El Salvador | Nummer 249 - März 1995

Die Suche nach den verschwundenen Kindern

Während des Bürgerkrieges raubte das salvadorianische Militär hunderte von Jungen und Mädchen. Sie wurden unter anderem in SOS-Kinderdörfer innerhalb des Landes gebracht oder an Adoptiveltern in Europa verkauft. Ob das Militär im Auftrag der Re­gierung handelte oder auf eigene Rechnung Geschäfte machte, ist bis heute ungeklärt. Die im letzten Jahr gegründete “Asociación Pro-Búsqueda de los Niños Desapareci­dos” (Vereinigung zur Suche der verschwundenen Kinder) versucht Licht in das Dun­kel zu bringen und unterstützt die Eltern bei ihren Nachforschungen.

Reimar Paul

Die Flugzeuge kamen kurz nach Son­nenaufgang. Zum Auftakt der später als “Mai-Massaker” in die blutige Geschichte des salvadorianischen Bürgerkrieges ein­gegangenen Militäroperation bombar­dierten Maschinen der Luftwaffe am Morgen des 28. Mai 1982 mehrere Dörfer im Norden der Provinz Chalatenango. Dut­zende BewohnerInnen starben schon bei diesen ersten Angriffen. Die übrigen – Campesinos und ihre Frauen, Alte, Kinder – packten schnell ein paar Habseligkeiten und verließen ihre brennenden Hütten.
Obwohl sie in Chalatenango eine ihrer Hochburgen hatte, war die Rebellenbewe­gung FMLN damals militärisch zu schwach, um die Bevölkerung wirksam zu schützen. Mehr als tausend Soldaten der Vierten Infanteriebrigade sowie der Elite-Bataillone “Atlacatl” und “Ramón Bel­loso” setzten den fliehenden Menschen über den Sumpul-Fluß nach und kesselten sie zwei Tage später auf einem Hügel nahe der Ortschaft Santa Anita ein. Sämt­liche Männer wurden ohne weitere Um­stände erschossen, die Frauen und Kinder in einem Bachbett zusam­mengetrieben. Über Funk forderten Offiziere einen Hub­schrauber an.
Unter den Eingeschlossenen befanden sich auch die damals 19jährige María Magdalena Ramos und ihr sechs Monate alter Sohn Héctor Aníbal. Die Frau erin­nert sich, wie die Soldaten begannen, die schreienden Kinder aus den Armen der Mütter zu reißen und in den wartenden Helikopter zu verfrachten. “Wir wurden mit Gewehrkolben gestoßen und geschla­gen. Mir drehte ein Uniformierter den Arm so fest auf den Rücken, daß er brach, und stieß mich mit einem Fußtritt zu Bo­den.”
Kinder für die Regierung
Trotzdem rappelte sich María Magda­lena Ramos noch einmal auf und rannte zum Hubschrauber, in dem Hector Aníbal und “mindestens fünf­zig” andere Mädchen und Jungen übereinander gestapelt lagen. “Eure Kinder werden zukünftig der Regie­rung gehören”, hatte ein Soldat gebrüllt und sie an­schließend mit dem Gewehr auf den Kopf geschlagen. Die Frau verlor das Bewußtsein. Als sie am nächsten Morgen aus ihrer Ohnmacht erwachte, waren die Truppen abgezogen. “Um mich he­rum”, sagt sie, “lagen hunderte von To­ten.” Mit den wenigen Überlebenden des Massakers floh María Magdalena Ramos nach Honduras, wo sie die nächsten Jahre eingesperrt in einem Flüchtlingslager ver­brachte. Erst 1988 kehrte sie nach El Sal­vador zurück.
Die Suche nach den verschwunden Kindern verlief zunächst ergebnis­los. Die Behörden hätten ihr und anderen Müttern jede Auskunft ver­weigert, Offiziere sie mehrfach aus den Kasernen gejagt, be­richtet Frau Ramos. Das zuständige Be­zirksgericht in Chalatenango-Stadt drohte mit einer Klage wegen Verleumdung. Erst die allmähliche poli­tische Öffnung in El Salvador seit Abschluß des Friedensab­kommens im Januar 1992 ermöglichte ge­nauere Nachforschungen.
“Den ersten Hinweis, daß Héctor Aní­bal Ramos und einige andere der während des ‘Mai-Massakers’ geraubten Kinder in salva­dorianischen SOS-Kinderdörfern le­ben, erhielten wir vom Roten Kreuz”, er­zählt der Jesuiten-Pater Jon Cortina. Ge­meinsam mit ande­ren Geistlichen und ei­nigen RechtsanwältInnen hat Cortina im vergangenen September die Organisation “Asociación Pro-Busqueda de los Niños Desaparecidos” gegründet, die den Eltern bei den Recherchen und Behördengängen behilflich ist. Mitarbeite­rinnen des Roten Kreuzes hätten sich er­innert, wie ihnen Militärs im Sommer 1982 mehrere Dut­zend Kinder übergaben. Sie seien von ih­ren Eltern verlassen und von den Soldaten in Guerilla-Lagern auf­gefunden wor­den, habe der kommandie­rende Offizier damals mitge­teilt. Das Rote Kreuz brachte die Jungen und Mädchen in den SOS-Kinder­dörfern in El Salvador unter.
Leiterin der vier salvadorianischen SOS-Horte ist María de García, die haupt­beruflich als Chefsekretärin in der Deut­schen Botschaft ar­beitet. Eine Bitte der Gruppe um Jon Cortina, den in einem SOS-Heim in der Stadt Santa Tecla unter dem Namen “Juan Carlos” lebenden mut­maßlichen Sohn von María Magdalena Ramos besuchen zu dürfen, lehnte die Leiterin der Kinderdörfer zunächst ab. “So weit wir wissen, wurde Juán Carlos im Alter von ungefähr einem Jahr zu uns ge­bracht”, teilte de García in einem Fax mit, um dann die Behauptungen des Militärs zu wiederholen: “Er befand sich damals in Begleitung von anderen Kindern, die alle in einem Guerilla-Lager von ihren Eltern verlassen worden waren.”
Mütter identifizieren ihre
Töchter und Söhne
Anfang Oktober veröffentlichte die “Asociación Pro-Búsqueda de los Niños Desaparecidos” in der größten Tageszei­tung des Landes, der “Prensa Gráfica”, eine Anzeige, in der nach dem Verbleib von achtzig namentlich genannten Kin­dern gefragt wurde, die das Militär allein in Chalatenango entführt hatte. Andere Medien wie der ehemalige FMLN-Unter­grundsender “Radio Farabundo Martí” griffen das Thema auf, und das SOS-Kin­derdorf stimmte daraufhin einer Gegen­überstellung der “Jugendlichen ungeklär­ter Herkunft” mit ihren wahrscheinlichen Eltern zu. Das von der UN-Beobachter­mission in El Salvador (ONUSAL) und Mitgliedern der sogenannten “Wahrheits-Kommission” – ein Zusammenschluß un­abhängiger Persönlichkeiten zur Untersu­chung von Kriegsverbrechen und Men­schenrechtsverletzungen während der achtziger Jahre – vermittelte Treffen fand drei Wochen später in der Gemeinde Guarjila in Chalatenango statt. Mehrere Mütter identifizierten dabei ihre Söhne und Töchter. Auch María Magdalena Ra­mos war sich ganz si­cher, in “Juan Carlos” ihr eigenes Kind wiedererkannt zu haben. Doch die Kinderdorf-Leitung glaubte der Mutter nicht. “Das war für mich fast ge­nauso schmerzhaft wie der Moment, als die Soldaten mir das Baby wegnahmen”, sagt Frau Ramos.
Durch Blut- und Genanalysen haben US-amerikanische Wissenschaftler jetzt die Identität des angeblichen Waisenkin­des fest­stellen können. Nach den Worten von Dr. Eric Stover, dem Leiter der in Bo­ston ansäs­sigen Organisation “Ärzte für Menschenrechte” (Physicians for Human Rights), besteht an dem Verwandt­schaftsverhältnis zwischen “Juan Carlos” und María Magdalena Ramos “überhaupt kein Zweifel”. Das kom­plizierte Verfah­ren, bei dem zen­trale Bausteine des Erbin­formationsträgers Desoxyribonukleinsäure (DNS) aus wei­ßen Blutkörperchen der untersuchten Per­sonen extrahiert und mit­einander vergli­chen werden, sei “zu 99,81 Prozent” si­cher und werde weltweit von Gerichten als Beweismittel anerkannt. Die Wissen­schaftler hatten die der Mutter und dem Sohn kurz vor Weihnachten ent­nommenen Blutproben in die USA ge­schickt. In ei­nem Laboratorium in Chi­cago wurden sie von dem Erbforscher Dr. Charles Strom ausgewer­tet.
Kinderhandel im Auftrag
der Regierung?
Doch längst nicht alle der im Krieg ge­waltsam entführten Kinder – Jon Cortina schätzt die Zahl insgesamt auf “weit über 200” – befin­den sich noch im Land. Der Pater will von “zahlreichen Fällen” wis­sen, in denen die Jugendlichen bei Adop­tiveltern in Europa wohnen. Allein in Frankreich seien es mehr als fünfzig. Ein Mitglied der “Asociación Pro-Busqueda de los Ninos” habe Ende vergangenen mehrere betroffene Jugendliche in der Nähe von Paris besucht. “Ihnen geht es gut, ihre Adoptiveltern lieben sie, aber sie haben ein Anrecht dar­auf, zu erfahren, wer ihre richtigen Eltern sind.” Andere im Kleinkindalter geraubte Mädchen und Jungen leben nach Cortinas Informationen in England und Italien.
Ungeklärt ist derzeit noch, ob das Mi­litär die Kinder seinerzeit auf eigene Rechnung entführte und später zu verkau­fen versuchte oder im Auftrag der Regie­rung handelte. Die Rechtsanwältin Mirna Perla Anaya will jedenfalls “nicht aus­schließen”, daß sich die salvadorianische Militärführung und Regierungsbehörden damals “bewußt und gezielt am Kinder­handel beteiligt und dabei viel Geld ver­dient haben.” Beweisen läßt sich das bis­lang allerdings nicht. Doch scheint zu­mindest si­cher, daß die zuständigen Mini­sterien für Inneres und Äußeres bei den damaligen Adoptionsverfahren Unterlagen manipuliert haben müs­sen. Einer Adop­tion, zumal durch ausländische Paare, ha­ben auch nach salvadorianischem Gesetz die leiblichen Eltern zuzustimmen. Eine solche Zustimmung hat es jedoch in kei­nem der betreffenden Fälle ge­geben. Des­halb, so Mirna Perla Anaya, “wurden die notwendigen Bescheinigungen entweder gefälscht, oder aber die Regierung hat wahrheitswidrig behauptet, daß die Väter und Mütter gar nicht mehr leben.”
Das vom ehemaligen Präsidenten Al­fredo Cristiani und der rechtsextremen Regierungspartei ARENA kurz nach Frie­densschluß durchgedrückte Amnestiege­setz, das vor allem Offiziere der Regie­rungsarmee und der Polizeieinheiten vor einer Strafverfolgung wegen Menschen­rechtsverletzungen schützt, gilt nicht für die Beteiligung an Entfüh­rungen. Frau Anaya ist deshalb zuver­sichtlich, daß der Kindesraub “irgendwann nicht nur aufge­klärt, son­dern auch straf­rechtlich geahndet wird.”
Um weitere Fälle dokumentieren zu können, erwartet die Rechtsanwältin von den SOS-Kinderdörfern in El Salvador mehr Entgegenkommen. Doch dazu be­steht wenig Bereitschaft. “Juan Carlos” wurde bis auf weiteres nur ein weiteres Treffen mit seiner “angeblichen” Mutter erlaubt. Man fühle sich, erklärte María de García, in dieser Angelegenheit von Me­dien und Men­schenrechtsgruppen “gewaltig unter Druck ge­setzt.” Dabei seien die SOS-Kinderdör­fer “eine unpoli­tische Einrichtung, die nur das Wohl der uns anvertrau­ten Kinder im Auge hat.”
Dabei wird von den betroffenen Müt­tern und Vätern gar nicht angezwei­felt, daß ihre Kinder in der Einrichtung den Umständen entsprechend gut ver­sorgt worden sind. “Man soll uns nur die Kon­taktaufnahme mit unseren Söhnen und Töchtern erlauben”, bittet María Magda­lena Ramos. “Ich verlange ja auch nicht, daß Héctor Aníbal für immer zu mir zu­rückkehrt. Ich möchte ihn nur ab und zu besuchen dürfen, vielleicht einmal im Monat. Wenn er das überhaupt will.”


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