermutstropfen sei allerdings noch benannt, der auch durch die verschiedenen objektiven Umstände nicht zu erklären ist: Die Rolle der Frauen in den linken Bewegungen und die Frauenbewegungen selbst werden im gesamten Buch bestenfalls marginal erwähnt. Ist es wirklich nur ein Zufall, daß unter den insgesamt 14 AutorInnen nur zwei Frauen vertreten sind?

Albert Sterr (Hg.): Die Linke in Lateinamerika. Analysen und Berichte. 318 S., Neuer ISP-Verlag, Köln und Rotpunktverlag, Zürich 1997.

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