Die Suche nach den verschwundenen Kindern
Die Flugzeuge kamen kurz nach Sonnenaufgang. Zum Auftakt der später als “Mai-Massaker” in die blutige Geschichte des salvadorianischen Bürgerkrieges eingegangenen Militäroperation bombardierten Maschinen der Luftwaffe am Morgen des 28. Mai 1982 mehrere Dörfer im Norden der Provinz Chalatenango. Dutzende BewohnerInnen starben schon bei diesen ersten Angriffen. Die übrigen – Campesinos und ihre Frauen, Alte, Kinder – packten schnell ein paar Habseligkeiten und verließen ihre brennenden Hütten.
Obwohl sie in Chalatenango eine ihrer Hochburgen hatte, war die Rebellenbewegung FMLN damals militärisch zu schwach, um die Bevölkerung wirksam zu schützen. Mehr als tausend Soldaten der Vierten Infanteriebrigade sowie der Elite-Bataillone “Atlacatl” und “Ramón Belloso” setzten den fliehenden Menschen über den Sumpul-Fluß nach und kesselten sie zwei Tage später auf einem Hügel nahe der Ortschaft Santa Anita ein. Sämtliche Männer wurden ohne weitere Umstände erschossen, die Frauen und Kinder in einem Bachbett zusammengetrieben. Über Funk forderten Offiziere einen Hubschrauber an.
Unter den Eingeschlossenen befanden sich auch die damals 19jährige María Magdalena Ramos und ihr sechs Monate alter Sohn Héctor Aníbal. Die Frau erinnert sich, wie die Soldaten begannen, die schreienden Kinder aus den Armen der Mütter zu reißen und in den wartenden Helikopter zu verfrachten. “Wir wurden mit Gewehrkolben gestoßen und geschlagen. Mir drehte ein Uniformierter den Arm so fest auf den Rücken, daß er brach, und stieß mich mit einem Fußtritt zu Boden.”
Kinder für die Regierung
Trotzdem rappelte sich María Magdalena Ramos noch einmal auf und rannte zum Hubschrauber, in dem Hector Aníbal und “mindestens fünfzig” andere Mädchen und Jungen übereinander gestapelt lagen. “Eure Kinder werden zukünftig der Regierung gehören”, hatte ein Soldat gebrüllt und sie anschließend mit dem Gewehr auf den Kopf geschlagen. Die Frau verlor das Bewußtsein. Als sie am nächsten Morgen aus ihrer Ohnmacht erwachte, waren die Truppen abgezogen. “Um mich herum”, sagt sie, “lagen hunderte von Toten.” Mit den wenigen Überlebenden des Massakers floh María Magdalena Ramos nach Honduras, wo sie die nächsten Jahre eingesperrt in einem Flüchtlingslager verbrachte. Erst 1988 kehrte sie nach El Salvador zurück.
Die Suche nach den verschwunden Kindern verlief zunächst ergebnislos. Die Behörden hätten ihr und anderen Müttern jede Auskunft verweigert, Offiziere sie mehrfach aus den Kasernen gejagt, berichtet Frau Ramos. Das zuständige Bezirksgericht in Chalatenango-Stadt drohte mit einer Klage wegen Verleumdung. Erst die allmähliche politische Öffnung in El Salvador seit Abschluß des Friedensabkommens im Januar 1992 ermöglichte genauere Nachforschungen.
“Den ersten Hinweis, daß Héctor Aníbal Ramos und einige andere der während des ‘Mai-Massakers’ geraubten Kinder in salvadorianischen SOS-Kinderdörfern leben, erhielten wir vom Roten Kreuz”, erzählt der Jesuiten-Pater Jon Cortina. Gemeinsam mit anderen Geistlichen und einigen RechtsanwältInnen hat Cortina im vergangenen September die Organisation “Asociación Pro-Busqueda de los Niños Desaparecidos” gegründet, die den Eltern bei den Recherchen und Behördengängen behilflich ist. Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes hätten sich erinnert, wie ihnen Militärs im Sommer 1982 mehrere Dutzend Kinder übergaben. Sie seien von ihren Eltern verlassen und von den Soldaten in Guerilla-Lagern aufgefunden worden, habe der kommandierende Offizier damals mitgeteilt. Das Rote Kreuz brachte die Jungen und Mädchen in den SOS-Kinderdörfern in El Salvador unter.
Leiterin der vier salvadorianischen SOS-Horte ist María de García, die hauptberuflich als Chefsekretärin in der Deutschen Botschaft arbeitet. Eine Bitte der Gruppe um Jon Cortina, den in einem SOS-Heim in der Stadt Santa Tecla unter dem Namen “Juan Carlos” lebenden mutmaßlichen Sohn von María Magdalena Ramos besuchen zu dürfen, lehnte die Leiterin der Kinderdörfer zunächst ab. “So weit wir wissen, wurde Juán Carlos im Alter von ungefähr einem Jahr zu uns gebracht”, teilte de García in einem Fax mit, um dann die Behauptungen des Militärs zu wiederholen: “Er befand sich damals in Begleitung von anderen Kindern, die alle in einem Guerilla-Lager von ihren Eltern verlassen worden waren.”
Mütter identifizieren ihre
Töchter und Söhne
Anfang Oktober veröffentlichte die “Asociación Pro-Búsqueda de los Niños Desaparecidos” in der größten Tageszeitung des Landes, der “Prensa Gráfica”, eine Anzeige, in der nach dem Verbleib von achtzig namentlich genannten Kindern gefragt wurde, die das Militär allein in Chalatenango entführt hatte. Andere Medien wie der ehemalige FMLN-Untergrundsender “Radio Farabundo Martí” griffen das Thema auf, und das SOS-Kinderdorf stimmte daraufhin einer Gegenüberstellung der “Jugendlichen ungeklärter Herkunft” mit ihren wahrscheinlichen Eltern zu. Das von der UN-Beobachtermission in El Salvador (ONUSAL) und Mitgliedern der sogenannten “Wahrheits-Kommission” – ein Zusammenschluß unabhängiger Persönlichkeiten zur Untersuchung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen während der achtziger Jahre – vermittelte Treffen fand drei Wochen später in der Gemeinde Guarjila in Chalatenango statt. Mehrere Mütter identifizierten dabei ihre Söhne und Töchter. Auch María Magdalena Ramos war sich ganz sicher, in “Juan Carlos” ihr eigenes Kind wiedererkannt zu haben. Doch die Kinderdorf-Leitung glaubte der Mutter nicht. “Das war für mich fast genauso schmerzhaft wie der Moment, als die Soldaten mir das Baby wegnahmen”, sagt Frau Ramos.
Durch Blut- und Genanalysen haben US-amerikanische Wissenschaftler jetzt die Identität des angeblichen Waisenkindes feststellen können. Nach den Worten von Dr. Eric Stover, dem Leiter der in Boston ansässigen Organisation “Ärzte für Menschenrechte” (Physicians for Human Rights), besteht an dem Verwandtschaftsverhältnis zwischen “Juan Carlos” und María Magdalena Ramos “überhaupt kein Zweifel”. Das komplizierte Verfahren, bei dem zentrale Bausteine des Erbinformationsträgers Desoxyribonukleinsäure (DNS) aus weißen Blutkörperchen der untersuchten Personen extrahiert und miteinander verglichen werden, sei “zu 99,81 Prozent” sicher und werde weltweit von Gerichten als Beweismittel anerkannt. Die Wissenschaftler hatten die der Mutter und dem Sohn kurz vor Weihnachten entnommenen Blutproben in die USA geschickt. In einem Laboratorium in Chicago wurden sie von dem Erbforscher Dr. Charles Strom ausgewertet.
Kinderhandel im Auftrag
der Regierung?
Doch längst nicht alle der im Krieg gewaltsam entführten Kinder – Jon Cortina schätzt die Zahl insgesamt auf “weit über 200” – befinden sich noch im Land. Der Pater will von “zahlreichen Fällen” wissen, in denen die Jugendlichen bei Adoptiveltern in Europa wohnen. Allein in Frankreich seien es mehr als fünfzig. Ein Mitglied der “Asociación Pro-Busqueda de los Ninos” habe Ende vergangenen mehrere betroffene Jugendliche in der Nähe von Paris besucht. “Ihnen geht es gut, ihre Adoptiveltern lieben sie, aber sie haben ein Anrecht darauf, zu erfahren, wer ihre richtigen Eltern sind.” Andere im Kleinkindalter geraubte Mädchen und Jungen leben nach Cortinas Informationen in England und Italien.
Ungeklärt ist derzeit noch, ob das Militär die Kinder seinerzeit auf eigene Rechnung entführte und später zu verkaufen versuchte oder im Auftrag der Regierung handelte. Die Rechtsanwältin Mirna Perla Anaya will jedenfalls “nicht ausschließen”, daß sich die salvadorianische Militärführung und Regierungsbehörden damals “bewußt und gezielt am Kinderhandel beteiligt und dabei viel Geld verdient haben.” Beweisen läßt sich das bislang allerdings nicht. Doch scheint zumindest sicher, daß die zuständigen Ministerien für Inneres und Äußeres bei den damaligen Adoptionsverfahren Unterlagen manipuliert haben müssen. Einer Adoption, zumal durch ausländische Paare, haben auch nach salvadorianischem Gesetz die leiblichen Eltern zuzustimmen. Eine solche Zustimmung hat es jedoch in keinem der betreffenden Fälle gegeben. Deshalb, so Mirna Perla Anaya, “wurden die notwendigen Bescheinigungen entweder gefälscht, oder aber die Regierung hat wahrheitswidrig behauptet, daß die Väter und Mütter gar nicht mehr leben.”
Das vom ehemaligen Präsidenten Alfredo Cristiani und der rechtsextremen Regierungspartei ARENA kurz nach Friedensschluß durchgedrückte Amnestiegesetz, das vor allem Offiziere der Regierungsarmee und der Polizeieinheiten vor einer Strafverfolgung wegen Menschenrechtsverletzungen schützt, gilt nicht für die Beteiligung an Entführungen. Frau Anaya ist deshalb zuversichtlich, daß der Kindesraub “irgendwann nicht nur aufgeklärt, sondern auch strafrechtlich geahndet wird.”
Um weitere Fälle dokumentieren zu können, erwartet die Rechtsanwältin von den SOS-Kinderdörfern in El Salvador mehr Entgegenkommen. Doch dazu besteht wenig Bereitschaft. “Juan Carlos” wurde bis auf weiteres nur ein weiteres Treffen mit seiner “angeblichen” Mutter erlaubt. Man fühle sich, erklärte María de García, in dieser Angelegenheit von Medien und Menschenrechtsgruppen “gewaltig unter Druck gesetzt.” Dabei seien die SOS-Kinderdörfer “eine unpolitische Einrichtung, die nur das Wohl der uns anvertrauten Kinder im Auge hat.”
Dabei wird von den betroffenen Müttern und Vätern gar nicht angezweifelt, daß ihre Kinder in der Einrichtung den Umständen entsprechend gut versorgt worden sind. “Man soll uns nur die Kontaktaufnahme mit unseren Söhnen und Töchtern erlauben”, bittet María Magdalena Ramos. “Ich verlange ja auch nicht, daß Héctor Aníbal für immer zu mir zurückkehrt. Ich möchte ihn nur ab und zu besuchen dürfen, vielleicht einmal im Monat. Wenn er das überhaupt will.”