Die plurale Gesellschaft
Venezuela hat sich auf den Weg gemacht, die Vielfalt der sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten zu respektieren
Es ist wohl kein Zufall, dass erst der politische Neubeginn unter Hugo Chávez auch frischen Wind für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexen (LGBTI) in Venezuela gebracht hat. Im Juni 2001 – über 30 Jahre nach dem New Yorker Stonewall-Aufstand – war die Zeit überreif für einen eigenen Christopher Street Day (CSD), bei dem rund tausend Menschen öffentlich für das Recht auf sexuelle Vielfalt durch das Zentrum von Caracas zogen. In diesem Jahr wird somit bereits die 10. Auflage der Demonstration stattfinden, zu der LGBTI aus dem ganzen Land strömen. Seit 2005 wird jährlich am 17. Mai auch der internationale Tag gegen Homophobie begangen, der an die Streichung der Homosexualität von der Krankheitsliste der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erinnert. Bei der ersten Begehung dieses Datums, noch unter dem Oberbürgermeister Juan Barreto von der damaligen Chávez-Partei Bewegung Fünfte Republik (MVR), konnten queere Gruppen die Regenbogenflagge auf der symbolträchtigen Plaza Bolívar hissen. Für einige Jahre existierte in der Stadtverwaltung von Caracas sogar ein Büro zur Unterstützung queerer Lebensweisen. Unter dem seit 2009 amtierenden Antonio Ledezma von der rechten Alianza Bravo Pueblo wurde die Einrichtung umgehend wieder abgeschafft. Doch auch die Regierung Chávez stellt keine Räumlichkeiten für dauerhaftes Engagement zur Verfügung, etwa für Kulturzentren lesbischer, schwuler, transgender oder queerer Gruppen. Die Aktivist_innen, zum Beispiel von der Organisation Alianza Lambda oder des im August 2009 neu konstituierten venezolanischen LGBTI-Netzwerks, treffen sich in Privatwohnungen, bezahlte Stellen gibt es nicht. Selbstorganisation und Eigeninitiative sind dort gefragt, wo Menschen auf die Gesellschaft wirken wollen. So wurde von einem Kreis queerer Akademiker_innen am Institut für Anthropologie der staatlichen Zentraluniversität Venezuelas (UCV) ein mehrmonatiges Studien-Panel zu Sexueller Vielfalt eingerichtet. Die Gruppe mit dem provokativen Namen Contranatura (Gegen die Natur) ist auch maßgeblich an der Organisation unregelmäßig abgehaltener Konferenzen zu Queer Theory und Sexueller Vielfalt beteiligt, die bereits 2002 von der Literaturwissenschaftlerin Gisela Kozak ins Leben gerufen wurden.
Vorhut des Aktivismus war die Gruppe Entendido, die ab 1980 erstmals eine lesbisch-schwule Zeitschrift gleichen Namens herausgab. Nach einigen Ausgaben wurde das Projekt jedoch wieder eingestellt. Erst 1994 gründete sich dann die Organisation Movimiento Ambiente de Venezuela, aus der zahlreiche der heute existierenden Gruppen hervorgingen.
Die 1999 erarbeitete Verfassung des Landes enthält, trotz ihrer progressiven Ausrichtung, keinen expliziten Schutz vor Diskriminierungen für Lesben, Schwule und Transgender. Dies ist auf die Intervention der Venezolanischen Bischofskonferenz zurückzuführen, die damals auch gesetzliche Lockerungen für Abtreibungen verhinderte. Die Aufnahme eines expliziten Verbots der „Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Alter, politischer oder sexueller Orientierung“ in den Gleichheitsartikel 21 der Verfassung scheiterte zusammen mit Dutzenden weiteren Änderungsinitiativen an der knappen Ablehnung der Verfassungsreform im Referendum von Dezember 2007. Wie aus einem Urteil der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs vom Februar 2008 hervorgeht, verbietet der Artikel allerdings auch in seiner derzeitigen Fassung Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung. Bis heute mündete dies jedoch nicht in die von Artikel 21 vorgesehenen konkreten Gesetze.
Zuletzt scheiterte im vergangenen Jahr ein Vorstoß von Romelia Matute, Abgeordnete der sozialistischen PSUV und Mitglied im parlamentarischen Ausschuss für Familie, Frauen und Jugend. Dabei ging es um den Artikel 8 des Organgesetzes über Gleichheit und Gleichberechtigung der Geschlechter. Queere Gruppen hatten mittels Unterschriftensammlung und Demonstrationen gefordert, dort das Recht auf Änderung des juristischen Geschlechts in Dokumenten für Transgender, die staatliche Übernahme der Kosten für medizinische Geschlechtsanpassungen Transsexueller sowie die rechtliche Gleichbehandlung für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften festzuschreiben. Und wieder war es die Venezolanische Bischofskonferenz, die durch ihren Einfluss rechtliche Verbesserungen unmöglich machte. In einer öffentlichen Stellungnahme der Bischöfe hieß es, die Menschenwürde in einem mehrheitlich von Christen bewohnten Land sei bedroht, sollten gleichgeschlechtlichen Partnerschaften dieselben Rechte zuerkannt werden wie der Ehe zwischen Mann und Frau. Dabei beriefen sie sich unter anderem auf den Artikel 77 der Verfassung, der heterosexuelle Partnerschaften privilegiert. Ricardo Hung, langjähriger Aktivist der Organisation Alianza Lambda, bestätigt einen großen Einfluss nicht nur katholischer sondern auch evangelikaler Gruppen auf das Parlament. Dies gilt Hung zufolge auch für die PSUV-Abgeordneten. Viele sehen offenbar keinen Widerspruch zwischen revolutionärer Rhetorik und konservativen, ausschließenden Werten. Es gibt jedoch auch hoffnungsvolle Entwicklungen. Im Jahr 2002 hatte Präsident Chávez in einer Ausgabe seiner wöchentlichen Fernsehsendung „Aló Presidente“ die Rechte von Homosexuellen bekräftigt. Kurz darauf gründete sich analog zur MVR bereits eine linke Gruppe unter dem Namen Revolutionäre Schwulenbewegung, deren Vorsitzender, Heisler Vaamonde, zu den Parlamentswahlen Ende 2005 antrat. Letztlich reichten die Stimmen nicht für ein Abgeordnetenmandat. Zumindest gibt es heute innerhalb der PSUV eine queere Strömung, den Sozialistischen Block für Homosexuelle Befreiung. Diese trägt nicht nur linke Positionen in die queere Szene, sondern will auch innerhalb der Partei für Emanzipation sorgen.
Die Widerstände in der Nationalversammlung führen jedoch noch immer dazu, dass geschlechtliche Identitäten und sexuelle Orientierungen aus dem Verantwortungsbereich der Exekutive ausgeklammert werden. Dass dies dringender Änderungen bedarf, wird deutlich, wenn man sich mit dem Phänomen transphober Gewalt auseinandersetzt. Brutal ist die Realität, die die Konzeptkünstlerin Argelia Bravo sichtbar macht. Ihre Ausstellung „Arte social por las trochas hecho a palo, pata’ y kunfú“(etwa: Social Art auf Trampelpfaden: mit Schlägen, Fußtritten und Kung Fu) im staatlichen Zentrum für Lateinamerika-Studien Rómulo Gallegos (CELARG) gab Anfang des Jahres einen Blick auf den Transenstrich der venezolanischen Hauptstadt frei. Die Avenida Libertador, eine der Hauptverkehrsadern von Caracas, verwandelt sich allnächtlich in einen Ort von Sexarbeiter_innen, die als Transgender, Transsexuelle, Transformistas leben. Die hier arbeitenden Trans*frauen – käufliches Objekt der Begierde – werden häufig Opfer von Gewalt, auch durch Polizeibeamte. Die Misshandlungen reichen bis hin zu Verstümmelung und Mord – schlimme Erfahrungen, die Bravo in die Gesellschaft tragen will. Aussagen der Künstlerin zufolge wurzelt das Problem in der Heteronormativität, dem Druck, sich vorgestanzten geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Orientierungen zu unterwerfen.
Die Ablehnung durch die Gesellschaft, Diskriminierung und ökonomische Zwänge führen offensichtlich einen Teil der Trans*frauen trotz aller Gefahren an diesen Ort. Einige zahlen mit ihrem Leben dafür. So wurde am 7. Mai 2009 die 27-jährige Xiomara Durán auf der Avenida Libertador durch gezielte Schüsse lebensgefährlich verletzt. Sie starb einige Tage später an ihren Verletzungen. Durán war bereits das vierte transsexuelle Mordopfer innerhalb weniger Monate. Am 28. Januar 2010 wurde erneut eine Transsexuelle ermordet aufgefunden, diesmal im Stadtteil Caripita. In keinem der Fälle wurden die Hintergründe aufgeklärt.
Zwar ist die Zahl der in Venezuela begangenen transphoben Morde nicht annähernd so hoch wie etwa in Mexiko oder Brasilien. Dennoch stellt sich die Frage, wie solche Hassverbrechen wirksam verhindert werden können.
Möglicherweise trägt eine Ende Februar vorgestellte Kooperation zur Lösung bei, die von der staatlichen Ombudsstelle für Menschenrechte mit dem kubanischen Sexualinstitut CENESEX vereinbart wurde. Das Partnerland hatte schon vor zwei Jahren bahnbrechende Neuerungen für
LGBTI-Rechte vorzuweisen (siehe LN 411/412). Nun wurde angekündigt, in Venezuela eine gesonderte Ombudsstelle für Sexuelle Vielfalt gründen zu wollen, die sich mit spezifischen juristischen und sozialen Fragen befassen soll. Außerdem sind Aufklärungsmaterialien geplant, die an Bildungseinrichtungen im ganzen Land den Respekt vor unterschiedlichen sexuellen Orientierungen fördern sollen.
Ob die Maßnahmen mit dem ausreichenden Elan vorangetrieben werden, muss sich erst erweisen. Ein weiteres Problem ist die verbreitete Straflosigkeit – und dabei ist Venezuela kein Einzelfall. Rechtsunkenntnis oder sogar das Wissen um Straflosigkeit führen im Alltag zu dreisten Angriffen von privaten Arbeitgebern, Kneipenwirten oder Familienvätern. Emanzipation muss alltäglich mühsam erkämpft werden, auf Diskriminierungen immer wieder konsequent aufmerksam gemacht werden – so lange, bis eine Kultur der Akzeptanz in allen gesellschaftlichen Schichten erreicht ist. Ein großer Erfolg auf diesem Weg war der Fall des Pedro Alejandro Lava Socorro im vergangenen Oktober. Der Professor für römisches Recht an der privaten Universidad de Santa María hatte in einer Lehrveranstaltung immer wieder homophobe Äußerungen angebracht. Er wurde dabei gefilmt, das Video ins Internet gestellt. Innerhalb von 48 Stunden hatten tausende Mitglieder sozialer Netzwerke im Internet gegen die Schmähungen protestiert. Die Universität prüfte den Vorfall und suspendierte den Mann.