El Salvador | Nummer 197 - November 1990

Die politische Strategie der FMLN – Die demokratische Revolution

Christiane Schulte

Am 24. September veröffentlichte die Comandancia General der FMLN eine Pro­klamation an die Nation mit dem Titel “Die demokratische Revolution”. In einem Minimalprogramm werden die politischen Grundlinien aktualisiert und in die nationale Debatte eingebreacht. Es richtet sich an die “Nation”, nicht an die mit der FMLN in Verhandlung stehende Regierung. Es skizziert den Weg einer “demokratisch nationalen Revolution” zur Wiedererlangung der nationalen Sou­veränität und zur Schaffung eines dauerhaften Friedens in El Salvador.

Zum 10. Jahrestag der FMLN – Veränderte Positionen

Nach den Konzepten der FMLN über die “revolutionär-demokratische Regie­rung” von 1980 und über die “Regierung mit breiter Partizipation” von 1983 ist das jüngste Programm der FMLN das weitreichendste und umfassendste. Neben bereits in früheren Dokumenten publizierten Grundlinien lassen sich revidierte Positionen feststellen:
– Statt der Verteidigung der einen Partei als Motor des revolutionären Prozesses propagiert die FMLN nun den politischen und ideologischen Pluralismus
– Von der Vorstellung des Staatseigentums als maximalem Ausdruck des gesell­schaftlichen Eigentums ist die FMLN abgegangen und plädiert dafür, das gesell­schaftliche Eigentum direkt unter Arbeiterkontrolle zu stellen. Zudem ist neben kollektiven und assoziativen Eigentumsformen auch Privateigentum vorgesehen.
– Neu ist die Bereitschaft der Befreiungsbewegung in einen permanenten Kon­zertationsprozeß mit allen gesellschaftlichen Gruppen und Sektoren zu treten.
– Zum ersten Mal taucht programmatisch die Forderung auf, die ungleiche Posi­tion der Frau in der Gesellschaft zu ändern.

Die demokratische Revolution

Die “national-demokratische Revolution” beinhaltet vier wesentliche Verände­rungen der salvadorenischen Bevölkerung, so die FMLN: 1) Die erste und zugleich grundlegende für den weiteren Entwicklungsweg sei die Beendigung der Militarisierung der Gesellschaft. Das Thema, aufgrund dessen die Verhand­lungen mit der Regierung immer wieder zum Stillstand kamen. 2) Darauf auf­bauend fordert die FMLN eine neue gesellschaftlich-ökonomische Ordnung, die nationale Demokratisierung und die Wiedererlangung der nationalen Souverä­nität.
3) Um die militarisierten Strukturen der Gesellschaft zu demokratisieren sei zunächst die totale Abschaffung der Streitkräfte notwendig, so die Forderung der Befreiungsbewegung. Die dadurch freiwerdenden Finanzmittel sollten in Erzie­hungs- und Gesundheitsprojekte investiert werden. Zur Sicherung der internen Ordnung ist die Schaffung von “Kräften der öffentlichen Sicherheit” vorgesehen, die vom Parlament kontrolliert und von zivilen Kräften geleitet werden. 4) Die Todesschwadronen der Streitkräfte und der privaten Unternehmer sollen aufge­löst und alle für Repression, politische Verfolgung und Morde Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.

Die neue gesellschaftlich-ökonomische Ordnung

Sieben Maßnahmen sind vorgesehen, um die wirtschaftliche Macht der Oligar­chie zu brechen. Durch eine tiefgreifende Agrarreform soll der Boden im Agrarsektor zugunsten der kleinen und mittleren Bauern umverteilt werden. Vorgesehen sind Kooperativen sowie kleine und mittlere private Eigentumsfor­men. Achse des neuen Wirtschaftssystems soll die Entwicklung eines “wirtschaftlichen Pols” der Bevölkerung (polo economico popular) sein. Gemeint ist die Entwicklung und Verstärkung von Kooperativen und selbstverwalteten kollektiven Eigentumsformen in allen produktiven Sektoren. Der größte Bereich der Ökonomie soll direkt in die Hände von ländlichen und städtischen Arbeiter­Innen gelangen und ihnen so die Partizipation an wirtschaftlichen Entscheidung­en garantieren.
Ebenso soll eine Reform des städtischen Eigentums zugunsten der marginali­sierten Bevölkerung erfolgen. Der Staat soll für alle sozialen Belange der Gesell­schaft, wie Ernährung, Gesundheit, Erziehung und Kultur, zuständig sein. Durch eine permanente nationale Konzertation, an der UnternehmerInnen, ArbeiterIn­nen und der Staat teilnehmen, sollen Löhne, Preise, Arbeitsplätze und Kredite festgelegt werden.
Den Frauen wird durch eine neue Gesetzgebung eine den Männern gleichge­stellte gesellschaftliche Position formaljuristisch garantiert. Festgeschrieben werden gleichzeitig ihre Partizipation in allen gesellschaftlichen Bereichen, bes­sere Arbeitsbedingungen, Schwangerschafts- und Mutterschutz.

Nationale Demokratisierung

Das demokratische System basiert nach Vorstellung der FMLN grundlegend auf der Anerkennung der individuellen Freiheit und dem Respekt der Menschen­würde. Angestrebt wird repräsentatives, partizipatives und pluralistisches politisches System, in dem dem Parlament eine starke Position zugesprochen wird. Neben einer unabhängigen Justiz, dem Schutz der Menschenrechte sowie Meinungs- und Medienfreiheit werden in Minimaldefinitionen ein neues Wahl­gesetz und eine neue Verfassung gefordert.

Nationale Souveränität – Unabhängige Außenpolitk

Das vierte und letzte vorläufige Ziel einer zukünftigen Gesellschaftsordnung um­faßt Grundsätze und Maßnahmen zur internationalen und Außenpolitik. Zu den USA sollen Beziehungen des gegenseitigen Respekts aufgebaut werden, wenn diese die nationale Souveränität und Selbstbestimmung El Salvadors anerkennen. Außenpolitisches Ziel ist der Kampf für eine neue Weltwirtschaftsordnung, in der die Interessen Zentral- und Südamerikas und der gesamten “Dritten Welt” verteidigt werden. Ausgangspunkt der Außenpolitk sind die Neutralität bezüg­lich internationaler Militärpakte, die Kooperation im internationalen Kampf ge­gen den Drogenhandel sowie die Beilegung der Grenzprobleme mit Honduras. El Salvador sollte nach Willen der FMLN in die Gruppe der mit Kuba politisch und ökonomisch zusammenarbeitenden Staaten eintreten.

Keine Absage an den Sozialismus

Die FMLN präsentiert ihre strategischen Grundlinien zu einem Zeitpunkt, an dem in El Salvador eine nationale Debatte über die Zukunft des Landes in einem bisher nicht bekannten Maße geführt wird. Parteien, Kirche, Gewerkschaften und das “Komitee für die nationale Verteidigung” (CPDN), in dem seit 1988 über achtzig gesellschaftliche Organisationen zusammengeschlossen sind, diskutieren die zentralen Themen, die Gegenstand der Verhandlungen sind: Beendigung des Militarismus, Wahlgesetzreform, Verfassungsreform. Die Ergebnisse der Diskus­sion werden regelmäßig in die Verhandlungen getragen. Die Dynamik der poli­tischen Mobilisierung übt auf die Regierung Cristiani erheblichen Druck aus. Insofern soll die Proklamation der FMLN ein Beitrag zum Prozeß des “nationalen Konsenses” sein.
Rebeca Palacio, Comandante der FMLN, zum Charakter der Proklamation: “Sie ist ein Instrument für die Gegenwart, insofern, als sie den Proze der nationalen Konzertation verstärkt, und ein Instrument für die Zukunft, weil sie ein Wegwei­ser in Richtung einer neuen Regierung sein kann.”
Im elfseitigen Text ist die Rede von Demokratisierung und Pluralismus. Hat die FMLN dem Sozialismus abgesagt?
Rebeca Palacio: “Wir haben unsere ideologischen Grundlagen nicht verändert. Aber wir sind fähig, ein Projekt zu konzipieren, das die Türen für eine gesell­schaftliche Entwicklung öffnet, die die Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigt und der heutigen Realität entspricht…Es ist kein sozialistisches Projekt, aber sicher ein revolutionäres.”
Und Maria Marta Valladores, ebenfalls Comandante der FMLN: “Wir glauben, daß die Lösung für die Probleme des Landes nicht durch die Ideologie derer de­finiert ist, die das Land voranbringen, sondern durch die Fähigkeit, ein lebensfä­higes Projekt vorzuschlagen.”
So verstanden ist die Proklamation der FMLN ein strategisches Papier, das Spiel­räume öffnen soll. Es ist nicht Ausdruck von Verlust an ideologischen Grundsätzen, sondern zeigt Realismus und Pragmatismus.
“In diesem Augenblick ist unsere erste Sorge nicht die, mittels einer Revolution nach kubanischem Muster an die Macht zu kommen. Diese war zur damaligen Zeit richtig. Wir kämpfen dafür, die Demokratie zu errichten und nehmen an den Kämpfen in diesem Sinne Teil”, so FMLN-Comandante Emilio Maria Sandoval.
Zudem ist das FMLN-Programm Teil einer umfassenden Strategie der Befrei­ungsbewegung, zu der die Verhandlungen sowie die internationale Diplomatie gehören und die ohne den bewaffneten Kampf nicht zu denken sind.

Und Cristiani…?

Weniger umfangreich als die Proklamation der FMLN ist dagegen der Vorschlag, den Präsident Cristiani am 1.Oktober vor der Generalversammlung der Verein­ten Nationen der internationalen Öffentlichkeit kundtat. “Wir sind zu einem Waf­fenstillstand bereit”, verkündete er stolz, “vorausgesetzt, die FMLN ist es ebenso.”
So ernsthaft, wie von Cristiani vorgebracht, so einhellig wurde er von den eben­falls nach New York gereisten Parteien El Salvadors abgelehnt. Wen wundert’s.


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