„Die Schutzblase Mexiko-Stadt hat es nie gegeben“
Interview mit Heriberto Paredes von der autonomen Nachrichtenagentur SubVersiones
Wie kam es zur Gründung der Agentur und was unterscheidet sie von anderen freien Medien?
SubVersiones gibt es seit fünf Jahren. Entstanden ist das Kollektiv aus unserer Arbeit in der Gemeinde San Juan Copala, in Oaxaca, die wir mit Öffentlichkeitsarbeit bei ihrem Kampf für Autonomie und gegen die Paramilitärs unterstützten (siehe LN 432). Wir stellten damals recht bald fest, dass wir die Komplexität der Situation auf diese Weise nicht wirklich vermitteln konnten, und dass wir außerdem zu nah an internen Auseinandersetzungen waren. Deswegen sind wir einen Schritt zurückgegangen und haben beschlossen, ein Kommunikationsprojekt ins Leben zu rufen, welches systematische Recherchen durchführt und tiefgehende, längerfristige Reportagen über die sozialen Kämpfe erarbeitet.
Aus diesem Ansatz haben sich drei zentrale Achsen unserer Arbeit ergeben. Erstens publizieren wir nur eigene Materialien und vertreten einen eigenen, kollektiv erarbeiteten Standpunkt. Zweitens ist die Ausbildung von neuen, jungen Journalisten und Journalistinnen und das Teilen unserer Arbeit und unserer Erfahrungen für uns zentral. Und drittens sind die Netzwerke mit anderen Medien und den sozialen Bewegungen sehr wichtig – wir sind eng vernetzt, und gleichzeitig vernetzen sich die Bewegungen über uns.
Seit unserer Gründung sind wir immer professioneller und auch immer größer geworden. Im engsten Zirkel arbeiten jetzt 16 Personen, dazu kommt noch ein zweiter, größerer Kreis von Menschen, die regelmäßig Artikel, Bilder und Ideen beisteuern und sich auf viele Arten einbringen, und ein dritter Kreis von Unterstützern aus ganz Lateinamerika. Unsere Homepage, auf der wir Artikel, Fotos und kleine Videodokumentationen veröffentlichen, hat mittlerweile täglich 40.000 Besucher aus aller Welt. Und im Moment suchen wir gerade nach Wegen, unsere Arbeit auch all den Personen zugänglich zu machen, die keine Internetverbindung haben. Wenn wir die Ressourcen dafür auftreiben können, wollen wir bald auch in indigenen Sprachen publizieren.
Welche Rolle spielt euer Projekt denn innerhalb der politischen und der Medienlandschaft Mexikos? Tragt ihr und andere freie Medien zu ihrer schleichenden Demokratisierung bei?
Die Antwort darauf hat glaube ich zwei Dimensionen. Ein erster wichtiger Punkt hat damit zu tun, dass sich viele der freien Medien in Mexiko eng am Modell von indymedia orientieren. Das Problem dieses Modells einer offenen Plattform ist natürlich, dass viele Menschen viele ungefilterte Informationen veröffentlichen, die oft nicht ausreichend recherchiert sind und bei denen nicht darauf geachtet wird, wem sie schaden oder nutzen. Auf diese Weise, denke ich, haben wir den Mainstreammedien wenig entgegenzusetzen. Was können wir dann tun? Wir können natürlich nicht wie die großen Medienhäuser 20 Artikel täglich veröffentlichen. Aber wir können dem Mangel an ernsthafter, tiefgehender Recherche entgegentreten, indem wir, statt bloß über diese oder jene Mobilisierung zu schreiben, nach der Geschichte, den Gründen und den Zielen dieser Mobilisierung fragen. Und das können wir machen, weil wir die Instrumente dafür haben, aber vor allem, weil wir unabhängig sind. Wir müssen keiner Redaktion und keinem Verleger Rechenschaft ablegen.
Der zweite Teil der Antwort zielt auf die Frage der Demokratisierung der Medien ab. Wir halten nichts von diesem Ansatz, für Mexiko ist dieses Modell, bei dem der Staat – wie beispielsweise in Argentinien – einen Teil des Budgets in community-Medien steckt, keine Option. Denn hier wurde ja das Medienmonopol in keinster Weise angetastet. Wir wollen keine Brotkrumen, wir wollen nicht wie #yosoy132 (studentische Protestbewegung von 2012, Anm. d. Red.) enden, denen man ihr Programm beim TV-Sender Televisa gibt, und wir wollen auch keine Kolumne in irgendeiner Zeitung haben. Wir wollen unseren Teil dazu beitragen, dass das, was wir als „Kommunikation“ bezeichnen, anders gestaltet wird. Für uns geht es um eine soziale Praxis, welche einen Paradigmenwechsel und auch die Konfrontation einschließt. Und dabei ist es gerade unsere Unabhängigkeit, die es uns erlaubt, dorthin zu kommen, wo den großen Medien der Zutritt häufig versagt ist. Deswegen sind wir auch sehr präsent, die freien Medien sind stärker als früher. Themen wie das der autodefensas (Selbstverteidigungsgruppen, Anm. d. Red.) in Michoacán haben wir freie Medien auf die Tagesordnung gesetzt, nicht dir großen TV-Anstalten und auch nicht die linken Zeitungen.
Ende November wurde das Haus der kritischen, unabhängigen Journalistin Gloria Muñoz in Mexiko-Stadt von Unbekannten durchsucht und verwüstet, du selbst hast vor einigen Wochen zum wiederholten Mal Morddrohungen erhalten. Von wem gehen diese Einschüchterungsversuche deiner Meinung nach aus?
Die letzte Morddrohung, die ich erhalten habe, kam nicht telefonisch, sondern direkt auf der Straße. Aber das ist bloß die Zuspitzung von einer ganzen Serie von Drohungen. Ich kann nicht sagen, welche Personen uns derzeit konkret drohen, aber wir haben in letzter Zeit vor allem in Michoacán und Guerrero gearbeitet. In diesen Bundesstaaten ist es nicht so, dass hier die Regierung arbeitet, dort die Kartelle, und in der Mitte sind die sozialen Organisationen. Stattdessen herrscht ein einziges Chaos, ein Netzwerk von Korruption und Gewalt, welches fast alle Akteure einschließt. Je weiter unsere Recherchen dort voran kommen, je besser unsere Arbeit ist und je mehr Leute uns beachten, desto größer wird auch das Risiko für uns. Wenn man so will sind Morddrohungen ein Indikator für die Wichtigkeit unserer Arbeit.
Die anderen linken Medien, die ebenfalls bedroht und angegriffen wurden, kommen aus verschiedenen Kontexten, und es ist wichtig, das bei aller Ähnlichkeit nicht zu vergessen. Im Fall von Gloria Muñoz und den anderen Kolleginnen von der elektronischen Zeitschrift Desinformémonos, die Opfer von Einschüchterungsversuchen wurden, scheinen die Fäden ebenfalls in Guerrero zusammenzulaufen. Die Angriffe und Sabotageakte gegen die universitären Radiosender Regeneración Radio und Kehuelga hingegen gehen auf das Konto der mit der Regierungspartei PRI und dem Establishment der Universität verbundenen Schlägertrupps.
Also gehen die Aggressionen sowohl von staatlichen als auch nichtstaatlichen Akteuren aus?
Um zu verstehen, was da vor sich geht, darf man den Staat und die Kartelle eben nicht als zwei getrennte Akteure betrachten, sondern muss das Gebilde als ein Ganzes denken, welches auf verschiedene Arten und in verschiedenen Feldern operiert. Das ist das, was wir den kriminellen Staat nennen. Es geht nicht so sehr um den Staat im klassischen Sinn. Ja, der Staat zensiert manchmal, aber in Wirklichkeit hat er heutzutage doch viel weniger Möglichkeiten, die Information zu blockieren. Die Herrschenden in Mexiko haben andere Instrumente, um uns zum Schweigen zu bringen.
Im Moment befinden wir uns in einer sehr riskanten Situation. Nicht nur wegen der massiven Drohungen, die in den letzten drei Monaten gegen viele uns nahestehende Medien ausgesprochen wurden, sondern vor allem, weil wir unsere Arbeit in keinster Weise zurückschrauben. Was für uns leider ziemlich deutlich sichtbar wird, ist, dass die unabhängigen Medien in den nächsten Monaten sehr starke Anfeindungen erleben werden. Denn in diesem Moment gibt es für uns nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir knicken ein und halten den Mund oder wir arbeiten weiter und riskieren, dass sie uns noch härter attackieren. Denn es gibt nichts und niemanden, der uns irgendwie garantieren könnte, dass sie uns nicht umbringen oder entführen. Wenn Personen oder Kartelle uns zum Schweigen bringen wollen, dann machen sie das, völlig ohne Probleme.
Mexiko-Stadt erschien lange Zeit als eine Insel, auf der verfolgte Journalist*innen und soziale Aktivist*innen sich sicher fühlen konnten. Das hat sich schlagartig geändert, als im Juli dieses Jahres der Fotograf Rubén Espinosa und vier weitere Menschen in einer Wohnung im Mittelklassebezirk Narvarte ermordet wurden. Woraus erklärt sich dieser Einbruch der Gewalt in der Hauptstadt?
Meiner Meinung nach hat es eher eine Sichtbarmachung von all dem gegeben, was vorher auch schon in Mexiko-Stadt geschah, worüber aber nicht oder kaum berichtet wurde. Und das ist so, weil es nun auch das Gremium getroffen hat, welches solche Dinge sichtbar macht: die Medien. Verschiedene freie Medien haben immer wieder auf die Aufteilung der Stadt unter den Kartellen hingewiesen, auf die Komplizenschaft der Stadtregierung, die einige Akteure verfolgt, während sie andere unterstützt.
Als wir im Jahr 2012 einmal eine Nacht lang die Vorkommnisse in Mexiko-Stadt genauer beobachteten, zählten wir 24 Morde, die direkt mit der Organisierten Kriminalität zu tun hatten! Die Zeitungen haben über diese Morde und die Gewalt wenig oder gar nicht berichtet. Jetzt, nach den Morden in Narvarte, wird all dies zur Alltäglichkeit. Jetzt hängen auch im Distrito Federal morgens gefolterte und ermordete Menschen an den Autobahnbrücken. Aber in Wirklichkeit gab es das auch vorher schon, bloß gab es zusätzlich eine Art Selbstzensur, um diese Sachen nicht öffentlich zu machen. Natürlich hat die Tatsache, dass ein Journalist, eine soziale Aktivistin und drei weitere Personen inmitten eines der wichtigsten Mittelklasseviertel der Stadt brutal ermordet wurden, die Reflektoren auf das Problem gerichtet. Und jetzt sehen wir, dass es diese angebliche Blase, in deren Innern wir scheinbar sicher waren, nie gegeben hat. Es gibt keinen Schutz in Mexiko-Stadt.
Wie stellt sich die Situation denn jetzt, ein halbes Jahr nach den Morden in der Narvarte, für die Medienvertreter*innen dar? Und welche Strategien entwickelt ihr in dieser Situation?
Zunächst einmal hat das reelle Anwachsen der Drohungen und der Einschüchterungsversuche ja auch damit zu tun, dass Journalisten, Fotografen und Herausgeber gemerkt haben, dass sie hier tatsächlich nicht mehr sicher sind – und dass sie gerade deswegen mit der Logik der Autozensur brechen müssen. Der Mord an Rubén stellt einen fundamentalen Bruch dar. Es gab natürlich schon vorher Attacken und Drohungen, die eine große Unsicherheit bei dem Gremium hervorgerufen hatten, doch dieser Mord hat unter den Journalisten Empörung, vor allem aber Angst ausgelöst. Denn jetzt fühlen sie sich sehr viel verletzlicher. Gleichzeitig aber hat der Mord zu einer Entscheidung der Online- und Printmedien geführt, nicht weiter ihr „Schutzgeld“ in Form von Schweigen zu zahlen. Denn jetzt ist klar: Entweder wir reden oder wir schweigen in jeder Hinsicht.
Seitdem gibt es sehr interessante Phänomene zu beobachten. So wurde beispielsweise ein Kollektiv namens Fotoreporteros MX gegründet, in dem sich Fotografen von ganz verschiedenen Medien organisiert haben, um koordiniert gegen die Aggressionen gegen die Presse vorzugehen, um effektiver Anklage erheben zu können, und auch, um ihre Arbeit jenseits von den großen Zeitungen veröffentlichen zu können. Sehr wichtig für uns ist auch die Arbeit von Article19, einer britischen Organisation, welche sich für die Verteidigung der Meinungsfreiheit einsetzt. Über ihr Büro in Mexiko haben sie den Aufbau von Netzwerken unter Journalisten ermöglicht, Verbindungen zu Anwälten hergestellt und Aggressionen gegen uns öffentlich gemacht. Diese Arbeit ist sehr wichtig, denn natürlich müssen wir Journalisten uns jenseits von der Frage, welchem Medium wir angehören, zusammensetzen und uns fragen: Was machen wir angesichts dieser Anfeindungen? Was tun, wenn wieder einer unserer compañeros oder compañeras umgebracht wird? Natürlich hoffe ich, dass es nicht noch einmal zu einem solchen Angriff gegen Journalisten in Mexiko-Stadt kommt, aber wenn doch, dann würde das wohl sehr viel höhere Wellen schlagen.
Heriberto Paredes
ist Gründungsmitglied der autonomen Nachrichtenagentur SubVersiones. Als Fotograf hat er zu zahlreichen Themen abseits des Mainstreams gearbeitet und mehrmals Morddrohungen erhalten. Den Lateinamerika Nachrichten hat er immer wieder Bilder zur Verfügung gestellt.
www.subversiones.org