Argentinien | Nummer 315/316 - Sept./Okt. 2000

Die Oase der Straflosigkeit

Zwei argentinische Ex-Militärs wurden im Ausland verhaftet

Jorge Olivera und Ricardo Cavallo werden Folterungen von AusländerInnen während der argentinischen Militärdiktatur vorgeworfen. Nun wurden sie in Italien beziehungsweise Mexiko verhaftet. Die Zurückhaltung der argentinischen Regierung deutet auf einen Wandel in der staatlichen Menschenrechtspolitik hin.

Gabriel Wolf

Jorge Olivera wurde am 7. August auf dem römischen Flughafen Fiumicino verhaftet. Veranlasst hatte die Festnahme des ehemaligen Militärs der französische Richter Roger Le Loire, der Olivera die Entführung, Folterung – möglicherweise auch Vergewaltigung – und anschließende Ermordung der 22-jährigen Franko-Argentinierin Marianne Erize im Oktober 1976 zur Last legt. Die Polizei griff zu, als der Ex-Offizier Italien in Richtung Argentinien verlassen wollte. In Europa hatte er pikanterweise versucht, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eine Anklage gegen die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher wegen ihrer Verantwortung für die Versenkung des argentinischen Kriegsschiffes General Belgrano im Falkland/Malvinen-Krieg 1982 zu erwirken. Damit hatte er jedoch keinen Erfolg gehabt.
Wenige Stunden nach der Festnahme Oliveras ließ Präsident Fernando De la Rúa verlauten, dass er das Recht Frankreichs auf ein Verfahren gegen den argentinischen Ex-Offizier anerkenne. Das Territorialitätsprinzip sei durch die Verhaftung in Europa nicht verletzt worden. Und Argentiniens Außenminister Adalberto Rodríguez Giavarini ergänzte: „Das Außenministerium wird sich darauf beschränken, dem Offizier im Ruhestand Jorge Olivera die gleiche konsularische Unterstützung zukommen zu lassen, auf die auch die anderen 200 argentinischen Staatsbürger Anspruch haben, die wegen diverser Delikte in Europa Haftstrafen verbüßen.“ Dass sich der argentinische Staat für die Freilassung Oliveras einsetzen werde, schloss er kategorisch aus. Die Staatssekretärin für Menschenrechtsangelegenheiten, Diana Conti, sekundierte dem Minister: „Da es sich um jemanden handelt, der Menschenrechte verletzt hat, können weder das argentinische Volk noch Mitglieder unserer Regierung Sympathien für ihn aufbringen. Die Regierung wird sich in diesem Sinne nicht in den Fall einmischen.“

Regierung reagiert zurückhaltend

Die rasche Reaktion der Regierung steht in bemerkenswertem Kontrast zu den Positionen, die sowohl die vorherige Menem-Regierung als auch der damalige Präsidentschaftsaspirant De la Rúa zum Fall Pinochet vertreten hatten. Damals hatte De la Rúa verkündet, hier werde durch Spanien und Großbritannien das Prinzip der Territorialität verletzt. Dem chilenischen Ex-Diktator müsse umgehend die Rückkehr in sein Heimatland ermöglicht werden, um ihn dort vor Gericht zu stellen. Inzwischen vertritt der Präsident De la Rúa zwar offiziell weiterhin die Meinung, für die Verhandlung von Straftaten seien die Gerichte des Landes zuständig, wo diese begangen wurden; andererseits hob er unlängst eine von Menem veranlasste Informationssperre auf und ließ dem spanischen Untersuchungsrichter Baltasar Garzón Akten über Menschenrechtsverletzungen in Argentinien zukommen, um die jener bereits vor geraumer Zeit gebeten hatte.
Dieser Wandel könnte als Richtungsänderung in der Menschenrechtspolitik interpretiert werden, die das Außenministerium unter De la Rúa vollzogen hat. Aber auch andere Interpretationen kommen in Frage. Seit einem Dreivierteljahr im Präsidentenamt, sieht sich De la Rúa dazu gezwungen, ein positives Image gegenüber der Weltöffentlichkeit zu wahren. Das wiederum ließe eine weitere Schlussfolgerung zu: Auch wenn sich die klare Zurückhaltung der argentinischen Regierung angesichts der Verhaftungen positiv als Beitrag zur Internationalisierung der Justiz deuten lässt, offenbart sich im Fall Olivera auch der äußerst begrenzte Handlungsspielraum der Länder des Südens.
Und noch ein handlungsbestimmender Faktor für die ungewohnte Passivität der Regierung: Unter der Regierung des Radikalen Raúl Alfonsín wurde die Verabschiedung der Gesetze des „gebotenen Gehorsams“ (Obediencia Debida) und des „Schlusspunkts“ (Punto Final) vorangetrieben. Jahre später ermöglichten diese dann die Begnadigung aller militärischen Folterknechte. Eine aktiv betriebene Opposition gegenüber der möglichen Verurteilung von Militärs in anderen Ländern könnte deshalb auch den Konflikt um die offenen Rechnungen neu entfachen, die die Opfer der Diktatur mit Alfonsín, der Radikalen Partei UCR und somit auch mit De la Rúa haben.

Der Fall Cavallo

Die Festnahme des ehemaligen Marineoffiziers Ricardo Miguel Cavallo in Mexiko (siehe Kasten) versetzte sowohl die argentinische Regierung und die Führungsebene des Militärs als auch die Menschenrechtsorganisationen in Aufregung. Zwei Richter, in Spanien und in Frankreich, hatten ihr Vorgehen koordiniert und bei Interpol und den mexikanischen Behörden in aller Form den Haftbefehl gegen den Korvettenkapitän im Ruhestand beantragt. Der war im Rahmen eines Sonderkommandos für den „Betrieb“ des geheimen Haft- und Folterzentrums in der ESMA (Escuela de Mecánica de la Armada) mitverantwortlich. Vorgeworfen wird ihm Beteiligung an der Folterung und dem Verschwindenlassen der beiden französischen Ordensschwestern Alice Domon und Leonie Duquet, die vermutlich Ende 1977 in der ESMA ermordet wurden.

Militärs geben sich besorgt

Während De la Rúas Regierung in ihren Äußerungen Abstand hielt und Cavallo – wie vorher Olivera – lediglich die übliche Konsularhilfe anbot, zeigte sich das argentinische Heer angesichts der Möglichkeit weiterer Verhaftungen besorgt. So zum Beispiel der Chef des Heeres, General Ricardo Brinzoni: „Das Heer maßt sich keine eigene Meinung zu diesen Fällen an. Mir ist bewusst, dass es sich hier um ein komplexes juristisches Problem handelt; dennoch glaube ich fest an das Territorialitätsprinzip in der Justiz.“
Zur gleichen Zeit äußerte der Argentinische Menschenrechtsverein – Madrid (Asociación Argentina Pro Derechos Humanos – Madrid) scharfe Kritik: Als die spanische Audiencia Nacional den internationalen Haftbefehl gegen Cavallo ausgesprochen habe, sei zum wiederholten Male offenbar geworden, dass das Land, in dem dieser seine Verbrechen verübt habe – Argentinien – eine „Oase der Straflosigkeit“ geworden sei, „die letzte Zuflucht für Völkermörder. Das grausame Paradox muss endlich beendet werden, nach dem die Verantwortlichen des argentinischen Genozids nur noch in dem Land vor Verfolgung sicher sind, in dem sie ihre Verbrechen begangen haben.“
Laut Nora Cortiñas von der Asociación de Madres de Plaza de Mayo „zeigen die Fälle Pinochet und Olivera, dass die Straflosigkeit bald ein Ende haben wird – auch wenn wir glauben, dass ein Gericht in Spanien oder in einem anderen Land keine Gerechtigkeit wird schaffen können, solange die argentinische Gesellschaft und ihre staatlichen Vertreter dazu nicht bereit sind.“

Vernehmungen in Argentinien beantragt

Die neue argentinische Regierung hat nun verschiedene Möglichkeiten zu beweisen, dass sie tatsächlich anders als ihre Vorgängerin an die Problematik herangeht. Der Richter Le Loire hat Außenminister Rodriguez Giavarini um Erlaubnis ersucht, in Argentinien Vernehmungen von 140 Militärangehörigen durchzuführen, die an der Verschleppung von Ausländern beteiligt gewesen sein sollen. Der Antrag bezieht sich auch auf etliche Militärs, gegen die ein Haftbefehl aus mehreren europäischen Staaten vorliegt. Damit stellt das Ersuchen Le Loires Präsident De la Rúa vor eine schwierige Situation: Wenn er ihm nachgibt, könnte es zu einem wahren Aufmarsch von teilweise noch im Dienst befindlichen Militärs in den Gängen der argentinischen Gerichte kommen. Das macht einen positiven Bescheid eher unwahrscheinlich.

Übersetzung: Claudius Prößer

KASTEN:
Multiple Persönlichkeit
Interpol verhaftet einen mutmaßlichen Mörder der argentinischen Diktatur
Seit Pinochets Verhaftung in London müssen die Folterknechte der Welt zittern. Nun hat es den argentinischen Korvettenkapitän Miguel Angel Cavallo erwischt. Er sitzt in Mexiko in U-Haft.

Alles deutet darauf hin, dass Ricardo Miguel
Cavallo ein angenehmes Leben im Exil führte. Vor etwa einem Jahr übernahm der Argentinier die Leitung der privatisierten mexikanischen Kraftfahrzeug-Registratur. Er bewegte sich in vornehmen Kreisen, die Klatschpresse feierte ihn als erfolgreichen Geschäftsmann. Dem internationalen Haftbefehl, den der spanische Untersuchungsrichter Baltasar Garzón im November vergangenen Jahres gegen 98 Verantwortliche der letzten argentinischen Militärdiktatur (1976-83) erlassen hatte, schenkte er offenbar keine Aufmerksamkeit.
Das hätte er wohl besser tun sollen, denn am 24. August wurde er auf dem Flughafen des mexikanischen Urlaubsortes Cancún verhaftet, als er nach Buenos Aires fliegen wollte. Am selben Tag hatte die mexikanische Zeitung „Reforma“ berichtet, der Mann sei identisch mit Miguel Angel Cavallo, einem Korvettenkapitän der argentinischen Marine.
Der steht seit Garzóns Haftbefehl auf der Fahndungsliste von Interpol, weil er in den Siebzigerjahren unter den Pseudonymen „Marcelo“ und „Sérpico“ Oppositionelle gefoltert und ermordet hat. Dafür wurde ihm in seiner Heimat schon der Prozess gemacht; das so genannte Gesetz zum Befehlsnotstand bescheinigte ihm jedoch, auf Befehl gehandelt zu haben, und bewahrte ihn vor einer Haftstrafe. Als Leiter einer Einsatzgruppe der berüchtigten Mechanikerschule der Marine (ESMA) in Buenos Aires soll er außerdem am Verkauf der Autos von Ermordeten beteiligt gewesen sein. Immer wieder ist dabei die Rede von der Fälschung von Nummernschildern.
Nun bestreitet Ricardo Cavallo bislang, Miguel Angel, „Sérpico“, „Marcelo“ oder überhaupt irgend ein anderer als Ricardo, der Geschäftsmann, zu sein. Eben das, so erklärte er bei seiner Festnahme, hätte er in seiner Heimat beweisen können. Wenn die Grenzer ihn doch nur hätten ziehen lassen. Einmal in Buenos Aires angekommen allerdings, hätte er wohl gar nichts mehr beweisen müssen. Schließlich haben die argentinischen Behörden noch niemanden auf Grund von Garzóns Haftbefehl festgenommen.
Cavallos Chancen stehen schlecht, dass sich jemand auf die Geschichte mit den vielen Namen einlässt. Fünf Zeugen haben Garzón bestätigt, dass es sich bei allen vier um eine einzige Person handelt. Der Direktor von Interpol Mexiko, Juan Ponce, präsentierte auf einer Pressekonferenz eine Ernennungsurkunde des argentinischen Geheimdienstes SIDE aus den Siebzigerjahren und verglich sie mit dem aktuellen Reisepass: „Auf der Urkunde und auf dem Pass sind sowohl die Fotos als auch die Unterschriften von Miguel Angel Cavallo und Ricardo Miguel Cavallo identisch“, sagte Ponce. Auch die Fingerabdrücke seien deckungsgleich.
Bis zum 23. Oktober muss Garzón nun ein Auslieferungsgesuch in Mexiko vorlegen. Wenn die mexikanische Staatskanzlei dem Antrag stattgibt, wird sich Cavallo wohl in Spanien wegen Völkermordes, Folter und Terrorismus verantworten müssen. Auch der französische Richter Roger Le Loire bekundete bereits Interesse an einer Vernehmung des Mannes. Er untersucht den Mord an zwei katholischen Nonnen.
Michael Goebel

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