El Salvador | Nummer 463 - Januar 2013

„Die Straffreiheit war grenzenlos in El Salvador“

Gespräch mit den Menschenrechtsanwält_innen David Morales und Zaira Navas über Straffreiheit früher und heute in El Salvador

In El Salvador werden Menschenrechtsverletzungen bis heute kaum geahndet. Auch die Bilanz der Regierung unter Mauricio Funes und der linken Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) ist diesbezüglich durchwachsen. Die LN sprachen mit David Morales und Zaira Navas über die Gründe dafür, über die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit und Verhandlungen mit Jugendbanden.

Interview: Michael Krämer

El Salvador hatte über viele Jahre hinweg einen schlechten Ruf beim Thema Menschenrechte. Hat sich dieser seit dem Amtsantritt der Regierung von Präsident Mauricio Funes 2009 verbessert?
David Morales: Auf jeden Fall. Die rechten Vorgängerregierungen haben sich wenig um die Erfüllung der staatlichen Pflichten beim Schutz der Menschrechte gekümmert. Erstmals sieht nun eine Regierung in El Salvador ihre Einhaltung als eine Aufgabe des Staates an. Sie hat neue Institutionen geschaffen, um verschiedene Rechte durchzusetzen: Das Sekretariat für soziale Inklusion, den Beirat für Kindheit und Jugend und den Beirat zum Schutz der Migranten. Zum Selbstverständnis des Staates gehört es heute aber auch, die Rechte von Behinderten, Homosexuellen und Transsexuellen zu schützen.Der Staat verhält sich heute ganz anders gegenüber den Opfern von Menschenrechtsverletzungen. Dies gilt vor allem für die vielen Opfer von Menschenrechtsverletzungen aus den Jahren des Bürgerkriegs.

In El Salvador herrschte seit jeher Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen. Vertreter_innen von staatlichen Institutionen wie Polizei und Armee wurden für ihre Taten nicht zur Rechenschaft gezogen. Hat sich das geändert?
Morales: Die jahrzehntelange Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen wurde nicht mit dem Friedensabkommen von 1992 beendet. Schuld daran ist die Generalstaatsanwaltschaft, die nicht aktiv wird, um Straftaten zu untersuchen und diese vor Gericht zu bringen. Dies gilt sowohl für die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit als auch für aktuelle Delikte.

Hat sich denn bei der Staatsanwaltschaft in den letzten Jahren nichts verändert?
Morales: Leider nein. Das gilt für das gesamte Justizsystem. Nach dem Ende des Bürgerkriegs gab es weder eine Justizreform noch dringend notwendige Entlassungen von belastetem Personal. Durch eine Strafrechtsreform vor einigen Jahren wurde die Macht der Generalstaatsanwaltschaft sogar noch ausgeweitet. Wenn sie sich weigert, Ermittlungen einzuleiten, werden auch keine Verfahren eröffnet. Aufgrund der personellen Kontinuität kommen Menschenrechtsverletzungen nicht vor Gericht. Der Präsident hat keinerlei Einfluss auf die Justiz und kann da nichts ändern.

Straffreiheit hat auch mit der Fähigkeit des Staates zu tun, Verbrechen angemessen zu untersuchen und vor Gericht zu bringen. Hat sich bei der Polizei unter der neuen Regierung ebenfalls nichts verändert?
Zaira Navas: Wenn Verbrechen nicht oder nicht angemessen untersucht wurden, lag dies nur in manchen Fällen an unzureichenden technischen Fähigkeiten der Polizei, oft fehlte ganz einfach die Bereitschaft, diese Fälle aufzuklären. Und genau dies macht den Kern von Straffreiheit aus. Diese war grenzenlos in El Salvador.
Um die enorme Gewalt zu bekämpfen, aber auch um gegen die Straffreiheit anzugehen, hat die Regierung Funes eine Nationale Politik für Recht, Sicherheit und Zusammenleben erarbeitet, ein absolutes Novum in der 200-jährigen Geschichte des Landes. Die technischen Fähigkeiten der Polizei zur Verbrechensbekämpfung, ihre Ausbildung und finanziellen Mittel wurden deutlich gestärkt.

Hat das gereicht? Um gegen die Gewalt im Land vorzugehen, patroullieren die Streitkräfte in den Straßen. Dabei dürfen sie laut Friedensabkommen nur noch zur Landesverteidigung eingesetzt werden.
Navas: Die öffentliche Sicherheit ist keine Aufgabe der Armee. Aber die Bevölkerung will die Armee auf der Straße haben, die Menschen fühlen sich sicherer, wenn Soldaten patroullieren. Da müssen wir noch einige Überzeugungsarbeit leisten, dass dies eine Aufgabe für zivile Kräfte ist. Wir brauchen aber auch eine bessere Verteilung der Haushaltsmittel. Die gewalttätigen Jugendbanden sind auch eine Folge der jahrzehntelangen einseitigen Mittelverteilung: Repression statt Sozialarbeit.

Und da hat sich unter der neuen Regierung nichts geändert?
Navas: Über den Haushalt entscheidet das Parlament, und das wird von der Rechten kontrolliert. Deswegen hat die Regierung nur einen geringen Spielraum, um mehr Geld für den Sozialbereich auszugeben. Hinzu kommt, dass zwanzig Jahre rechter Regierungen die Bevölkerung darauf gepolt haben, dass man mit Gewalt auf Gewalt antwortet.

Im Frühjahr gab es Verhandlungen mit den Chefs der maras, der berüchtigten Jugendbanden. Darf ein Rechtsstaat mit Kriminellen verhandeln?
Navas: Die Regierung hat zu keiner Zeit bestätigt, dass sie mit diesen Verhandlungen etwas zu tun hatte. Dazu können wir also nichts sagen. Der ursprüngliche Weg der Regierung war jedenfalls richtig: eine Politik der öffentlichen Sicherheit einzuschlagen, bei der die Menschenrechte geschützt werden. Die der Opfer, aber genauso auch die Rechte derjenigen, die Verbrechen begangen haben. Deswegen ist es richtig, dass die Anführer der maras in normale Gefängnisse verlegt wurden, ganz gleich, ob dies nun ein Ergebnis der Verhandlungen war oder nicht. In den Hochsicherheitsgefängnissen waren ihnen alle nur erdenklichen Rechte verwehrt – aus Menschenrechtsperspektive ist dies nicht akzeptabel.
Die Auswirkung der Verhandlungen auf die öffentliche Sicherheit ist, dass sich die beiden größten maras heute nicht mehr so wie früher bekämpfen und dass die Zahl der täglichen Morde um 36 Prozent zurückgegangen ist. Es wird deutlich: Wir dürfen Verbrechensbekämpfung nicht nur unter dem Aspekt der Repression betrachten, sondern müssen auch die sozialen Aspekte beachten.

Infokasten:

David Morales leitet seit 2009 die Menschenrechtsabteilung des salvadorianischen Außenministeriums. Zuvor hat er bei der staatlichen Menschenrechtsprokuratur, beim Rechtshilfebüro der katholischen Kirche Tutela Legal sowie bei der Nichtregierungsorganisation FESPAD gearbeitet.

Zaira Navas hat bis 2005 bei der staatlichen Menschrechtsprokuratur und bis 2009 bei der Asociación Pro-Búsqueda de Niños gearbeitet, einer Organisation, die versucht, die während des Bürgerkriegs von der Armee entführten Kinder ausfindig zu machen. Danach war sie zweieinhalb Jahre lang Generalinspektorin der Zivilen Nationalpolizei (PNC). Sie trat aus Protest gegen die Ernennung eines Generals zum neuen Polizeichef zurück. Seit März 2012 ist sie Direktorin des Nationalen Rats für Kindheit und Jugend.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren