Literatur | Nummer 275 - Mai 1997

Die Welt ist ein hinkender Tausendfüssler

Roque Daltons biographischer Roman über den legendären salvadorianischen Kommunisten Miguel Mármol

Der salvadorianische Schriftsteller und Revolutionär Roque Dalton hatte nicht das Glück wie Miguel Mármol, seine eigene Hinrichtung zu überleben. Er wurde 1975 aufgrund einer Intrige von seinen eigenen Parteigenossen des “Revolutionären Volksheeres” (ERP) exekutiert. Vorher jedoch gelang es ihm die Geschichte aufzuschreiben, die ihm ein dreißig Jahre älterer Landsmann erzählte und die Eduardo Galeano als “vollkommene Metapher für Lateinamerika” umschreibt.

Markus Müller

“Gebe Gott, daß du im Leben mehr Glück als Verstand hast”, pflegte Mármols Mutter ihrem Sohn stets zu sagen, und wahrlich, der Herr scheint ihr Flehen erhört zu haben. Unzählige Male gelang es Mármol auf wundersame Weise, den Fallen und Fängen seiner Häscher zu entfliehen. Wenn ihn die salvadorianische Polizei “das rote Gespenst” nannte, dann deswegen, weil er immer und überall auftauchte und gleichzeitig nirgends zu finden war. Und wenn man ihn eigentlich in irgendeinem Kerker schmorend vermutete, sah man ihn plötzlich vor einer Menschenmenge agitative Reden schwingen. So ist Miguel Mármols Lebensgeschichte im wesentlichen eine Art Dr. Kimbel auf der Flucht, transponiert ins El Salvador der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre.
Die zweifelsohne haarsträubendste Episode ist seine Festnahme und Hinrichtung im Zusammenhang mit dem Bauernaufstand im Januar 1932, die er auf wundersame Art und Weise überlebte. Der Aufstand wurde von Polizei und Militär des Generals Maximiliano Hernández Martínez, der sich knapp zwei Monate zuvor an die Macht geputscht hatte, blutig niedergeschlagen. Rund 30.000 campesinos, vor allem aus der indigenen Bevölkerung El Salvadors, wurden in kürzester Zeit ermordet. Dies war nicht nur für Miguel Mármol das prägende Ereignis seines Lebens: das Massaker von 1932 – das größte in der Geschichte Lateinamerikas – zerstörte sämtliche demokratischen Volksorganisationen und traumatisierte die Bevölkerung El Salvadors über Jahrzehnte hinweg.
Insofern ist die Geschichte des Kommunisten Mármol nicht nur ein packender und kurzweiliger Abenteuerroman, sondern das einzige umfangreiche Zeitzeugnis eines Überlebenden einer der dunkelsten und schmerzlichsten Episoden der salvadorianischen und lateinamerikanischen Geschichte und deswegen, trotz seines anekdotenhaften Charakters, von unschätzbarem Wert, vor allem auch für die salvadorianische Oppositionsbewegung.

Testimonio-Literatur als Geschichtsschreibung “von unten”

“Diesen Teil der Geschichte für die Sache des Volkes nützlich zu machen”, war auch das wichtigste und selbsterklärte Anliegen von Roque Dalton, der Mármols testimonio (Zeugenbericht) in schriftliche Form faßte und veröffentlichte. Er folgte damit dem erst jungen literarischen Genre des testimonio-Romans, das mit Miguel Barnets Biografía de un Cimarrón (1966; dt. Der Cimarrón, 1969) seinen Anfang nahm. Der kubanische Anthropologe hatte den mündlichen Bericht eines über hundert Jahre alten schwarzen Sklaven zu einem poetischen Text verdichtet und veröffentlicht. testimonio-Literatur hat neben dem literarischen vor allem ein politisches Anliegen: Sie ist Geschichtsschreibung von unten, die den Teil der “historischen Realität” erzählen will, der in den offiziellen Geschichtsbüchern allzuhäufig verschwiegen wird: Ausbeutung und Unterdrückung großer Teile der Bevölkerung durch die kleine Minderheit der Herrschenden. Diejenigen sollen zu Wort kommen, die bei den großen Banketten nicht anwesend sind und die die internationalen Verträge nicht unterschreiben. Methodologisch verpflichtet sich Roque Dalton ganz explizit dem Marxismus-Leninismus, sein Ziel ist die “direkte und offene Anklage gegen den Imperialismus und die salvadorianischen herrschenden Klassen, gegen das kapitalistische System als internationalisierte Form der Herrschaft und der Ausbeutung des Menschen”.
Das Motiv der Anklage schimmert in Roque Daltons gesamtem Werk durch, das von der Poesie über Kurzgeschichten und Essays bis zum Roman reicht. Er wird darin auch häufig sehr polemisch aber nie plump, sondern behält meist ironische Distanz. Vor allem in seinem autobiographischen Roman Pobrecito poeta que era yo (1976; dt. Armer kleiner Dichter, der ich war; Rotpunktverlag), in dem er die Konflikte eines bürgerlichen Intellektuellen mit seiner revolutionären Gesinnung ausbreitet, stellt er seine schriftstellerischen Fähigkeiten unter Beweis.
Letztlich sollte die marxistisch-leninistische Programmatik als Produkt ihrer Zeit verstanden werden. Die Exzesse des stalinistischen Terrorregimes waren zwar bekannt, und sowohl Roque Dalton als auch Miguel Mármol distanzieren sich ganz explizit von ihnen, andererseits war die kubanische Revolution zur Entstehungszeit des Textes gerade sieben Jahre alt und stellte für die gesamte linke Intellektuellenschaft eine große Hoffnung dar. Das Buch ist damit der spannende Bericht aus einer Zeit, in der “Ideologie” noch kein Schimpfwort war und Begriffe wie “Volk” oder “Masse” dem politisch korrekten Menschen noch keine Zahnschmerzen und Bauchkrämpfe verursachten.

Mármols Politisierung

Wie es sich für eine Lebensgeschichte gehört, fängt sie mit der Geburt des Helden an, berichtet von seiner Familie, den ärmlichen Verhältnissen, in denen er aufwächst, von seiner Jugend, wie er sein großes Mundwerk bekommt und wie er schließlich den Beruf des Schuhmachers erlernt. Sein erster Meister sensibilisiert Mármol für politische Fragen und weckt sein Interesse an der bolschewistischen Revolution. Mármol beginnt, sich und seine Kollegen gewerkschaftlich zu organisieren, wodurch er bei der Obrigkeit zusehends in Ungnade fällt. Doch anstatt sich bekehren zu lassen, wird er nur noch aufmüpfiger und mischt bei der Gründung und dem Aufbau von Gewerkschaften in seinem Heimatdorf Ilopango kräftig mit und wird schließlich Mitgründer der “Kommunistischen Partei El Salvadors” (PCS). Von nun an ist sein Leben geprägt von der politischen Arbeit, dem Katz und Maus-Spiel mit Polizei und Militär und den Folterungen und Demütigungen im Gefängnis.
1930 reist Mármol als Delegierter der PCS zum “Kongreß der Roten Gewerkschaftsinternationale” in die UdSSR. Er ist beeindruckt und begeistert von den sozialen Errungenschaften der frühen Sowjetunion, nimmt an Vorträgen, Diskussionen und Fabrikführungen teil und versucht wie ein Schwamm, möglichst viele Eindrücke und Erfahrungen in sich aufzusaugen und mit in sein Heimatland zu nehmen. Wie viele seiner Zeitgenossen zeigt auch er – trotz der bereits erwähnten Stalinismuskritik – einen gewissen Hang zur Verklärung: “Das wichtigste aber war, daß die Menschen all diese Schwierigkeiten mit Geduld … ertrugen. Alle wußten welche Ursachen ihnen zugrunde lagen, von den Sprechern der Massenbewegungen bis hin zu den Schulkindern. Das ganze Volk kannte die Perspektiven, denn die sowjetische Regierung sagte ihm die Wahrheit und betrog es nicht mit falschen Versprechungen …”

Wie man seine eigene Hinrichtung überlebt…

Das Kernstück des Buches bildet jedoch die Schilderung der Ereignisse um den bereits erwähnten Bauernaufstand 1932. Mármol beschreibt darin ausführlich die Rolle der Kommunistischen Partei innerhalb dieser Bewegung, eine Frage, die in El Salvador nach wie vor kontrovers diskutiert wird. Sowohl bestimmte Teile der Linken als auch der Rechten, versuchen den Aufstand als Werk der Kommunisten darzustellen: die Rechten, um das Massaker als notwendige Säuberung des Landes von kommunistischen Elementen zu legitimieren, die Linken, um sich als Avantgarde des Volkes zu präsentieren. In Mármols Schilderung wird indes deutlich, daß die PCS auf einen Aufstand überhaupt noch nicht vorbereitet war. Erst als die Volksseele derart kochte, daß er nicht mehr vermieden werden konnte, versuchten die Kommunisten, die Koordination des Aufstandes zu übernehmen, was ihnen allerdings praktisch nicht gelang. Er kostete sie jedoch ihre wichtigsten Köpfe, darunter Agustín Farabundo Martí, nach dem sich 1980 die salvadorianische Guerilla FMLN benannte. Wie Miguel Mármol selbst das Massaker überlebte, beschreibt er auf schillernde Art und Weise: “-Wer möchte jetzt sterben?, fragte der Hauptmann. -Ich! schrie ich und trat einen Schritt vor…. Die Polizisten schwitzten trotz der Kälte der Nacht. Mich juckte es am ganzen Körper, aber ich konnte mich nicht kratzen, weil meine Hände gefesselt waren…. Die erste Salve ging über unsere Köpfe hinweg. – Nicht einmal richtig schießen haben sie gelernt, diese Arschlöcher! schrie ich zornig.” Mármol entgeht dem Gnadenschuß schließlich nur, weil die einem anderen ausgetretene Gehirnmasse auf seinem Kopf landete und er somit einen ziemlich toten Eindruck machte. Wie man sieht, wäre Mármol fast als der “echte Macho” gestorben, als den er sich bis zu seinem Tod 1993 sah.
Dalton fasziniert die Widersprüchlichkeit der Person Miguel Mármol. Er sieht in ihm einerseits den Kommunisten, der mit marxistischen Vokabular einigermaßen umzugehen weiß, andererseits “hat er große religiöse Vorurteile, ist abergläubisch, glaubt an indianische Mythologien und seine eigenen übernatürlichen Kräfte”. Um den Bericht so authentisch wie möglich zu belassen, übernimmt Dalton den derben Erzählstil Mármols, der dem Buch seine kostumbristisch-schelmenhafte Aura verleiht und gleichzeitig nie übertrieben oder gekünstelt wirkt. Und so geschieht es, daß der/die LeserIn, trotz all der fürchterlichen Dinge, die da berichtet werden, recht häufig darüber lacht, wie Mármol sie erzählt.
Die Übersetzung ist manchmal zu ungenau, wodurch der folkloristische Stil Mármols abgeflacht und damit verfälscht wird. Insgesamt handelt es sich jedoch um ein rundum gelungenes Werk, gut zu lesen, zugleich mitreißend und erschütternd wie ein tropischer Regenguß.

Roque Dalton: “Die Welt ist ein hinkender Tausendfüssler – Das Jahrhundert des Miguel Mármol”, Rotpunktverlag Zürich, 1997, 415 Seiten, 47.-DM
(ca. 25 Euro).

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