Chile | Nummer 409/410 - Juli/August 2008

Die Bewusstlosigkeit aufbrechen

In diesem Jahr wäre Salvador Allende 100 geworden. Warum es sich lohnt, seine Ideen weiterzudenken

Der „chilenische Weg zum Sozialismus“: die Hoffnung vieler ChilenInnen, die politische Vision ihres Präsidenten Salvador Allende, ein Traum bundesdeutscher Linker. Heute ist Allende in Chile nicht mehr als eine blasse Erinnerung, hierzulande scheiden sich an ihm die Geister. Dabei ist nicht er als Person wichtig für die aktuelle Diskussion, sondern seine Ideale.

Dieter Maier

Über Allende wurde viel geschrieben. Aber auch zu seinem 100. Geburtstag gibt es zwar viele Erinnerungen, aber keine solide Biografie. Zu Pinochet erschienen mindestens sechs Biografien und die Autobiografie. Hat der Diktator nicht nur beim Putsch 1973, sondern auch im Gedächtnis Allende verdrängt?
Allende, der zeitlich fernere, ist uns näher als Pinochet. Aber an ihm scheiden sich die Geister. Das erschwert das Erinnern. Schon zu Zeiten seiner Volksfrontregierung (Unidad Popular, kurz: UP, 1970-1973) hat der Revisionismusvorwurf zu harten Diskussionen in der deutschen Internationalismusszene geführt. Viel Schutt muss beiseite geräumt werden, um über Allende etwas Authentisches zu sagen.
Es geht nicht um seine Person. In seiner letzten Rede, die am 11. September 1973 aus dem vom putschenden Militär belagerten Regierungspalast Moneda in Santiago über einen noch nicht bombardierten Radiosender übertragen wurde, bezeichnete er sich als der „Interpret des großen Wunsches der Arbeiter nach Gerechtigkeit“. Allende ist der womöglich letzte Repräsentant eines bewusst geführten Klassenkampfes im Marxschen Sinne, eines gesellschaftlichen Kampfes um Gerechtigkeit für die Unterdrückten und Armen, der nur durch den revolutionären Sieg der Arbeiterklasse über die Bourgeoisie gewonnen werden kann. Diesen Kampf führte Allende mit einer Energie, mit der heute nur noch private Lebensziele verfolgt werden. Vor seinem Wahlsieg 1970 hatte er drei Niederlagen einstecken müssen. Die Wahlkampfmanager des 21. Jahrhunderts hätten ihn längst ausgetauscht. Auch die chilenische Rechte führte diesen Klassenkampf sehr bewusst, mit Terror (wie die rechtsradikale Organisation Patria y Libertad), Boykotts, Provokationen und Hass. Der Klassenkampf der UP hatte klassische Züge: Sozialistische und Kommunistische Partei, daneben eine neue Linke, eine Einheitsgewerkschaft, und ideologisch die säuberliche Unterscheidung von Haupt- und Nebenwidersprüchen (zu letzteren gehörten etwa die „Frauenfrage“ oder sexuelle und ethnische Minderheiten). Dazu subventionierte Kultur, die ohne etwas Agitprop nicht auskam. All das klingt unzeitgemäß. Der Klassenkampf wird aber heute noch geführt, nur eben von oben und so subtil, dass die Ausgebeuteten es nicht mehr merken. Heute über Allende reden heißt, diese Bewusstlosigkeit aufzubrechen.

War der Putsch vermeidbar? Und wenn ja, wie? Schon diese Frage zu stellen wühlt Emotionen auf

Die Linke vieler Länder, auch die bundesdeutsche, hatte Hoffnungen in den Versuch der UP gesetzt. Allende wollte Freiheit und Sozialismus miteinander vereinen. Seine Regierung war aus freien Wahlen hervorgegangen. Sie mochte Fehler machen, aber das Paradigma der Solidarität war die Triebfeder des „chilenischen Prozesses“. Das stand außer Frage und machte die Solidarität auch auf deutscher Seite zur Bedingung für Kritik. In den endlosen Diskussionen dieser Zeit konnten wir auf das Beispiel Chile verweisen. Die UP hat die einem US-Unternehmen gehörende größte Kupfermine der Welt verstaatlicht und Chile damit zu dem gemacht, was man heute einen „Schurkenstaat“ nennt. Das war ein konkreter Schritt zur Beendigung der Ausbeutung. Arbeit hatte in diesem Chile wieder den Sinn, den Bedürfnissen der ArbeiterInnen und der Bevölkerung zu dienen. Landreform und Landbesetzungen durch Bauern und Bäuerinnen waren Handlungen, in denen die Armen ihr Schicksal in die Hand nahmen. Chile und Allende, das war keine Theorie, sondern die Probe aufs Exempel. Der Putsch machte Viele außerhalb Chiles wütend, weil er auch ihre Hoffnung zerstörte. Deshalb wurde die Chilesolidarität zu einer Art sozialen Bewegung.
War der Putsch vermeidbar? Und wenn ja, wie? Schon diese Frage zu stellen wühlt Emotionen auf. Das Bild von Allende ist nicht nur von konträren Positionen und Mystifikationen, sondern auch von Gefühlen überlagert. Wer sollte der objektive Historiker sein, der sich da heranwagt? Und die schiere Zahl der noch lebenden Freunde und Berater Allendes, die zur Interpretation der UP aus eigener Anschauung beitragen können, macht ein solches Vorhaben übergroß.
Da hat es der chilenische Geschichtsrevisionismus leichter. Zu ihm gehört übrigens auch ein deutsche Autor, Lothar Bossle, der in seinem Buch Allende und der europäische Sozialismus, der Eduardo Frei, Allendes christdemokratischen Vorgänger, als „Kerenskij Chiles“ darstellte, also als Wegbereiter einer zweiten Oktoberrevolution, und Allende als jemanden, der durch „Umsturztechniken“ das Chaos verursacht hat, das den Putsch notwendig machte. Der prominenteste chilenische Geschichtsrevisionist ist Pinochet selbst in seinem Buch Der entscheidende Tag (El día decisivo), in dem er nicht nur seine eigene Biografie, sondern auch die UP-Zeit umlügt. In der deutschen und internationalen Beachtung hat ein Büchlein von Victor Farías Allende vom Sockel gestürzt: Er sei heimlicher Rassist und ein Beschützer des nach Chile geflohenen Judenmörders Walther Rauff gewesen. Die Vorwürfe sind unseriös und gründlich widerlegt, aber nicht die Widerlegung, sondern die infame These machte Schlagzeilen. Das jüngste Machwerk dieser Art ist ein, im selben Verlag, der Farías herausgegeben hat, erschienenes Buch des an Folter und Mord der Pinochet-Diktatur beteiligten Miguel Krassnoff, dem Prototyp des Täters. Er biegt die europäische Geschichte seine Vorväter und die chilenische Geschichte um und frisiert seine eigene Biografie so lange, dass er als Opfer dasteht.
Zu der Vergangenheit, die hier entsorgt wird, gehören nicht nur die Verbrechen der Diktatur, sondern auch das Paradigma der Solidarität. Es würde, wenn es jemand noch durchzusetzen versuchte, die heutige chilenische Gesellschaft – und viele andere auch – auf eine harte Probe stellen. Das macht die Aktualität Allendes für das heutige Chile aus. Zukunft hat nur, wer eine Vergangenheit hat. Das individualistische, an Karriere und Konsum orientierte Leben der meisten Chilenen heute ist einer der Gründe, warum Chile sozioökonomisch immer noch so pinochetistisch ist und Allende eine blasse Erinnerung. Wenn sich in Deutschland überhaupt noch jemand an Allende erinnert, dann als Held oder Märtyrer – aber unter der Hand auch als Fossil einer nicht mehr verstehbaren Klassenkampfzeit.
Ist der Traum von Sozialismus und Demokratie
ausgeträumt? Allende hat versucht, die Demokratie auch in ihrer Form des Rechtsstaates zu vertreten. Allein das ist Grund genug, ihn zu erwähnen, wenn man vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts redet. Heute von Allende zu sprechen heißt, einen gewaltsam unterbrochenen politischen Weg weiterzudenken.

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