Lateinamerika | Nummer 317 - November 2000 | USA

Die vergessenen US-Amerikaner: Las Colonias

Die BewohnerInnen der US-mexikanischen Grenzregion kämpfen um ihre Rechte

Auf der Suche nach Arbeit zieht es jedes Jahr Tausende von MexikanerInnen gen Norden, in die USA. Doch der Traum vom besseren Leben bleibt häufig nur ein Traum und manch einer bleibt in der Grenzregion hängen. Über das Elend in den nordmexikanischen Städten wird immer wieder berichtet, doch dass es in der südlichsten Region der USA nicht besser aussieht, gerät kaum ins Licht der Öffentlichkeit. Dem will das Colonia Project abhelfen. Mit Hilfe eines Fotoprojekts von BewohnerInnen der colonias über ihre Lebenswelt, einer Internetseite und einem Dokumentarfilm von Héctor Galán, der an alle Kongressabgeordneten geschickt wurde, soll auf die Situation in den colonias aufmerksam gemacht werden. Das Projekt wird von mehreren Stiftungen und Universitäten unterstützt. Der Autor dieses Artikels, Rolando Hinojosa, zählt zu den bedeutendsten Chicano-Autoren. Er kämpft zudem seit Beginn des Chicano Movement unermüdlich für die Rechte der Mexican Americans.

Rolando Hinojosa

Was heißt es, an einem Ort
zu leben, in dem die Häuser keine Adressen, die Straßen keine Namen haben, an einem Ort, der auf keiner Landkarte des Staates Texas oder irgendeines anderen Staates zu finden ist? Was ist dies für eine Ort?
Es ist der Lebensraum der ärmsten Menschen in den USA, der vergessenen Amerikaner. An der Grenze zu Mexiko haben sich hauptsächlich Wanderarbeiter mexikanischer Herkunft niedergelassen. Sie selbst nennen diese Wohngebiete colonias [die mexikanische Bezeichnung für Stadtbezirke, Anm. d. Ü.].
Die Grenzregion zwischen Texas und Mexiko hat in den letzten Jahrzehnten eine regelrechte Bevölkerungsexplosion erlebt. Heute leben auf dem 1500 Kilometer langen Streifen von Brownsville/Matamoros bis El Paso/Juárez rund zwei Millionen Einwohner. Es ist die Region, die am meisten von der NAFTA, dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen, beeinflusst wird und in der seit Abschluss des Abkommens der Wohlstand gewachsen ist. Völlig unberührt von diesem keimenden Wohlstand bleiben jedoch die Bewohner der colonias, die im langen Lauf der Geschichte immer auf der untersten ökonomischen Sprosse standen.
Insgesamt gibt es an der Grenze zwischen den USA und Mexiko rund 1.500 colonias, von denen sich die meisten in der mexikanisch-texanischen Region befinden. Das Land hier ist billig, aber es ist auch vollkommen wertlos. In dieser Gegend bleiben die Straßen ungepflastert, die Versorgung mit Strom und Wasser ist ganz und gar unzureichend. Die Bewohner bauen ihre Häuser an Orten mit idyllischen Namen wie Expressway Heights oder Green Valley Farms – Namen, die dem wirklichen Zustand der colonias spotten.
Bauvorschriften gibt es keine. María Pérez und ihr Mann kauften zum Beispiel erst einen Trailer [amerikanischer Dauer-Wohnwagen; transportables Haus, Anm. d. Ü.], an den sie später weitere Teile anbauten. So entstand ein Haus mit drei Zimmern und einer kleinen Küche, in dem sie zusammen mit ihren acht Kindern leben.
Die ersten dieser behelfsmäßigen colonias entstanden in den 50er-Jahren. Das Land wurde von den Immobilienmaklern als relativ wertlos eingeschätzt und hauptsächlich an Migranten verkauft. Insbesondere in den 70er-Jahren verramschte man Tausende von Grundstücken zu heruntergesetzten Preisen und mit dem Versprechen auf die baldige Installation von Strom und Wasser. Die Preise waren niedrig, aber die Lebensumstände bewegten sich auf dem untersten Niveau. Da die angekündigte Wasserversorgung nie errichtet wurde, mussten sich die Bewohner damit behelfen, das Wasser für das tägliche Leben in Tonnen aufzubewahren.
Nicht nur, dass den Migranten leere Versprechungen gemacht wurden; sie wurden auch mit den Verträgen betrogen. Die Menschen dachten, sie würden die Parzellen kaufen und sie auch mit einem Mal bezahlen. Tatsächlich stellte sich in den meisten Fällen heraus, dass sie die Grundstücke nur gepachtet hatten und dass die so genannten Kaufverträge nicht rechtskräftig waren.
Als Frank Martínez aktiv wurde und einen eigenen Brunnen grub, musste er feststellen, dass die Wasserqualität miserabel war. Das Wasser war nicht trinkbar, es ruinierte seine Kleidung und zerfrisst die Wasserleitung. Aus diesem Grund muss Martínez seine Wasserleitung nun alle zwei Jahre auswechseln. Als die Bewohner dieser colonia versuchten, sich an die städtische Wasserversorgung der Nachbarschaft anschließen zu lassen, schlugen sie fehl, da es keinen öffentlichen Eintrag gab, der die Existenz ihrer colonia bestätigte. So waren sie gezwungen, ihren Wasserbedarf auf illegale Weise zu sichern.

Wertloses Land für die Migranten
Auch in Sunny Skies gibt es keine Wasserleitungen. Die ganze colonia ist von einem einzigen Wasserhahn am Straßenrand abhängig. Es ist zwar eigentlich verboten, aber viele Familien haben ihre privaten Wasserschläuche mit diesem einen Hahn verbunden.
Doch nicht nur der Wassermangel stellt ein Problem dar; auch ein Zuviel an Wasser kann wegen der fehlenden Kanalisation zu Katastrophen führen. Ein Grundstücksverkäufer hatte 15 Zentimeter Erde abgetragen, so dass jetzt jeder kleinere Regen gleich eine Überschwemmung auslöst. Der Tod durch Ertrinken ist dort deshalb kein seltener Fall. Erst kürzlich wäre fast wieder ein Paar auf dem Heimweg in seinem Auto ertrunken.
Vor fünf Jahren sah Rosie Leija eine Anzeige für Grundstücke in Green Valley Farms. Sie zog mit ihrem Wohnmobil dorthin um, ohne dass man ihr gesagt hatte, dass das Grundstück Mittelpunkt eines periodischen Sees war. Als es regnete, war ihr Haus ruiniert. Aber Rosie schaute nicht einfach zu, sie reagierte. Wieder und wieder ging sie zum Kreisgericht und legte die Schwierigkeiten dar, mit denen ihre colonia konfrontiert war. Die Beamten, von denen viele keine Ahnung von den herrschenden Zuständen hatten, konnten nichts tun, da die colonia kein integrierter Teil ihres Landkreises war. Rosie schrieb Briefe und brachte ihre Geschichte vor Gericht, aber als Wanderfeldarbeiterin musste sie nach einer Weile ihr Heim mit Brettern vernageln und die colonia verlassen, um im Mittleren Westen der USA zu arbeiten.
Von Frühling bis Herbst holt sie, wie viele andere WanderarbeiterInnen, auf den Feldern die Ernte ein, zu einem Lohn, der häufig das staatlich anerkannte Minimum unterschreitet. Wenn die Erntezeit vorüber ist, kehren die Migranten in das Rio Grande Valley in Texas zurück, die Gegend mit der höchsten Arbeitslosenzahl. Die colonias in Texas haben auch die landesweit höchste Rate an Krankheiten wie Hepatitis und Typhus.
Der unregelmäßige Schulunterricht beeinträchtigt die Kinder, die die Schule jedes Jahr bereits im Frühling verlassen und erst im Herbst zurückkehren und so jährlich die letzten zwei Monate des Unterrichts verpassen. In den colonias gibt es weder Parks noch Spielplätze, noch andere Orte, an denen die Kinder sich nach der Schule amüsieren können. Mehr als 50 Prozent dieser Kinder werden niemals die höhere Schulbildung abschließen. Das ist zur Zeit die Lage in den meisten colonias.
In Green Valley Farms, im texanischen Landkreis Cameron jedoch schrieb Rosie Leija weiterhin Petitionen und trat solange vor das Kreisgericht, bis die Legislative des Staates Texas über den Fall informiert war. Ihr Beispiel hat Früchte getragen. Die Beamten des Kreisgerichts Cameron haben die texanische Justiz informiert. Daraufhin haben die hispanischen Kongressabgeordnete und Senatoren Gesetzesinitiativen gestartet, die die Betrügereien der Verkäufer zügeln sollen. Interessanterweise war diesen Repräsentanten gar nicht bewusst, mit welchen Problemen sich ihre Klientel herumschlägt. Sie haben nun ihre Anstrengungen verschärft, um die Lage in Ordnung zu bringen. Eine Stiftung aus dem Industriesektor und der Staat steuerten Gelder bei, und Valley Interfaith, eine religiös-laikale Organisation, ist hauptverantwortlich dafür, die Notlage der colonias ans Licht zu bringen – sowohl innerhalb des Staates als auch auf nationaler Ebene.
Nach fünf Jahren Kampf wird Leijas colonia nun ihre erste asphaltierte Straße erhalten. Ein kleiner Sieg, aber auch andere colonia-Bewohner haben begonnen, sich in Selbsthilfeprogrammen zusammenzuschließen. Eines dieser Programme, EPISO, half dabei, Häuser für Migranten zu bauen. Es ist ein langsamer Prozess, doch es ist ein Anfang. Es wird noch lange dauern, bis die Rechtsmittel verbessert und die Jahre der Vernachlässigung kompensiert sind, aber die Rosie Leijas der colonia werden der Gerichtsbarkeit bei der Durchsetzung ihrer Rechte gründlich auf die Finger schauen. Wie so oft, wenn es um die Belange der Unterprivilegierten geht, wurde der Prozess durch das intensive Engagement einer Organisation in Gang gesetzt. Die Bewohner haben geschworen, in ihrer Achtsamkeit nicht nachzulassen. Nur die Zeit wird zeigen, ob Strom, Wasser, Kanalisation und feste Straßen in den 1500 Kilometern zwischen Brownsville und El Paso, Texas, Wirklichkeit werden.
Wie sagte Rosie Leija? „Wir leben im reichsten Land der Welt, wir sind Bürger und Bürgerinnen dieses Landes und wir zahlen unsere Steuern. Wir verdienen es, gehört zu werden.“ Vielleicht werden die colonia-Bewohner bald keine „vergessenen US-Amerikaner“ mehr sein.

Rolando Hinojosa
Übersetzung:
Ann-Catherine Geuder
Informationen zum Colonia Projekt: www.lascolonias.org


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