Nummer 440 - Februar 2011 | Venezuela

Zwischen Debatte und Konfrontation

In Venezuela sieht sich die Opposition benachteiligt, ist selbst aber ideenlos

Am 5. Januar trat in Venezuela erstmals das neu gewählte Parlament zusammen, in dem die Opposition nach ihrem Wahlboykott 2005 nun wieder deutlich vertreten ist. Kurz vor Ablauf der Legislaturperiode übertrug das Parlament in alter Zusammensetzung noch gesetzgeberische Vollmachten an Präsident Hugo Chávez. Die Opposition könnte über Präsidialdekrete per Referendum abstimmen lassen, scheint daran aber kein Interesse zu haben.

Tobias Lambert

Zumindest physisch hat sich die Opposition in Venezuela zurück gemeldet. Unterstützt von Demonstrationen und Kundgebungen beider politischer Lager trat am 5. Januar erstmals die neue Nationalversammlung zusammen. Die GegnerInnen von Hugo Chávez sind darin nach ihrem viel kritisierten Wahlboykott im Jahr 2005 nun wieder deutlich repräsentiert. Aufgrund des Mehrheitswahlsystems hatte die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) bei der Parlamentswahl im vergangenen September allerdings eine klare Mehrheit von 98 Abgeordneten erzielt. Das Oppositionsbündnis Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) lag in absoluten Stimmen zwar nur knapp hinter der PSUV, stellt jedoch lediglich 65 Abgeordnete, die sich auf zwei Fraktionen aufteilen. Die kleine Partei Heimatland für Alle (PPT), die erst im vergangenen Jahr mit dem Regierungslager brach, kommt auf zwei Abgeordnete (siehe LN 437).
Das alles bestimmende Thema zu Jahresbeginn war jedoch der plötzliche Aktionismus der alten ParlamentarierInnen, die Ende des Jahres noch rund 30 Gesetze verabschiedeten. So sollen zusätzliche Kompetenzen von repräsentativen Organen auf Gemeindeebene an die basisdemokratisch organisierten kommunalen Räte und die comunas, einen Zusammenschluss jeweils mehrerer Räte, übergehen. Daneben wurden unter anderem die Redezeit im Parlament reduziert, die Finanzierung von Parteien und Nichtregierungsorganisationen durch ausländische Gelder reguliert und der Parteiübertritt von Abgeordneten erschwert.
Die heftigsten Reaktionen erntete aber die erneute Übertragung gesetzgeberischer Vollmachten an Chávez für insgesamt 18 Monate. Demnach kann der venezolanische Präsident bis Ende Juni des Wahljahres 2012 Dekrete mit Gesetzesrang erarbeiten lassen. Begründet wurde dies mit den schweren Unwettern, die Venezuela im Dezember heimsuchten. Mindestens 120.000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen und in Notunterkünfte ziehen. Um die Ursachen der Katastrophe wirkungsvoll anzugehen, seien die Vollmachten notwendig, argumentiert Chávez. Das gravierende Wohnungsproblem müsse gelöst, zusätzliche Einnahmen müssten generiert werden. Die Vollmachten erstrecken sich auf zehn unterschiedliche Bereiche, darunter Wohnraum, Infrastruktur, Finanzen und Steuern, aber auch auf Landesverteidigung oder internationale Zusammenarbeit.
Die Erteilung zeitlich begrenzter Vollmachten ist prinzipiell durch die Verfassung gedeckt, sofern drei Fünftel der Abgeordneten dafür stimmen. Bis wohin die Ursachen der Katastrophe reichen sollen, ist hingegen Definitionssache. Pikant ist, dass seit dem 5. Januar keines der beiden großen politischen Lager über eine Dreifünftelmehrheit verfügt, um die Vollmachten wieder zurück zu nehmen.
Dabei verfügt die regierende PSUV auch in dem neuen Parlament über eine bequeme Mehrheit. Die Verabschiedung einfacher Gesetze, wie sie Chávez nun dekretieren darf, könnte die Opposition ohnehin nicht verhindern. Ziel der Vollmachten kann also nur eine Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens sein. Der zu erwartende Schlagabtausch zwischen den beiden unversöhnlichen politischen Lagern fällt dabei teilweise unter den Tisch. VertreterInnen der Opposition kritisierten das Bevollmächtigungsgesetz scharf und stellten Chávez teilweise gar als Diktator hin. Auch international gab es deutliche Reaktionen. Der Unterstaatssekretär für Lateinamerika im US-Außenministerium, Arturo Valenzuela, sprach von einer „undemokratischen Maßnahme“. José Miguel Insulza, Generalsekratär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sagte, die Erteilung der Vollmachten „widerspreche vollkommen der Interamerikanischen Demokratiecharta“.
In den ersten Wochen dekretierte Chávez mehrere Gesetze, die direkt mit den Unwettern zu tun haben. Unter anderem richtete er einen Fonds zur Unterstützung der Betroffenen ein, einen Schuldenerlass für vom Unwetter geschädigte AgrarproduzentInnen und verabschiedete Gesetze über „würdige Zufluchtsorte“ und „Wohnungsnotstand“. Hunderttausende neue Wohnhäuser will die Regierung gemeinsam mit der Privatwirtschaft dieses Jahr bauen. Auch ungenutzte Freiflächen, die sich in Privatbesitz befinden, sollen dafür herangezogen werden. Die Wohnungspolitik ist seit Jahren einer der Bereiche, in denen die Bilanz der Chávez-Regierung äußerst dürftig ausfällt.
Im Nachbarland Kolumbien, das ebenfalls von einer schlimmen Unwetterkatastrophe mit über zwei Millionen Geschädigten betroffen ist, griff Präsident Manuel Santos zu ganz ähnlichen Maßnahmen. Im Rahmen eines für etwa sechs Wochen verhängten Notstandes erließ er 37 Dekrete, darunter auch ein Gesetz, das Enteignungen von Ländereien ermöglicht. Kritik an dem Vorgehen war von internationaler Seite jedoch nicht zu vernehmen.
Bei der obligatorischen Präsentation des Rechenschaftsberichts am 15. Januar, den der venezolanische Präsident stets zu Beginn des Jahres dem Parlament vorlegen muss, schienen sich die Wogen zunächst etwas zu glätten. Chávez kritisierte die Opposition dafür, ihn als Diktator zu bezeichnen und rief zum Dialog auf. „Ich bin sehr froh über eure Anwesenheit hier im Parlament und wir sollten diese neue Möglichkeit nicht ungenutzt lassen“. Die politischen Lager seien „keine Feinde“, betonte Chávez ungewohnt versöhnlich. Zudem kündigte er an, die Vollmachten nur bis zum 1. Mai dieses Jahres zu benötigen. Er werde „schneller arbeiten“, um die Ursachen und Folgen der Unwetterkatastrophe bis dahin in den Griff zu bekommen.
Die Abgeordneten der Opposition zeigten sich weitgehend unbeeindruckt. Chávez habe nur „gebrochene Versprechen wiederholt“ und die Bevölkerung „erneut betrogen“, kommentierte Ramón Guillermo Aveledo, Sprecher des MUD. Auch Chávez‘ Ankündigung, die Vollmachten bereits im Mai dieses Jahres zurückzugeben, nahm die Opposition kühl auf. Der Präsident solle dies unverzüglich tun, ließen mehrere ihrer SprecherInnen verlauten. Anscheinend ließ sich Chávez von den zurückhaltenden Reaktionen provozieren. Wenige Tage später verkündete er, die Vollmachten nun doch nicht zurückgeben zu wollen, wenn die Opposition nicht interessiert sei und es ihr nur um „alles oder nichts“ gehe. „Wir haben die Debatte begrüßt, aber sie verteidigen nur den verlassenen Schuppen eines Privatunternehmens“, sagte Chávez in Anspielung auf die Enteignung eines ungenutzten Grundstücks des Lebensmittel- und Bierkonzerns Polar, auf dem neue Wohnungen entstehen sollen. „Wir verteidigen die Interessen der Bevölkerung. Das ist der fundamentale Unterschied.“
Die Erteilung der Vollmachten ist rechtlich gedeckt, zeigt aber ein grundlegendes Problem des bolivarianischen Prozesses. Die Herausforderung, kollektive und nachhaltige Strukturen zu schaffen, die einen Präsidenten Chávez politisch überleben könnten, ist bisher nicht gemeistert worden. Die Kritik der Opposition ist legitim und war nicht anders zu erwarten. Wäre einer der heutigen Oppositionspolitiker Präsident und würde gesetzgeberische Vollmachten erhalten, die Chavistas würden dies selbstverständlich als undemokratisch kritisieren. Von Chávez erwarten sie, dass er Initiativen von unten aufgreift, von der Opposition hingegen Gesetze für ökonomische Eliten. Im Unterschied zur Opposition würden die Chavistas aber höchstwahrscheinlich die Bevölkerung mobilisieren, um einzelne Präsidialdekrete per Referendum zu kippen.
Denn die bolivarianische Verfassung bietet direktdemokratische Instrumente, um Debatten über einzelne Gesetze zu erzwingen. Bei Präsidialdekreten reichen fünf Prozent der eingeschriebenen WählerInnen aus, um ein Referendum über die partielle oder komplette Aufhebung von Gesetzen durchzuführen. Die Bevölkerung hat also – abgesehen von bestimmten Ausnahmen wie in den Bereichen Steuern, Menschenrechte oder internationale Verträge – die Möglichkeit, Entscheidungen des Gesetzgebers zu korrigieren. Darüber hinaus kann auch das Parlament dekretierte Gesetze jederzeit verändern oder kippen. Chávez ist somit für deren Durchsetzung prinzipiell auf die Mehrheit sowohl im Parlament als auch der Bevölkerung angewiesen. Obwohl die Opposition seit Chávez‘ Amtsantritt 1999 zahlreiche Gesetze rundum abgelehnt hat, wurde bisher noch nie ein Aufhebungsreferendum beantragt. Es ging ihren VertreterInnen nie darum, einzelne Normen durchzusetzen oder zu verändern, sondern darum, den in ihren Reihen verhassten Präsident von der Macht zu verdrängen.
Die Opposition scheint es nicht als demokratisches Recht, sondern vielmehr als Risiko anzusehen, Instrumente direkter Demokratie zu verwenden, da dies dem von ihr abgelehnten politischen System zusätzliche Legitimität verleihen würde. Zu schlecht ist zudem ihre Bilanz der letzten zwölf Jahre, wenn es darum ging, demokratische Mehrheiten zu organisieren. Doch dadurch vertut die Opposition die Chance, Debatten über einzelne Sachfragen in eine Öffentlichkeit zu bringen, die wesentlich breiter wäre als die begrenzten Räumlichkeiten des Parlamentsgebäudes.
Dass sich Debatten in der polarisierten venezolanischen Gesellschaft durchaus organisieren lassen, zeigt das Beispiel des Universitätsgesetzes. Dieses hatte die alte Nationalversammlung im Dezember verabschiedet. Es sah unter anderem vor, die internen Strukturen der Universitäten zu demokratisieren. KritikerInnen sahen vor allem die Autonomie der Hochschulen gefährdet. Anfang Januar gab Chávez bekannt, sein Veto gegen das Gesetz einzulegen, weil es „aus politischen und technischen Gründen unanwendbar“ sei. Die Universitäten und die Bevölkerung rief er dazu auf, über die gewünschten Inhalte zu debattieren. Das Veto, das in Venezuela im Gegensatz zu den meisten Präsidialsystemen mit einfacher Mehrheit vom Parlament zurückgewiesen werden kann, führte zu einem ungewöhnlichen Schulterschluss in der neuen Nationalversammlung. Bei der ersten Abstimmung überhaupt wurde die Aufhebung des Gesetzes einstimmig beschlossen.

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