Bolivien | Nummer 284 - Februar 1998

Drogenkrieg im Chapare

Die tägliche Arbeit der „ökologischen Polizei“

Boliviens Krisenprovinz kommt nicht zur Ruhe. Der Chapare, nur wenige Stunden nördlich von Cochabamba im tropischen Tiefland gelegen, ist das zweitgrößte Kokaanbaugebiet der Welt. Grund genug für die USA, die Ausrottung der Kokapflanzungen zu verlangen und dies mit vehementem wirtschaftlichem Druck auf die Regierung zu unterstreichen. Am Ende der Kette von Druck und Gewalt stehen die Kokabauern, deren Menschenrechte, gegenüber der Ausrottung um jeden Preis, nichts gelten. Die vorliegende Reportage von Kai Ambos entstand 1997 noch vor dem Regierungswechsel in Bolivien. Sie hat allerdings sowohl in Bezug auf den Alltag im Chapare als auch auf die US-Drogenpolitik nichts an Aktualität verloren. Nach einigen ruhigeren Monaten direkt nach Amtsantritt des neuen Präsidenten Banzer erklärte Evo Morales, Chef der Kokabauerngewerkschaft schon im Dezember, die Absprachen mit der Regierung seien nach willkürlichen Polizeieinsätzen gescheitert. Business as usual im Chapare.

Kai Ambos

Ein Tag wie jeder andere in Chimoré, dem Hauptort des Chapare und Sitz der von der USA trainierten Drogenpolizei UMOPAR (Unidades Móviles de Patrullaje Rural). Um sechs Uhr morgens startet eine Kolonne von 19 Militärfahrzeugen. Etwa 400 Polizisten von UMOPAR und von der „ökologischen Polizei“, die für die eigentliche Kokazerstörung zuständig ist, sowie Repräsentanten der zivilen Kokakontrollorgane DINACO und DIRECO (Konversionsbehörde) nähern sich der kleinen Ortschaft Litoral, 70 km nördlich von Chimoré. Die schon früh morgens auf den Feldern arbeitenden Bauern werden vollkommen überrascht. Die Polizisten, zum Teil schwer bewaffnet und martialisch gekleidet umstellen eine Gemeinde von 100 wehrlosen, allenfalls mit Macheten bewaffneten Bauern, um der „ökologischen Polizei“ den Weg zu ihrer täglichen Arbeit frei zu machen: Die Kokazerstörung in Erfüllung der von den USA diktierten jährlichen Zerstörungsziele kann beginnen. 1997 sollen bis August 8.000 ha Kokapflanzungen zerstört werden, nachdem 1996 das Soll von 6.000 ha erreicht wurde.
Auf Proteste der Bauern wird wenig Rücksicht genommen. Vor dem Hintergrund des jährlichen US-Solls verschwimmen menschliche Einzelschicksale, werden irrelevant. Der Polizeiapparat handelt wie eine Maschine. Wenn es dabei auch zu Ungerechtigkeiten kommt, dann seien dies, so Polizeivertreter, Einzelfälle, die man hinzunehmen habe. Die Argumentation erinnert an das zu Zeiten der Aufstandsbekämpfung übliche: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“. Doch was die einen als Einzelfälle bezeichnen, ist für die anderen Normalität. Kokapflanzungen – eigentlich erlaubt im Rahmen des traditionellen Anbaus und Konsums – werden gegen den Willen der Bauern ebenso regelmäßig zerstört wie sogar legale alternative Pflanzungen von beispielsweise Platanen und Zwergpalmen.
Die gesetzlich vorgesehenen Entschädigungen für die Zerstörung von Kokapflanzungen in Höhe von 2000 US-Dollar pro Hektar werden nicht, oder erst nach Druck der Bauern verspätet gezahlt. Nicht selten wird die Zahlung zurückgehalten, um die Bauern zu weitergehender Kokazerstörung zu drängen. Daß dies illegal ist, muß auch der Direktor der zuständigen Konversionsbehörde (DIRECO) zugeben: „Aber sehen Sie, ich bin kein Jurist, ich bin Agronom“. (Diese Zahlungen sind von der neuen Regierung Banzer völlig abgeschafft worden, Anm. d. Red.)

Die Polizei sucht wie immer den Konsens

Die Bauern sind verbittert. „Die Polizei“, so einer der Führer des Dorfes Litoral noch unter dem Eindruck der erwähnten Operation, „provoziert uns ständig. Die spritzen Tränengas, schlagen uns, schießen in die Luft und nehmen keine Rücksicht auf unser Eigentum“. Eine andere Version liefert der zuständige Polizeikommandant: „Wir haben, wie immer, den Konsens gesucht. Es gab keine Gewalt. Wir haben unsere Aufgabe, wie immer, friedlich erledigt.“ Ähnlich äußern sich auch andere Vertreter der Drogenkontrollorgane. „Wir erfüllen nur unsere Pflicht“ erklärt der Direktor von DIRECO den Vertretern des Menschenrechtsbüros des Justizministeriums. „Hier gibt es keine Koordination“. Während er dies sagt, ist die Drogenoperation in Litoral schon fast zu Ende. Kein Wort davon in seinen Erklärungen. Gibt es wirklich keine Koordination?

Polizeiliche Übergriffe ohne Ende
In einer Bauernversammlung in Alto San Pablo, 25 km südlich von Chimoré, lassen die Bauern ihrer Verbitterung freien Lauf. Einige der kürzlich in einer Drogenoperation Festgenommen erzählen, wie sie von der Polizei mißhandelt wurden. Ein Ehepaar berichtet unter Tränen, daß seine Tochter nach einer Vergewaltigung durch die Polizei von zu Hause weggelaufen sei. Der Vater habe nur einen Brief seiner Tochter erhalten, in dem sie geschrieben habe, daß sie sich schäme, ihm nochmal unter die Augen zu treten. Ein anderer Bauer beschreibt, wie die UMOPAR tagtäglich agiert: „Sie beschimpfen und schlagen uns. Sie nehmen nicht einmal auf unsere Frauen Rücksicht, stoßen und schlagen sie“. Er unterbricht seine Erklärungen, weil er vor ohnmächtiger Wut zu weinen beginnt. Eine ältere Bäuerin tritt vor und zeigt einen alten Kokastrauch, jammernd, daß die Polizei nicht nur ihre traditionelle Koka zerstört, sondern sogar von ihr verlangt habe, die tiefsitzende Wurzel mit eigenen Händen herauszureißen: „Nur dann erhältst Du die Entschädigung“ tönen die Polizisten.
Andere Bauern melden sich und erzählen weitere Geschichten. Wie die UMOPAR in ihre Häuser eindringt und ihre ohnehin spärlichen Habseligkeiten mitgehen läßt. Wie sie wie Tiere, nicht aber wie Menschen mit einer entsprechenden Würde behandelt werden. Die Zeugnisse der Bauern machen deutlich, wie wichtig eine zivile und rechtsstaatliche Kontrolle der Drogenkontrollaktivitäten in der Region ist. Das im Dezember 1995 vom Justizministerium eingerichtete Menschenrechtsbüro ist angesichts der ständigen und überall stattfindenden Exzesse völlig überfordert. Seine Repräsentanten, ein Arzt und ein Jurastudent, tun zwar, was sie können, indem sie die Vorwürfe der Bauern entgegennehmen und an die zuständigen Stellen weiterleiten. Doch es ist unmöglich, mit zwei Personen die Polizeioperationen auf einer Fläche von 24.000 qkm mit 240.856 Einwohnern zu überwachen. Trotzdem ist das Büro die einzige staatliche Stelle, zu der die Bauern – mehr und mehr – Vertrauen gewinnen, weil es in zahlreichen Fällen zur Verteidigung ihrer Menschenrechte eingeschritten ist.

Willkürliche Festnahmen und unmenschliche Haftbedingungen

In der Kaserne der UMOPAR in Chimoré werden die während der Drogenoperationen Festgenommenen „aufbewahrt“. Es handelt sich um eine „Aufbewahrungsstelle, nicht um ein Gefängnis“, so der zuständige Kommandant. Die Bedingungen entsprechen allerdings denen anderer lateinamerikanischer Gefängnisse: 200 Inhaftierte bei einer Maximalkapazität von 50 Personen, bis zu 25 Personen in einer Zelle, 3 Toiletten und 3 Duschen, eine erbärmliche Hitze und stickige Luft, die selbst in der Nacht nicht verschwindet und so das Schlafen fast unmöglich macht. Hier befinden sich nur Kokabauern, pisacocas (Kokatreter, sie stampfen die Kokablätter zusammen mit Chemikalien zu einem Brei, die erste Stufe der Kokainproduktion) und allenfalls Kleintransporteure. Von wirklichen Drogenhändlern keine Spur. Die meisten Inhaftierten kennen den Grund ihrer Haft überhaupt nicht. Sie befinden sich schon seit Monaten hier, ohne einen Richter gesehen zu haben.
Die zur Verteidigung sozial Schwacher eingerichtete „Defensa Pública“ ist nur mit einem Anwalt vertreten und dementsprechend überfordert. Diese „Marktlücke“ füllen skrupellose freie Rechtsanwälte und bieten ihre Dienste zu horrenden Preisen an: ein einseitiger „Schriftsatz“ kostet zwischen 100 bis 500 US-Dollar und wird aus den überwiegend hilflosen und unwissenden Bauern unter dem (falschen) Versprechen sofortiger Freilassung herausgepresst. Besonders eine Rechtsanwältin wird von den Vertretern des Menschenrechtsbüros des Justizministeriums und der Defensa Pública angegriffen. Bei einem nachfolgenden Gespräch mit den Inhaftierten in Anwesenheit der zwei zuständigen Drogenstaatsanwälte verläßt die betreffende Anwältin das Gefängnis erst nach zahlreichen Aufforderungen der Staatsanwälte und der Vertreter des Menschenrechtsbüros. Dann brechen die Vorwürfe aus den Inhaftierten heraus: Viele Anwälte versprächen ihnen die sofortige Freilassung und verlangten dafür unglaubliche Gebühren, wollten dann aber von diesen Versprechen nichts mehr wissen. Vielmehr drohten sie ihnen vielfach mit harten Strafen und härteren Haftbedingungen, sollten sie es wagen, sich zu beschweren. Die Staatsanwälte wiesen ihnen sogar häufig diese Art von Anwälten zu, ohne daß sie sich dem widersetzen könnten. Die Haftbedingungen seien unerträglich, der Zellenschluß sei zu früh, Ausgang zu wenig, Verwandtenbesuch kurz und mit erheblichen Wartezeiten verbunden.

Von Menschenrechten und Staatsgewaltigen

Die Drogenstaatsanwälte nehmen die Anzeigen kühl und distanziert auf. Im nachfolgenden Gespräch beim zuständigen UMOPAR-Kommandanten kommt es zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen den Vertretern des Menschenrechtsbüros und der Defensa Pública auf der einen, sowie den Staatsanwälten und der Polizei auf der anderen Seite. Weder Polizei noch Staatsanwälte wollen die Verantwortung für die Unregelmäßigkeiten in der „Aufbewahrungsanstalt“ übernehmen. Erst auf Druck der Vertreter des Menschenrechtsbüros und der Androhung disziplinarischer Schritte verpricht einer der Staatsanwälte, die Fälle zu untersuchen.
Die Sonne ist schon lange untergegangen. Es ist 21.00 Uhr. Unser Besuch in der Kaserne der UMOPAR – man sollte vielleicht besser sagen in der Haftanstalt auf dem Kasernengelände – hat länger gedauert als geplant. Die Inhaftierten haben den Strohhalm ergriffen, den wir ihnen anbieten konnten. Es ist kein Zufall, daß wir sie zuletzt besuchen. Hier schließt sich der Kreis: Der Drogenkrieg im Chapare beginnt am Morgen mit Polizeieinsätzen gegen wehrlose Bauern und endet vielfach mit ihrer Verhaftung oder Inhaftierung der mulas, der bäuerlichen Transporteure von geringfügigen Mengen an – nicht registriertem – Koka, Kokapaste oder manchmal auch Kokain. Die großen Fische sitzen in den Handelsmetropolen und Kokainumschlagplätzen Kolumbiens, Venezuelas, Mexikos, der USA und Europa, einige auch in Bolivien, in Cochabamba und Santa Cruz. Doch von ihnen ist hier nicht die Rede. Der Drogenkrieg im Chapare ist ein von den USA auf dem Rücken der Bolivianer geführter symbolischer Krieg ohne Auswirkungen auf die Nachfrageseite in den Industrieländern.
Im Rahmen der Zuständigkeit des bolivianischen Justizministeriums für die Wahrung und Förderung der Menschenrechte wurde am 6.12.1995 in Chimoré das erste Menschenrechtsbüro (Oficina de Derechos Humanos-ODDH) eröffnet.Weitere Menschenrechtsbüros sollen, so der „Nationale Menschenrechtsplan“, in Challapata (Potosí), Monteagudo (Chuquisaca) und Riberalta (Beni) eröffnet werden. Das Büro von Chimoré hat seinen Sitz in einem schlichten Haus, in dem auch die Filiale der staatlichen Pflichtverteidigung (Defensa Pública) untergebracht ist, und besitzt eine technische Mindestausstattung (Computer, Drucker, Telefon, Fax). Von Chimoré aus soll das gesamte Gebiet des Chapare kontrolliert werden, was natürlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Bei Kenntnis eines Drogeneinsatzes informieren die Bauern umgehend die ODDHH, deren Mitarbeiter, sofern möglich, sofort zum Einsatzort fahren, um zwischen Sicherheitskräften und Bauern zu vermitteln und größere Gewaltausbrüche zu verhindern. De facto garantiert die Präsenz der ODDHH zwar einen größeren Respekt der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte, doch kommen seine Vertreter häufig wegen der großen Entfernungen und der Unzugänglichkeit der Kokaanbaugebiete zu spät oder auch gar nicht (wenn etwa mehre Operationen gleichzeitig stattfinden). Wenn die ODDH allerdings rechtzeitig eintrifft oder bei den Sicherheitskräften und den Drogenstaatsanwälten vorspricht, wird seine große Autorität als Vertreter der Exekutive deutlich.

Anträge an das BMZ

Aufgrund der Probleme seiner Arbeit wegen der Größe des Chapare und des Ausmaßes der Menschenrechtsverletzungen hat das Büro, das inzwischen von der Schweiz, Kanada und der Bundesrepublik unterstützt wird, weitere Unterstützungsanträge an die EU-Kommission und das BMZ (Bundesministerium für wirtschafliche Zusammenarbeit) gerichtet. Es will mehrere „Unterbüros“ einrichten und die Bauern selbst zu Beschützern ihrer Menschenrechte ausbilden. Es ist zu hoffen, daß die entsprechenden Anträge positiv beschieden werden.

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