Nummer 335 - Mai 2002 | Venezuela

Die venezolanische Lektion

Abdruck des Artikels von Mempo Giardinelli in der argentinischen Tageszeitung Página 12 vom 15. April 2002

Mempo Giardinelli

Welche Bedeutung bekommen die Ereignisse der letzten Stunden im leidgeplagten Venezuela, wenn man sie aus argentinischer Perspektive betrachtet? Die Bedeutung des Gegenputsches, der Hugo Chávez ins Präsidentenamt zurückversetzte, ist enorm, auf Grund der auffallenden Parallelen. Diese sind nicht exakt, aber doch so groß, dass sie als Spiegel dienen können. Indem sie ein für alle Mal bewiesen, dass in unseren Ländern die Opposition schlechter sein kann als die Regierung, arbeiteten die alten Führungen der Acción Democrática und der Copei (die zwei Parteien, vergleichbar bei uns den Peronisten und Radikalen, wurden bei den letzten Wahlen von Chávez weggefegt) im Geheimen daran, Bündnisse mit dem Unternehmenssektor und den Bänkern zu schmieden. Die Tölpelhaftigkeit der südamerikanischen Oppositionen ist seit langem sprichwörtlich, und jetzt sehen wir sie ein weiteres Mal dabei, wie sie ein ultrarechtes Regime unterstützen, wie dasjenige, das der Arbeitgeberverband (in Venezuela Fedecámaras genannt) mit der Unterstützung einiger Anführer aus der Armee einrichten wollte. Die Unfähigkeit und die Dummheit sind ihre Erkennungszeichen – behaupten einige respektwürdige venezolanische Intellektuelle – wie könnten wir das an dieser Stelle sagen? Nicht vorzeigbar und streitsüchtig haben sie die Verwirrung und Ermüdung der Mittelklasse und die kanallienhafte Predigt der am stärksten kolonisierten Medien benutzt, ganz genau wie bei uns. Die Plünderungen der wirklich Hungerleidenden dienten als Projektion für die von den Faschisten organisierten Plünderungen, ganz gleich wie bei uns. In einigen Bürgerprotesten wurden rote Fahnen geschwenkt, damit die eifrigen McCarthy-Jünger mit dem immer im Schwange seienden „Bürgerkrieg“ drohten. Genau so wie bei uns.
Die Tölpelhaftigkeit war so groß und genau so die Gefräßigkeit der einheimischen Unternehmerschicht, dass sie im Präsidentenpalast von Miraflores Pedro Carmona Estanga einsetzten, Präsident des Arbeitgeberverbandes, das ist so wie wenn sie bei uns Eduardo Escasany, Gregorio Pérez Companc oder Mauricio Macri in die Casa Rosada verfrachten. Oder Ricardo Lopez Murphy. Sie haben alles so schlecht durchgeführt, dass sie selbst bei der ersten Maßnahme daneben lagen: Sie posaunten heraus, dass es nicht einen Tropfen Öl mehr für Kuba gäbe (und wir alle sahen im Fernsehen das vergnügte Feiern von ersten Damen und Herren im Anzug) und dann strichen sie das Adjektiv „bolivarianisch“. Als draußen schon eine fürchterliche Schlächterei und ein Chaos im Gange war – dieses schon spontan – wurden drinnen Champagnerflaschen geöffnet und zum Chor angestimmt: „Nicht einen Schritt zurück, nicht einen Schritt zurück“, während der Aufstand über sie kam.
Venezuela und Argentinien, die einst die reichsten Länder Südamerikas waren, mit den ausgeprägtesten Mittelklassen und die vor Jahrzehnten Prozesse der Industrialisierung einleiteten, werden heute von vergleichbaren Geistern überflogen. Die Toten werden in Dutzenden gezählt, die Straffreiheit der Mächtigen ist die gleiche, und die Diktatur der kloakenhaften Medien auch. Es ist daher nur gesund und umsichtig, dass der zurückgekehrte Chavismus eine wirklich Versöhnung sucht (nach den Äußerungen des Vizepräsidenten Diosdado Cabello und Chávez selbst zu urteilen), denn Vernunft und Fassung ist der beste Weg, der ihnen bleibt. Was nicht einfach sein wird, wenn man das explosive Temperament ihres Führers in Betracht zieht. Aber wenn er es schafft, sich im Zaum zu halten, wenn seine besonnensten Anhänger es schaffen, ihn zu beruhigen, und es keinen Revanchismus gibt, dann werden sicher die Zustände gegeben sein, damit die Situation in Ordnung gebracht wird und das gemacht wird, was zu tun ist: Venezuela braucht, wie wir, schnell Pläne zur Wiedereinführung sozialer Gesichtspunkte. Und nicht nur schnelle, sondern auch unmittelbare, konkrete und sichtbare.
Solange in unseren Ländern nicht zu erkennen ist, dass die Netze des sozialen Rückhalts wirklich und wahrhaftig die Bedürfnisse der zahlreichen Mehrheiten bedienen, und nicht zu erkennen ist, dass diese Mäßigung nur ein Vorspiel zu sehr viel tief greifenderen Umverteilungen ist, wird es keinen Frieden geben. Das ist, was weder die Carmona Estangas noch ihre argentinischen Entsprechungen je verstehen werden. Das ist, was die hartnäckigen politischen Führungen, von hüben und drüben nicht lernen. Und das ist, was gezwungenermaßen und dringend Hugo Chávez verstehen muss und alle die neuen alternativen Führer, die in seinem Schatten geboren werden. Es ist zu erwarten – dass ihnen doch – das Geschehene zu einer Lektion gereicht. Es ist unverzichtbar, dass sie begreifen, dass die Demokratie eine andauernde Ausübung von Toleranz und Fassung bedeutet, aber dass die wirtschaftlichen Maßnahmen sich in Richtung auf das Gemeinwohl und nicht zum Vorteil einiger weniger, immer derselben, richten sollen. Und vor allem, diese müssen mit absoluter Strenge durchgesetzt werden, wenn auch mit Seidenhandschuhen. Denn darin, das zu begreifen und es zu Ende zu führen, wohnt, vielleicht, die Fortdauer unserer Unabhängigkeit inne. Weil schon zu sehen ist, wie die Neoimperialisten denken, die der Ansicht sind, die sozialen Probleme der Peripherie seien ein „Dschungel“, auf den sie früher oder später „die Gesetze des Dschungels anwenden werden“, wie Robert Coope, der Berater Tony Blaires angedroht hat, nach dem erhellenden Bericht, den Julio Nudler am vergangenen Samstag für dieses Blatt zeichnete.
Die Lektion von Venezuela ist außergewöhnlich. Sie zeigt, dass die Völker Lateinamerikas das demokratische Leben und die Verfassungskultur viel besser aufnehmen als ihre Führungsschicht. Sie beleuchtet das Schicksal der Abenteuer außerhalb des Rechts und den verkehrten Einsatz der Armee. Sie denunziert, dass die mediale Macht der Wirtschaftsrechten dazu dient, die Reichen aufzuhetzen, aber nicht um unechte Regierungen zu stützen. Sie macht die Autoritären und Faschisten darauf aufmerksam, dass sie sich nicht mehr so aufdrängen können, wie sie das früher mit reinem Betrug und Lügen gemacht haben. Und es unterrichtet sie, die Regierenden von populärer Herkunft und durch Wahlen legitimiert, davon, dass die versprochenen Änderungen sich auch in der Realität und ohne dunkle Machenschaften verwirklichen müssen. Und vor allem, informiert sie darüber, dass die Geschwindigkeit der Geschichte sich dramatisch beschleunigt hat.

Übersetzung: Timo Berger

KASTEN:
Zur Person:

Mempo Giardinelli, Schriftsteller und Journalist, wurde 1947 in Resistencia im argentinischen Chaco geboren. Er studierte zunächst Jura, bevor er sich 1969 dem Journalismus und der Literatur zuwandte. Später nahm er Lehraufträge an Universitäten in Süd- und Nordamerika an. Nach dem Verbot seines ersten Romans Tonio tuerto de ciegas in Argentinien, emigrierte er 1976 nach Mexiko. Als erster ausländischer Autor erhielt er den mexikanischen Nationalpreis für den Roman Luna caliente (deutsch Heißer Mond, 1986, Piper Verlag).
1984 kehrte er aus dem Exil zurück, zunächst ging er nach Buenos Aires, 1990 wieder in seine Heimatstadt Resistencia.
Für seinen Roman Santo oficio de la memoria erhielt er 1993 den Romuló-Gallego-Preis, die höchste Auszeichnung für lateinamerikanische Literatur. In dem Buch schildert Giardinelli ein vielstimmiges Panorama der Einwanderung in Argentinien. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt, unter anderem auch ins Deutsche.
Zur Zeit schreibt er regelmäßig für die Página 12 und andere Zeitungen in Mexiko und Spanien. Mit einer Gruppe argentinischer Intellektueller erarbeitete er Anfang Januar diesen Jahres ein Manifest mit Vorschlägen für die Reform der politischen und gesellschaftlichen Institutionen des Landes.
Informationen dazu erhält man unter manifiestoarg@hotmail.com.

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