Die Verräter
Der Kurzgeschichtenband Los culpables des mexikanischen Schriftstellers Juan Villoro
Während einige Autoren ihre Produktion auf eine oder zwei literarische Gattungen beschränken, scheinen sich andere nur wohl zu fühlen, wenn sich ihre Feder frei durch mehrere bewegt. Zu dieser zweiten Gruppe gehört der mexikanische Schriftsteller Juan Villoro. Betrachten wir die Gesamtheit seines Werkes, bestehend aus Essays, Chroniken, Erzählungen, Romanen, Kinderbüchern, einem Drehbuch und einem Drama, ähnelt dieses einem Schnabeltier. Jedoch zirkuliert durch die Arterien dieses Schnabeltier-Werkes das gleiche Blut, der unverkennbare Stil und Humor von Villoro. Schon nach der Lektüre einiger Seiten seines letzten Kurzgeschichtenbandes Los culpables – ausgezeichnet mit dem Antonin-Artaud-Preis für Erzählliteratur 2008 –, ist die Handschrift des Autors von Efectos personales zu erkennen. Trotzdem verfügt jede einzelne der Erzählungen dieses Bandes über einen eigenen Stil, der sie voneinander unterscheidet. Die Geschichte, die in diesem Sinne am meisten abweicht, ist „Orden suspendido“. Der Erzähler, ein von mörderischen Impulsen getriebener Fensterreiniger, schildert die Ereignisse mit Härte und Prägnanz: „Ich hasse die Flecken. Ich habe in der Schule zuviel Kontaktkleber inhaliert und eines Nachts verstanden, dass die Flecken Spinnen waren, die in meiner Haut steckten. Ich wollte sie mit einem Messer herausholen. Mein Vater rettete mich, indem er mir ins Gesicht trat. Dabei hat er meinen Kiefer gebrochen. Ich wurde mit Draht genäht und musste wochenlang Suppe mit einem Strohhalm essen. Den Kontaktkleber aufzugeben ist nicht einfach.“
In der Erzählung „El silbido“ wird, in Umgangssprache, die Geschichte eines Fußballers dargelegt, der seinem eigenen Team gegenüber illoyal ist. Eine andere Erzählung handelt vom Leben eines mariachis, der mit der Größe seines Geschlechts unzufrieden ist und seinen Beruf hasst, der es mit sich bringt, dass er „mit einem zwei Kilo schweren Hut” singen muss. In „Patrón de espera“ tauchen die LeserInnen in das Leben eines Angestellten ein, der, während er im Flugzeug sitzt, eine Geschichte voller Hinweise liest, die ihm ermöglichen, das Doppelleben seiner Partnerin zu erraten. „El crepúsculo maya“ schildert die Reise von einer Frau und zwei untreuen Freunden (ein von seinen Musen verlassener Poet und ein Reisechronist) von Oaxaca nach Yucatán. „Los culpables“ berichtet über das Leben von zwei Brüdern, die Lastwagenfahrer sind und ein Drehbuch über die Grenze zwischen Mexiko und Nordamerika schreiben. Der eine fühlt sich schuldig, weil er mit der Frau seines Bruders geschlafen hat, der andere würde sich gerne schuldig fühlen, weil er meint, dass er nur so genug Kreativität erlangen kann, um das Drehbuch zu schreiben. Diese ungleichen Geschichten sind durch ein Grundthema miteinander verbunden: die Untreue in ihren verschiedenen Formen und ihre Kehrseite, die Schuld.
Villoros Humor ist weder sarkastisch noch bitter, sondern eher heiter
Der das Werk Villoros durchziehende Humor ist weder sarkastisch noch bitter, sondern eher heiter. Allerdings dient er nicht nur der Unterhaltung, sondern stimuliert die Reflektion. In „Los culpables“ erlangt der Humor überraschend einen schaurigen Einschlag und dient als Ventil der durch die Erzählung hervorgebrachten Spannung. In einer Szene dieser Geschichte transportiert der Protagonist einige dehydrierte MigrantInnen im Kofferraum seines Lieferwagens. Auf dem Weg hält der Fahrer an, um zu urinieren. Er hört keinen Ton aus dem Kofferraum und denkt, dass die MigrantInnen erstickt, verhungert oder verdurstet sind. Er unternimmt aber nichts, sondern setzt seine Fahrt fort, bis er sein Ziel erreicht hat: einen Vorort von Phoenix. „Ich hielt das Auto an und bekreuzigte mich”, berichtet der Erzähler. „Als ich den Kofferraum öffnete, sah ich reglose Körper und rot gefärbte Kleidungsstücke. Dann hörte ich lautes Lachen. Erst als ich die von schwarzen Kernen beschmutzten Hemden sah, fiel mir ein, dass ich drei Wassermelonen dabei hatte.“
Verweilen wir nun einen Moment bei der umfangreichsten Geschichte dieses Bandes: „Amigos mexicanos“. Zusätzlich zu Freundschaft und Untreue trifft man in dieser Novelle auf ein anderes Thema: das „Mexikanische“ im Blick des Anderen, nämlich des Europäers und des Nordamerikaners, ein Thema, über das der Autor auch in seinen Chroniken und Essays reflektiert.
In „Amigos mexicanos“ treffen wir auf den Charakter Samuel Katzenberg, ein US-Amerikaner der nach Mexiko-Stadt reist, um eine Reportage zu schreiben, die das „wahre“ Mexiko erfasst: das wilde, magische, buñueleske Mexiko seiner Vorstellung. Da Katzenberg sich von der mexikanischen Alltagsrealität enttäuscht zeigt, beschäftigen sich der Erzähler und sein Freund Gonzalo damit, ihm ein hyperbolisch exotisches, das heißt, ein künstliches Mexiko zu zeigen, um seine Begierde nach „Authentizität“ zu befriedigen. Gonzalo vollzieht ein Fruchtbarkeitsritual auf dem Dach und führt ihn zur „Hütte einer kranken Wahrsagerin, die sie Zuckerrohr kauen lässt, um in der Bagasse ihr Schicksal zu ergründen“. Das Restaurant, in dem sie essen, wird dem selben Ziel folgend ausgewählt. „Ich habe das Restaurant gut ausgesucht“, sagt der Erzähler, „ideal um Katzenberg zu quälen und ihn dazu zu bringen, dass er auch noch dafür dankt, dass ich ihn zu einem authentischen Ort geführt habe. Es gab Rancheromusik in voller Lautstärke, Stühle in den Farben eines Spielwarenladens, die wir Mexikaner nur an ‚typischen’ Orten zu sehen bekommen, sechs scharfe Soßen auf dem Tisch und eine Karte mit einer Vielfalt von Insekten; Ärgernisse, die ausreichend folkloristisch waren, damit mein Gast sie als ‚Erlebnisse’ erleiden konnte.“
Das nordamerikanische Kino, sagt Villoro, stellt Lateinamerika gern als eine malerische, wilde, magisch realistische Region dar. So ist „der Mexikaner“ zum Beispiel in den Filmen Hollywoods jemand, der einen beispielhaften Schnurrbart trägt und laut lacht, wenn er seinen besten Freund tötet“ (Efectos Personales), oder er ist „der schlafende Mann neben seinem Esel, der aufwacht, um seine Mutter für eine Flasche Schnaps zu verraten, dieses hinterher zu spät bereut und seinen Sombrero auf den (immer staubigen) Boden schmeißt“ (Safari accidental). Diese Klischees sind allerdings nicht ausschließlich eine Fabrikation der europäischen und nordamerikanischen Kulturindustrie, sondern auch einiger lateinamerikanischer KünstlerInnen und SchriftstellerInnen – vertreten durch Gonzalo und den Erzähler von „Amigos mexicanos“ –, die sich damit beschäftigen, dem Europäer und Nordamerikaner eine „künstliche Authentizität“ zu erschaffen und anzubieten, die deren Vision eines Lateinamerikas als „Utopie der Rückständigkeit“ befriedigt.
Juan Villoro // Los culpables // Anagrama // Barcelona 2007 // 164 Seiten // 15,00 Euro // www.anagrama-ed.es