Jahrzehnte des Totschweigens
Indigene Kultur der Nahuat-Pipil in El Salvador erlebt nach langen Jahren der Unterdrückung ihre Wiederbelebung
Der Durst nach dem duftenden Gebräu ist unstillbar -– von Washington über Madrid bis zum kaiserlichen Wien. El Salvador, das kleine Land in Mittelamerika, richtet deshalb Ende des 19. Jahrhunderts seine Wirtschaft komplett auf den Export von Kaffee aus. Einige wenige Familienclans reißen dabei 90 Prozent des Landbesitzes an sich. Den Ureinwohner_innen wird damit die Grundlage der Subsistenzwirtschaft geraubt und sie sind gezwungen, auf den Kaffeeplantagen zu schuften. Sie verarmen immer mehr, bis es schließlich zum gemeinsamen Putschversuch von tausenden indigenen Landarbeitern und der kommunistischen Partei kommt. Das Militär schlägt die Revolte nach nur drei Tagen nieder. Doch trotz des klaren Sieges will die Staatsmacht ein Exempel statuieren. So kommt es zu jenem Genozid, der später als La Matanza („die Schlächterei“) in die Historie eingeht. An den Orten des Aufstandes werden alle Männer über 18 Jahren hingerichtet, viele Frauen vergewaltigt. Ebenso werden Kinder ermordet, die das indigene Nahuat sprechen oder traditionelle Kleidung tragen. Es ist nur eines von vielen blutigen Kapiteln in der Geschichte El Salvadors.
Das Land ist etwas größer als Hessen und hat heute zirka sieben Millionen Einwohner_innen. Die Wirtschaft ist eng an die der USA gekoppelt. In die Schlagzeilen kommt El Salvador -– wenn überhaupt -– nur wegen der ausufernden Bandenkriminalität. 200.000 Salvadorianer_innen werden heute noch als Nahuat-Pipil im ethnischen Sinn eingestuft. Einer von ihnen ist Roberto Mendez. Seine Art zu sprechen verrät, dass der 22-Jährige schon einiges durchgemacht haben muss: „Schauen Sie uns an, wir sehen einfach anders aus als der Rest! Klein und dunkel, einfach anders. Nicht nur deshalb werden wir diskriminiert, sondern auch weil wir arm sind!“. Bei der letzten Volkszählung gaben weniger als 100 Personen Nahuat als Muttersprache an. Noch gibt es die Alten in den entlegenen Gemeinden, die sich trotz des jahrzehntelangen Verbotes an die Worte von früher erinnern. Doch nach und nach sterben sie. Ihre Kinder, Enkel_innen und Urenkel_innen beherrschen meist nur ein paar Phrasen auf Nahuat, Roberto ist hier keine Ausnahme. Setzt sich der Trend fort, wäre El Salvador nach Uruguay das zweite Land auf dem amerikanischen Festland, in dem keine indigene Sprache mehr gesprochen wird.
Seit der Jahrtausendwende gibt es deshalb Schul- und Kindergartenprojekte zur Erhaltung der Nahuat-Pipil-Kultur. Jorge Willer Patriz ist der Bürgermeister von Nahuizalco, einem verschlafenen Städtchen mit einem hohen Anteil an indigener Bevölkerung: „Seit einigen Jahren gibt es Festivals, Wochenend-Sprachkurse und ein Nahuat-Pipil-Museum. Wir als Gemeinde unterstützen das so gut es geht“. Man glaubt es dem gelernten Mediziner, er freut sich sichtlich darüber mit einem Reporter aus Österreich über das Thema zu sprechen: „Ich habe an einer privaten Universität studiert. Wenn früher jemand Indio zu mir gesagt hat, hat mich das sehr gestört. Heute bin ich stolz auf meine indigenen Wurzeln. Deshalb ist es mir auch ein Anliegen, dass unsere Jugendlichen lernen, wo wir herkommen. Denn auch heute noch schämen sich viele dafür – besonders wo doch so viele Moden aus den USA zu uns kommen. Sie sollen wissen, dass die Pipiles Praktiken pflegen, die sich vom Rest unterscheiden und dass man genau das respektieren muss.“ Neben Glaube, Sprache, Kleidung und Kunsthandwerk ist auch das traditionelle Essen ein wichtiges Element, das es zu erhalten gilt. Darüber hinaus die Naturheilkunde und rituelle Maskentänze, die -– wie so oft auf dem amerikanischen Kontinent -– aus einer Verschmelzung von katholischen und indigenen Praktiken entstanden sind.
Auch nach den Schrecken des Bürgerkrieges in den 80er und 90er Jahren kommt der geschundene Kleinstaat nicht zur Ruhe.
Wegen der maras, extrem gewalttätigen Jugendbanden, die ganze Landstriche in Geiselhaft halten, ist El Salvador heute eines der gefährlichsten Länder der Welt. Könnte die hohe Gewaltbereitschaft ein Resultat davon sein, dass man einer ganzen Gesellschaft die Wurzeln genommen hat? „Viele Menschen hier bei uns tun sich schwer damit, sich einzugliedern und sich zu orientieren. Die cosmovisión indígena (die indigene Weltsicht, Anm.) spricht ja davon, in Harmonie und Respekt mit allem Leben zu sein -– also genau das Gegenteil von dem, was wir hier jeden Tag erleben müssen“, antwortet Flor Elena López nachdenklich auf diese Hypothese. Die quirlige Frau Mitte 20 engagiert sich für ACISAM, einer Organisation, die einst zur Betreuung von Bürgerkriegsopfern gegründet wurde. Heute ist die Erhaltung der Nahuat-Pipil-Kultur im Fokus. „Die Jahrzehnte des Totschweigens des Massakers von 1932 wurden mit unserem Kulturstammtisch endlich gebrochen. Die Leute interessieren sich wieder mehr für die Geschichte. Und die indigenen Aktivisten und Aktivistinnen vernetzen sich immer mehr!“, freut sich Flor Elena López.
Viele Nahuat-Pipil erzählen unterdessen von der alltäglichen Herabsetzung. So auch Doña Wilma, aus einem Dörfchen im Nordwesten des Landes, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Sie spricht langsam, scheint jedes Wort abzuwägen: „Ich finde eigentlich nicht, dass sich das verbessert hat. Wir sind immer noch arm und das ist die schlimmste Form der Diskriminierung. Das was mein Mann verdient, brauchen wir für den täglichen Einkauf. Sonst bleibt nichts übrig. Und das geht nicht nur mir so -– als Armer ist man immer unten durch!“. Die Gesellschaft in Mittelamerika ist nach wie vor tief im Klassendenken verankert, die Indigenen sind in der Regel ganz unten. Die Mitte-Links-Regierung in der Hauptstadt San Salvador hat die Rechte der Nahuat-Pipil inzwischen anerkannt. Auf finanzielle Unterstützung hofft man hingegen vergeblich. Deshalb werden die Nahuat-Initiativen von entwicklungspolitischen Organisationen finanziell gefördert. So sollen die Aufarbeitung der Geschichte und das Bewusstsein für das Thema gestärkt werden.
Die oppositionelle Alianza Republicana Nacionalista gedenkt hingegen auch heute noch des „Retters des Vaterlandes“, Maximiliano Hernández Martínez. Der General war 1932 maßgeblich für La Matanza verantwortlich. So zynisch es klingen mag: Die Großgrundbesitzer haben ganze Arbeit geleistet, alles Indigene in El Salvador zu vernichten. Ganz ist es ihnen zum Glück nicht gelungen. Auch viele Ortsnamen zeugen mit ihren zungenbrecherischen Namen noch heute von den Ursprüngen. Jetzt gilt es zu verhindern, dass die Schilder am Eingang von „Ahuachapán“, „Chalchuapa“ oder „Texistepeque“ zu den letzten Überbleibseln einer uralten Kultur werden. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit.