Brasilien | Nummer 354 - Dezember 2003

„Die Rentenpolitik ist ein heißes Pflaster“

Interview mit dem brasilianischen Staatssekretär für Soziale Sicherheit, Helmut Schwarzer

Dass Reformen der sozialen Sicherungssysteme in Zeiten leerer Kassen kaum geeignet sind, die Popularität von Politikern in der Bevölkerung zu erhöhen, zeigt sich nicht nur an den Protesten in Italien, Frankreich und Deutschland. Auch die Regierung von Präsident Luis Inácio Lula da Silva (Arbeiterpartei PT) provozierte Mitte des Jahres mit ihrem Gesetzesentwurf zur Reform des Rentensystems für öffentlich Beschäftigte Massendemonstrationen und harsche Kritik aus den eigenen Reihen. Dabei hat der Präsident, dessen pragmatischer Umgang mit Unternehmern und externen Gläubigern von der Basis kritisch verfolgt wird, ein Erfolgserlebnis dringend nötig. Steht dieses kurz bevor? Mitte Dezember wird über das Reformprojekt im Senat entschieden. Zuvor ergaben im Abgeordnetenhaus bereits zwei Abstimmungen über den Reformvorschlag eine für eine Verfassungsänderung notwendige 60 Prozent-Mehrheit. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit Helmut Schwarzer, Staatssekretär der PT für Soziale Sicherheit im Ministerium für Arbeit und Soziales, über den aktuellen Stand, wesentliche Inhalte und Perspektiven der Reform.

Katja Hujo, Lurissa Mühlich

Herr Schwarzer, was sind die Kernelemente der brasilianischen Rentenreform, die Mitte Dezember verabschiedet werden soll?

In Lulas Wahlprogramm steht klipp und klar, worauf wir aus sind: Wir wollen die ungleiche Behandlung in der Rentenversicherung abschaffen. Für alle Arbeiter muss das gleiche Anrecht auf eine Alterssicherung gelten und es darf keine teuren Privilegien mehr geben in einem Land, in dem 34 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze leben. Die allgemeine Sozialversicherung muss gestärkt und tragfähig gemacht werden, glaubwürdig sein und die Bürger überzeugen. Starke Umverteilungselementen sollen durch Steuern finanziert werden. Die heutigen Versorgungssysteme der Beamten stellen diese Perspektive grundlegend in Frage.
Alle Indikatoren zeigen, dass die Beamten in Brasilien eher unter den 30 Prozent Bessergestellten als unter den 50 Prozent Schlechtergestellten zu finden sind. Auch sind die meisten brasilianischen linken Intellektuellen verbeamtet. Daher ist diese harte Einsicht für sie äußerst schwer zu verdauen, weshalb wir zum Beispiel an den Universitäten fast ausschließlich scharf kritisiert werden.

Was sind die konkreten Eckpunkte der Reform?

Erstens werden wir eine Obergrenze für die Leis-tungen einführen. Die einzelnen oder mit anderen addierten Einkünfte aus staatlichen Quellen (Pensionen, Renten, Gehälter, etc.) sollen nicht den Lohn des Richters des Obersten Gerichtshofes übersteigen. Damit werden endlich die Superrenten und -gehälter gekappt. Zweitens ändern wir die Berechnungsformel der Beamtenpension: Sie soll nicht mehr dem letzten Bruttolohn entsprechen, sondern dem Durchschnitt der lebenslangen Einkünfte des Versicherten. Drittens ist uns das lächerlich niedrige Mindestrentenalter für Beamte – heute 53 Jahre für Männer und 48 Jahre für Frauen nach 35 Beitragsjahren für Männer und 30 für Frauen – ein Dorn im Auge. Diejenigen Beamten, die vor dem Alter 60/55 (Männer/Frauen) in den Ruhestand getreten sind, müssen nötigenfalls harte Abschläge zahlen.Wir schließen zudem die Möglichkeit aus, dass eine Frührente nach nur 30/25 Beitragsjahren erworben werden kann und geben finanzielle Anreize zur Fortführung der Beschäftigung im öffentlichen Dienst nach der Erfüllung der Pensionierungskriterien. Viertens wird es Zusatzsicherungsfonds für zukünftige Beamte geben, wie in der Privatwirtschaft. Fünftens werden die sich im Ruhestand befindlichen Beamten, die ihre Pensionen unter großzügigen Regeln erworben haben, ab einer gewissen Einkommensschwelle zu einem Solidaritätsbeitrag herangezogen. Denn wir denken, dass Solidarität auch die gerechte Verteilung der Kosten der Reform auf die verschiedenen Generationen bedeutet.

Die Reform betrifft zunächst nur die Beschäftigten im öffentlichen Sektor, in dem lediglich 6,5 Prozent der aktiven Arbeitenden beschäftigt sind. Warum fängt die Regierung dort an?

Weil dieses System heute schon extrem teuer und unfair ist – die Gründe habe ich gerade ausgeführt. Wir geben zum Beispiel auf Bundesebene für die Versorgung von knapp einer Millionen pensionierter Beamter bereits so viel aus wie das Gesundheitsministerium für das Allgemeine Universelle Gesundheitssystem SUS, das etwa 90 Millionen Menschen der ärmeren Bevölkerungsschichten versorgt. Es stockt einem regelrecht der Atem, wenn man sieht, wie ungerecht die Sozialausgaben der brasilianischen Regierung verteilt sind.

Man wirft Ihnen vor, die angestrebte Reform unterscheide sich nicht substanziell von der Politik Cardosos, die von der Arbeiterpartei PT immer blo-ckiert wurde. Wie grenzen sie sich von ihrem Vorgänger ab?

Es gab während der Regierungszeit Cardosos nur 1997 einen Versuch, in Brasilien eine Privatisierung des Rentensystems durchzuführen. Die ehemaligen Sozialversicherungssekretäre haben sich damals gegen den Vorschlag geäußert. In der Arbeitsunfallversicherung haben meine Vorgänger zudem eine Teilprivatisierung vorbereitet, von der wir uns jedoch entschieden abwenden. Außerdem hat die Rentenreform von Cardoso 1998 die Obergrenze des allgemeinen Systems an die Inflation angepasst, was die Rolle der staatlichen Rente als Teil des gesamten Alterseinkommens in der Zukunft verringert. Wir schlagen deshalb vor – im krassen Unterschied auch zum übrigen Lateinamerika –, dass wir nicht nur das staatliche Umlageverfahren beibehalten wollen, sondern die Obergrenze für Leis-tungen und Beiträge, die so genannte Beitragsbemessungsgrenze, von heute 1.869 Reais (ca. 600 US-Dollar) auf 2.400 Reais (ca. 800 US-Dollar) anheben.

Die Weltbank hat ja Anfang der 90er Jahre einen beträchtlichen Einfluss auf Transformations- und Schwellenländer ausgeübt und empfohlen, eine Rentenprivatisierung nach chilenischem Modell durchzuführen (siehe Kasten). Hat sich die Weltbank schon bei Ihnen gemeldet?

Ja, die Weltbank hat sich bei uns gemeldet. Da haben wir eine klare Grenze gezogen. Wir haben der Weltbank vom ersten Gespräch an deutlich gemacht, dass wir die Konzepte, die anderswo in Lateinamerika und Osteuropa Anwendung gefunden haben, zutiefst ablehnen. Und bezüglich des Internationalen Währungsfonds hat es bei den regelmäßigen Konsultationen zum soeben erneuerten Abkommen genauso wenig Einmischung gegeben wie im Falle der Weltbank. Daher kann ich nur schmunzeln, wenn ich bei Protesten gegen die Reform die abgedroschenen Phrasen aus den Lautsprechern höre, wir seien der „Fußabstreifer“ der Weltbank und des IWF.

Nachdem die Rentenreform im August in erster Lesung im Abgeordnetenhaus verabschiedet wurde, muss die Gesetzesvorlage noch zwei weitere Abstimmungsrunden im Senat durchlaufen. Ist es realistisch, dass die Rentenreform noch in diesem Jahr verabschiedet wird und in Kraft tritt?

Ich bin immer noch optimistisch, dass wir das bis Ende November schaffen. Die Abgeordneten und Senatoren sind – leider – sehr genau gewesen und haben viele Aspekte, die eigentlich in einem normalen Gesetz stehen sollten, im Verfassungstext verankert. Die übergeordnete Verfassung setzt anders lautende Gesetze bezüglich der Renten sofort außer Kraft und die neuen Regeln, bis auf wenige Ausnahmen, finden sofortige Anwendung. Trotzdem müssen wir das bisherige Beamtenpensionsgesetz völlig neu schreiben. Und wegen der sofortigen Anwendung vieler Regeln, wie der Kappung der Superrenten und -löhne sowie der Leistungskumulierungen, sprinten wir momentan und stehen unter großem Zeitdruck, um die Kappung auch technisch durchführen zu können. Das ist alles Pionierarbeit.

Stimmt Sie der derzeitige Reformprozess optimistisch, was den Handlungsspielraum der Regierung Lula für zukünftige Sozialreformen angeht?

Ja, eigentlich schon. Denn zusammen mit einer bislang erfolgreichen Stabilitätspolitik öffnen wir allmählich den Raum für die Umverteilungen, die Brasilien so dringend braucht. Die Frustration vieler Anhänger Lulas, die dachten, es könnten Umwälzungen von einem Tag auf den anderen stattfinden, ist nur teilweise verständlich. Die meisten Leute sehen nicht, dass wir mit kleinen Schritten eigentlich schon sehr viel gemacht haben. Wir haben beispielsweise über das ganze Jahr hinweg daran gearbeitet, das Rentensystem für Landwirte, das einen enormen Beitrag zur Armutsbekämpfung darstellt, zu festigen und weiterzuentwickeln.
In wenigen Tagen werden die ersten „viergliedrigen Räte” der Sozialversicherung auf lokaler Ebene wieder geöffnet. Cardosos Regierung hat diese Partizipationsmöglichkeit der Sozialpartner und der Rentner per Dekret 1999 regelrecht ausgelöscht. Wir bauen diese Instrumente nun wieder auf, die bei der Überwachung und Gestaltung der Sozialversicherungspolitik auf lokaler Ebene sehr wichtig sein werden. Wir haben in diesem Jahr von Januar bis Oktober 87 Personen verhaften lassen, weil sie die Sozialversicherung um hohe Summen betrogen haben. Man zähle einmal nach, wie viele Personen in den 1990er Jahren wegen Vergehen gegen die Sozialversicherung in Brasilien bestraft wurden.

Sie haben einmal geschrieben, dass die brasilianische Wählerschaft Rentenreformen, auch wenn sie mit Leistungseinschnitten verbunden sind, sofort sanktionieren würde. Wird es diesmal anders sein?

Wer weiß? Im Fall dieser Reform handelt es sich um eine eher kleine Wählergruppe, die allerdings eine starke Stimme hat. Vielleicht sind die Chancen gesunken, dass die PT in den nächsten Jahren Kommunal- oder Landeswahlen in Brasília und Rio de Janeiro, wo viele Beamte tätig sind, gewinnt. Die Rentenpolitik ist ein heißes Pflaster, und jeder Fehler bringt hohe Kosten mit sich. Wir müssen sehr vorsichtig sein und konkrete Ergebnisse vorweisen können.

Brasilien geht einen anderen Weg

Das größte Land Lateinamerikas folgt in Sachen Rentenreform nicht dem regionalen Trend einer Privatisierung der Alterssicherung nach chilenischem Vorbild. Populär gemacht wurde das dort unter Diktator Pinochet eingeführte Modell durch die Weltbank. Sie hatte Anfang der 1990er Jahre zahlreichen Entwicklungs- und Transformationsländern dazu geraten, die Rentenbeiträge der aktiv Arbeitenden nicht im Rahmen eines Umlageverfahrens gleich wieder an die RentnerInnen auszuschütten, sondern in privat verwalteten Pensionsfonds anzusparen und auf dem Kapitalmarkt zu inves-tieren. Der Staat sollte sich hingegen auf Regulierungsaufgaben und Armutsbekämpfung konzentrieren.
In den letzten zehn Jahren haben elf lateinamerikanische Länder einen solchen Systemwechsel vollzogen, ihr staatliches Umlageverfahren durch ein privates Kapitaldeckungsverfahren ergänzt oder ersetzt und dabei auf positive Wachstumsimpulse und das Wohlwollen der internationalen Finanzmärkte spekuliert. Dass diese Strategie beträchtliche Risiken für Staat und Versicherte birgt, lässt sich gegenwärtig in Argentinien studieren: Erst riss die Reform ein Loch in die öffentlichen Rentenkassen und erhöhte die Staatsverschuldung, da laufende Rentenzahlungen weiter finanziert werden mussten, während die Beiträge größtenteils in den Finanzsektor flossen. Dann wurde das angesparte Vermögen der Versicherten durch die Währungsabwertung, den Staatsbankrott und die Wirtschaftskrise drastisch entwertet.

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