„Die Straflosigkeit ist nicht nur Pinochets Werk“
Die chilenische Anwältin Fabiola Letelier über den Mord an ihrem Bruder und die Straffreiheit in Chile
Ihr Bruder Orlando Letelier war seit 1971 Botschafter der Regierung Allende in Washington, später Außenminister und in den letzten Wochen vor dem 11. September 1973 Verteidigungsminister. Was ist ihm unmittelbar nach dem Putsch passiert?
Noch am Tag des Militärputsches wurde Orlando verhaftet, als er morgens um halb acht das Verteidigungsministerium betrat. Er wurde sofort in eine Kaserne gebracht und dort fortwährend mit dem Tod bedroht. Soldaten trommelten an seine Zellentür und schrien: „ Jetzt kommt gleich der Minister an die Reihe!“
Nach einigen Stunden brachte man ihn in die Militärschule, wo sich schon andere hohe Beamte der Allende-Regierung befanden. Alle zusammen wurden schließlich auf die Insel Dawson geflogen. Sie liegt an der Südspitze Chiles in der Magellan-Straße – weit weg von der Hauptstadt Santiago. Dort wurden Orlando und die anderen als Kriegsgefangene festgehalten. Die Bedingungen waren schrecklich. Es lag viel Schnee und immer blies ein starker Wind. Außerdem gab es für die Gefangenen weder Zellen noch Zimmer, so daß sie sich erst selbst Behausungen bauen mußten.
Nach einem Jahr und dank internationalen Druckes konnte Orlando schließlich ausreisen. Elf Länder hatten sich zuvor bei Pinochet mit großer Beharrlichkeit für seine Freilassung eingesetzt. Orlando wurde dann ohne Paß oder irgendwelche Dokumente, als wäre er ein Paket, ins Exil geschickt. Von Venezuela aus begab er sich wenig später in die USA, wo er – auch auf internationaler Ebene – begann, die Menschenrechtsverletzungen in Chile anzuprangern. Das veranlaßte Pinochet und seine Minister, ihn im Juni 1976 auszubürgern. Am 21. September 1976 wurde er ermordet – ein internationaler terroristischer Akt, der die Souveränität der USA verletzte, und der nicht nur Orlando das Leben kostete, sondern auch seiner Sekretärin, der US-amerikanischen Staatsbürgerin Ronnie Moffit.
In Chile haben sich die Militärs 1978 für alle Menschenrechtsverletzungen, die sie zwischen 1973 und 1978 begangen haben, selbst amnestiert und bis heute wurden nur zwei Verantwortliche verurteilt: Manuel Contreras, Ex-Direktor der DINA, der damaligen chilenischen Geheimpolizei, und Pedro Espinoza, sein Stellvertreter. Wurden sie dafür verurteilt, die Ermordung ihres Bruders, Orlando Letelier 1976 in Washington geplant zu haben? Wie ist es dazu gekommen, daß 1995 – fast 20 Jahre nach dem Attentat – diese beiden Urteile ergangen sind?
Dies geschah aufgrund des Drucks und der Forderungen der Regierung der Vereinigten Staaten. Unmittelbar nachdem das Verbrechen geschehen war, wurden in den USA Ermittlungen aufgenommen, die sich über zwei Jahre erstreckten. Ein amerikanischer Staatsbürger wurde schließlich von einem US-Gericht verurteilt, außerdem aber stellte das Gericht drei Auslieferungsanträge an Chile. Die Ermittlungen der US-Behörden hatten ergeben, daß vermutlich drei chilenische Offiziere, der ehemalige Geheimdienstchef Contreras, sein Stellvertreter Espinoza und ein weiterer Offizier namens Armando Fernandez Larios in das tödliche Attentat verwickelt waren.
Der Oberste Gerichtshof Chiles lehnte damals die amerikanischen Auslieferungsanträge ab. Das Verfahren wurde in Chile weitergeführt. Weil es sich um Verdachtsmomente gegen Offiziere handelte, wurde das Verfahren allerdings vor einem Militärgericht weitergeführt. Seit diesem Zeitpunkt, seit 1980 kämpfte ich darum, daß das Verfahren nicht, wie die Militärrichter es beabsichtigten, eingestellt würde. Als dann 1990 Aylwin, der erste zivile Präsident der Nach-Pinochet-Ära sein Amt antrat, wurde der Fall Orlando Letelier nach einigem Hin und Her wieder an ein ordentliches Zivilgericht verwiesen.
Nach noch einmal fünf Jahren ergingen schließlich die Urteile gegen den Ex-Geheimdienstchef Contreras und seinen Stellvertreter Espinoza: Sieben und sechs Jahre bekamen sie – symbolische Strafen, wie ich finde. Aber was noch schlimmer war: Sie wurden nicht in ein Hochsicherheitsgefängnis eingewiesen, sondern man baute extra für sie ein neues Spezial-Gefängnis in dem Küstenort Punta Peuco. Diesem außerplanmäßigen Haushaltsposten – und das ist die eigentliche nationale Schande – stimmten alle Parlamentarier ohne Ausnahme zu. So können Contreras und Espinoza dort Besuch empfangen, wann immer sie wollen, haben Farbfernseher, verfügen über ein eigenes Bad und werden von ihresgleichen, nämlich Soldaten, bewacht.
Im November 1997 stellte Contreras allerdings einen Antrag auf Überprüfung seiner Strafe. Er erklärte darin, daß er faktisch damals gar nicht der Chef der Geheimpolizei gewesen sei, sondern daß dieses Amt General Pinochet selber innehatte.
1996 hat die chilenische Regierung offiziell festgestellt, daß während der Herrschaft Augusto Pinochets zwischen 1973 und 1990 aufgrund von Menschenrechtsverletzungen 1102 Personen verschwunden sind und 2095 Menschen getötet wurden. Danach haben trotz des Amnestiegesetzes von 1978 einige Personen vor verschiedenen chilenischen Gerichten wegen dieser extralegalen Hinrichtungen geklagt. Diese Gerichte haben jedoch die eingeleiteten Verfahren zumeist wieder eingestellt.
Wird sich diese Einstellung nach Pinochets Festnahme ändern?
Den genannten Zahlen der Verschwundenen und Getöteten stehen nur 14 Verurteilte gegenüber, die alle in dem Spezialgefängnis Punta Peuco einsitzen. Außer Contreras und Espinoza sind es noch mehrere Polizisten, die für ihre Beteiligung an der äußerst brutalen Ermordung von drei Kommunisten vor Gericht gestellt und verurteilt wurden.
Die in Chile herrschende Straflosigkeit für die damaligen Täter und ihre Komplizen ist aber nicht etwa nur das Werk der Diktatur Pinochets. Sie wurde durch die ab 1990 gewählten, zivilen Regierungen noch weiter verstärkt. Dies betrifft sowohl die Regierung Aylwin als auch die jetzt amtierende von Präsident Frei.
Die Demokratie, die wir heute in Chile haben, ist nicht umfassend, sie wird von den Militärs mit Argusaugen überwacht. Um sie in eine tatsächliche und vollständige Demokratie zu verwandeln, müssen wir in Chile einen breiten und pluralistischen gesellschaftlichen Prozeß in Gang bringen und damit Druck auf die Regierung ausüben. Diese muß endlich die Veränderungen einleiten, die für den demokratischen Fortschritt von grundlegender Bedeutung sind. Das heißt vor allem: Wir müssen endlich die von Pinochet hinterlassene Verfassung aus dem Jahr 1980 abschaffen.
Sie haben Anfang November 1997 bei dem spanischen Richter Manuel García Castellón in Madrid Pinochet angeklagt, den Befehl zur Ermordung ihres Bruders gegeben zu haben. Wenn Pinochet sich tatsächlich vor Gericht verantworten müßte, welche Rolle hätten Sie dann in dem Prozeß?
Ich bin eine Partei in dem spanischen Prozeß – deswegen werde ich mit großer Aufmerksamkeit seinen Fortgang verfolgen. Wenn der Prozeß so zu Ende geht, wie wir alle hoffen und wie es den Rechtsgrundlagen entsprechen würde, würde ich es nur als gerecht empfinden, wenn Pinochet wegen Völkermord, Folter und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wird.
Im Juli wurden in Rom Verhandlungen über die Einrichtung eines
Internationalen Strafgerichtshofes abgeschlossen. Was versprechen Sie sich davon?
Zu der Versammlung in Rom kamen diplomatische Vertreter aus 160 Staaten; am 17. Juli endete sie mit der Verabschiebung des Statuts eines ständigen Internationalen Strafgerichtshof. Das war das Ergebnis von Bemühungen, die vor über 50 Jahren begannen und von einigen Staaten, der UNO, aber hauptsächlich von vielen Nicht-Regierungs-Organisationen all die Jahre hindurch unermüdlich vorangetrieben wurden.
Die weltweite Unterstützung für die Etablierung eines Internationalen Strafgerichtshofs ist ein Signal dafür, daß Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Völkermord und Terrorismus nicht ohne Strafe bleiben dürfen. Eben diese Verbrechen werden nun auch Pinochet vorgeworfen und sollen vor einem spanischen Gericht verhandelt werden – wenn es zur Auslieferung kommt.