Literatur | Nummer 390 - Dezember 2006

Die selbstverständliche Körperlichkeit

Der brasilianische Künstler Ricardo Domeneck will den Menschen ihre Körper zurückgeben

Er dichtet, dreht Videos, macht Performances und organisiert Parties. Seit 2004 lebt der Brasilianer in Berlin, für ihn die beste Stadt Europas. Bei seiner Arbeit gibt er viel von sich selbst Preis.

Dinah Stratenwerth

Auf dem Schreibtisch steht ein Glas Nutella zwischen Videokamera und Laptop. Es ist kühl in dem großen, spärlich eingerichteten Raum und dämmrig, weil er im Erdgeschoss liegt. Ricardo Domeneck serviert heißen Kräutertee mit Zucker.
Süß, kalt, dunkel – das Gehirn wandelt in Worte um, was ihm die Nerven signalisieren. Für den Künstler ist diese Selbstverständlichkeit Grundlage seines Schaffens.
Als Dichter hatte er in Brasilien angefangen, heute mischt er in Berlin Worte mit Performance und Videos. „Ich will den Menschen ihre Körper zurückgeben“, erklärt er. Das hört sich dann etwa so an: Die zur Muscheln gewölbten Hände nähern sich/ dem Gesicht in dem Moment/ als dieses sich zu ihnen hinabbeugt/ ohne dass sie sich unterwegs/ verpassen
Die Koordination von Muskeln, Nerven und Sinnesorganen fasziniert, aber kaum einer nimmt sie vor dem Waschbecken bewusst wahr. „Seit der Aufklärung haben die Menschen vergessen, dass sie einen Körper haben“, sagt Ricardo Domeneck. Deswegen macht er ihn zum Thema.
Seine Statur selbst ist unauffällig. Er ist dünn, fast zart, und nichts an ihm ist groß. Der Brasilianer macht kleine, schnelle Schritte und spärliche Gesten mit den Händen. Schräg stehende Augen unter spitzen Augenbrauen geben seinem Gesicht etwas von dem Fabelwesen Faun. Das Größte an ihm ist seine Stimme, sie hat einen tiefen Klang, der in den Ohren angenehm vibriert.
Ricardo Domeneck wählt seine Worte mit Bedacht und formt sie sorgfältig. Sein Akzent liegt irgendwo zwischen nasalem Brasilianisch und gutturalem Englisch. Wenn ihm ein deutsches Wort nicht gleich einfällt, benutzt er das englische. Denn eine Station auf seinem Weg von Brasilien nach Deutschland waren die USA, wo er mit 16 ein High School Jahr verbrachte. Das war der erste Ausbruch aus der brasilianischen Kleinstadt, in der er 1977 geboren wurde und aufwuchs. Er war „ein Außerirdscher“: Schon früh wusste er, dass er schwul ist, und bereits mit 13 Jahren begann er Gedichte zu schreiben. „Das ist ein Klischee, aber alle fangen früh an“, vermutet Ricardo Domeneck und lächelt, den Kopf schief gelegt. Seine ersten Werke waren Schulzeichnungen, die er zu kleinen Geschichten zusammenfügte, so wie er heute Video und Dichtung verbindet.
Er hatte Freunde, war nicht isoliert, aber passte einfach nicht in die Welt von der Kleinstadt Bebedouro in der Nähe von São Paulo. Er wollte kein „kleines Leben“, wie es sich seine Freunde schon mit Anfang zwanzig aufbauten: Familie, Job, Haus.
Deshalb waren die USA für ihn eine Befreiung, auch wenn er im konservativen Lousianna landete, wo er auch nicht sagen konnte, dass er Männer liebte. Neben gutem Literaturunterricht an der High School schloss er in den USA Freundschaft mit einem Deutschen, der in derselben Familie zu Gast war wie er. Durch ihn lernte er auf einer Europareise Deutschland kennen.
Dann folgten São Paulo, ein nicht abgeschlossenes Philosophiestudium und eine „intensive Ausbildung“ in der Literaturbibliothek. „In dieser Zeit habe ich nicht geschrieben, nur gelesen, weil ich meine eigene Stimme nicht mehr fand“, erinnert er sich. Literaturwissenschaft zu studieren kam für ihn nicht in Frage, weil er den historischen Ansatz der Lehre nicht mochte. Er wollte die Texte verstehen, anstatt sie in Schulen und Epochen zu zwängen: „Die Texte müssen dabei immer zu kleine Klamotten tragen“, findet er.
So suchte sich Ricardo Domeneck eine neue Herausforderungen. Er fand sie in einer Gruppe StudentInnen, die sich jeden Mittwoch trafen, um Stücke von Brecht zu lesen. Zu der Leserunde stieß ein Regisseur, und inspiriert von Brecht erarbeiteten die SchauspielerInnen ein Theaterstück. Domeneck sollte eigentlich die improvisierten oder übernommenen Texte zusammenführen, aber schließlich spielte er auch mit. Sie wählten verschiedene Orte für die Aufführungen, weil der Regisseur meinte, dass „Theater das Theater verlassen muss“. Für den Brasilianer aus dem provinziellen Bebedouro war das eine wichtige Erkenntnis: Sprache, auch Dichtung, ist nicht abstrakt, nicht zu trennen von dem Kontext, in dem sie entsteht und aufgeführt wird.

Melodien, die Grenzen auflösen

Vielleicht ist deswegen auch auf dem Video, das Ricardo Domeneck zu seinen Gedichten zeigt, sein Zimmer zu sehen: Durch das geöffnete Fenster blicken die ZuschauerInnen in die leuchtenden Blätter des Baumes vor dem Fenster, darunter steht der Künstler im Gegenlicht. Er versetzt sein Publikum in den Raum, in dem die Worte entstanden, die er vorliest. Bilder und Text sind gleich wichtig, betont er, weder sollen seine Videos die Gedichte illustrieren, noch will er mit seinen Worten die Bilder erklären.
Ricardo Domeneck gibt den Versen eine neue Melodie, irgendwo zwischen deutsch, englisch und portugiesisch, spielt mit Lautstärke und Geschwindigkeit. Mit der Hand drückt er sich die Kehle zu und klingt, als müsse er gleich weinen. Ein Tonfall, der Gänsehaut verursacht, physisch traurig macht, der Körper macht sich bemerkbar, das wollte er ja erreichen. Um den ZuschauerInnen ihre Körperlichkeit bewusst zu machen, setzt er die seine ein. „Ich gebe mich Preis, das ist etwas sehr Persönliches, als würde ich mich nackt ausziehen“, beschreibt er es.
(..) der öffentliche Körper/ den ich als Bühne/ ausstelle Frucht/ der Frucht/ des Absenders/ das Innere in der Ferne/ der Haut (…)
Minutenlang atmet er ins Mikrofon, wird schneller, während er auf dem Video liegend, mit nacktem Oberkörper zu sehen ist, unter Wasser, atemlos. Als der Atem ins Mikrofon abbricht, taucht der Körper auf dem Video aus dem Wasser auf.
Eine erotische Szene? Oder ist sie eher beängstigend? „Meine Kunst ist offen“, sagt Domeneck, „Es gibt einen flow, aber keine festgelegte Narration. Und vieles spielt sich beim Zuhörer und Betrachter ab.“
In Brasilien hat er Texte für das Theaterprojekt geschrieben, aber nicht gedichtet. Zu seiner Stimme fand er erst zurück, als er zum zweiten Mal in Deutschland war. 2000 kam er nach München zu seinem Freund, den er in den USA kennen gelernt hatte. Die Erfahrung, ein Ausländer zu sein, überall außerhalb zu stehen, selbst in Brasilien, inspirierte ihn:
Überrascht, wie viel von der Welt/ mir nicht gehört, wie/ lustig, (wieder/ einmal) zu entdecken, dass ein neues Land/ nicht mit einem neuen Körper einhergeht
Doch obwohl er wieder schrieb, fand Ricardo Domeneck die bayerische Metropole schrecklich, weil er keinen Zugang zu den Menschen fand. Ganz anders ging es ihm in Berlin: „Hier war ich ein Ausländer, aber es war okay“, sagt er. Die Stadt gefällt ihm mehr als alle anderen europäischen Großstädte, denn „Berlin ist gleichzeitig provinziell und kosmopolitisch.“ 2004 zog der Brasilianer in die Hauptstadt, seit 2005 veranstaltet er jeden Mittwoch die Berlin Hilton Party in der Kulturbrauerei. Sie entstand als Party für seine Freunde: „Berlin Hilton ist eigentlich eine Verlängerung unseres Wohnzimmers“. Seitdem bewegt Ricardo Domeneck sich kaum noch aus seinem Kiez in Prenzlauer Berg hinaus. Hier sind seine Freunde, seine Party und seine Lieblingskneipe: Das „Wohnzimmer“.
Sein Geld verdient er mit der Kamera in der Hand und vor dem Laptop. Von der Kunst leben kann er nicht. Aber sein Job als Journalist für das Internetmagazin Flasher.com kommt seinen Interessen entgegen: Mit der Kamera interviewt er Künstler, vor allem Musiker. Viele davon sind schon bei seiner Party aufgetreten.
In seiner Kunst bedeutet Ricardo Domeneck die Arbeit mit dem Medium Video viel, denn seiner Ansicht nach interessiert sich niemand mehr für Dichtung: „Wenn die Lyrik überleben will, muss sie vom Papier wegkommen.“ Vielleicht, gibt er nachdenklich zu, sind die Videos auch eine Flucht vor Wörtern. Er will Grenzen auflösen, zwischen Bild und Wort, Geist und Körper. Dazu braucht er keine großen Metaphern und verschlungene Sätze: „Die Welt ist selbstverständlich, aber wir sind süchtig nach Symbolen,“, meint er, „ich lasse diese Symbole weg und rede über die Selbstverständlichkeiten“. Denn was die implizieren, das ist für ihn das Entscheidende. Sie werfen ihn immer wieder auf das Körperliche zurück:
Das plötzliche Straffwerden/ der Angelschnur vom Maul/ des Fisches zur Hand des Fischers: Angelhaken/Köder, Fisch
Aber dieses Bild findet/ keine Entsprechung in meinem Organismus und/ ich schaue erneut/ auf meine Füße


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