Brasilien | Nummer 346 - April 2003

Drogenmafia lässt die Muskeln spielen

Rio de Janeiro: Brasiliens Politiker gehen gegen das organisierte Verbrechen vor

Bisher waren die Zuständigkeiten in Rio geklärt: Die Politik und die Polizei kümmert sich um die Viertel der Mittel- und Oberschicht, in den Elendsvierteln, den Favelas ist die Mafia der Souverän. Alles andere ließ sich über Korruption regeln. Nun wurde diese Übereinkunft von der Politik einseitig gekündigt. In Haft sitzende Mafiabosse wurden in andere Gefängnisse verlegt, um ihnen die Kontrolle über die Favelas, die sie bisher auch vom Gefängnis aus hatten, zu entziehen. Polizisten lassen sich dagegen häufiger in den Favelas blicken. Das Resultat ist eine Gewaltwelle, die ihres Gleichen sucht, mit der die Drogenmafia Druck ausübt, um ihre alten Privilegien zurück zu erlangen. Auf der politischen Ebene haben die Unruhen inzwischen zu einer Auseinandersetzung der neuen Regierung Brasiliens mit dem Staat Rio de Janeiro geführt.

Oliver Sieg

In den letzten Wochen erlebte Rio de Janeiro erneut eine Welle der Gewalt von Seiten der dort ansässigen Drogenmafia. Ziel der Machtdemonstration ist es, die eigenen Geschäfte wieder ungestörter verfolgen zu können und vor allem die Privilegien der inhaftierten Bosse wiederherzustellen. Insbesondere soll dem nach São Paulo verlegte Chef des so genannten Comando Vermelho (Rotes Kommando – CV), Fernandinho Beira-Mar, eine Rückkehr nach Rio ermöglicht werden.
Beira-Mar wurde aus dem von der Landesregierung Rios kontrollierten Gefängnis Bangu-1 nach São Paulo verlegt, da er und andere Mafiabosse in Bangu-1 relativ ungehindert ihren Geschäften nachgehen konnten. Die Ermordung des in São Paulo für die Gefängnisaufsicht zuständigen Richters Antônio José Machado Dias wurde daher zunächst als Vergeltungsschlag der Drogenmafia gewertet. Inzwischen geht man davon aus, dass die in São Paulo operierenden Mafia eher dahinter steckt. Dafür werden Autobahnen blockiert, Dutzende Polizisten und Zivilisten ermordet, Gefängnisrebellionen und Angriffe auf Polizeireviere organisiert. Zudem kam es mehrfach zu Anordnungen der Drogenhändler gegenüber Geschäftsleuten, ihre Läden im „Proteststreik“ zu schließen. Zunehmend dehnt sich dabei die Macht der Mafia von den Favelas auch auf ganz ,normale’ Stadtviertel aus. Da große Teile der Favela-Bevölkerung unter dem Einfluss der Drogenmafia stehen, werden auch auf diesem Weg gewalttätige Proteste inszeniert.

Drogenmafia hat in den Favelas das Sagen

Die Macht und die finanziellen Mittel der Drogenmafia und nicht zuletzt deren Verwicklung mit Polizei und Politik geht heute weit über das Ausmaß der siebziger Jahre hinaus, wie es noch in dem Film Cidade de Deus portraitiert wurde. Heute handelt es sich um große, hierarchische Organisationen, die sich in jeder Favela unter einem Chef organisieren und große Teile der Favela-Jugend rekrutieren. Im gesamten Stadtgebiet von Rio sind sie in Föderationen zusammengeschlossen; die größten sind das Comando Vermelho und das Terceiro Comando (Drittes Kommando TC).
In den Favelas üben diese Gruppen die Herrschaft aus und dominieren inzwischen auch die meisten Nachbarschaftsorganisationen. Die Stadtverwaltung und die Landesregierung müssen sie in der Regel für Infrastrukturmaßnahmen oder soziale Projekte um Erlaubnis bitten. Die Bewohner der Favelas, die meist in schlecht bezahlten Jobs im „normalen“ Teil der Stadt (in Rio „asfalto“ genannt) arbeiten und mit dem Drogenhandel nichts zu tun haben, müssen sich mit den Drogenhändlern arrangieren. Schützen müssen sie sich besonders vor bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Händlern und solchen mit der Polizei. Dabei fürchten sie beide Seiten gleichermaßen.
Die Herrschaft der Drogenhändler hat unterschiedliche Ausmaße. Während einige der Drogenchefs eine wahre Terrorherrschaft ausüben, sind andere recht populär. Die Drogenhändler finanzieren Feste („bailes funk“), bestrafen kleine Diebe, und verteilen gelegentlich Geschenke. Wenn einem beispielsweise das Moped gestohlen wird, geht man zum zuständigen Chef des Drogenhandels, anstatt zur Polizei. Und nach wenigen Tagen ist das Moped wieder da. Was mit dem Dieb passiert, fragt man lieber nicht.
Vor allem wird die Herrschaft aber durch Gewalt und Mord ausgeübt. Ein Busfahrer, der sich weigerte, Bandenmitglieder umsonst im Bus mitzunehmen wurde einfach ermordet. Dafür könnte man endlos Beispiele finden. Der Drogenhandel erwirtschaftet solche Summen, dass ganze Einheiten der Militär- und Kriminalpolizei (beide dem Land Rio untergeordnet), auf ihren Zahlungslisten stehen. Das führt dazu, dass die Gehälter der Polizei in Rio, eigentlich einem der reichsten Staaten Brasiliens, zu den niedrigsten des Landes gehören, ohne dass dies Proteste auslösen würde. Die Mafia ist bis auf die Zähne bewaffnet. Die Waffen wurden durch Korruption bei Polizei und Armee gekauft oder gestohlen. Die Polizei greift praktisch nur in den Drogenhandel ein, um ihre Bestechungsgelder zu erhöhen, oder wenn Kriege zwischen den verschiedenen kriminellen Fraktionen ein Eingreifen unvermeidlich machen, oder wenn die Landesregierung meint, dass der Drogenhandel eingedämmt werden müsse. Das System der Gefälligkeiten dehnt sich mittlerweile auch auf die Justiz aus. Anfang März beispielsweise wurde ein Ermittlungsverfahren gegen einen Richter eingeleitet, der Haftverkürzungen an Mafiabosse verkauft haben soll.

Der Ursprung des Korruptionssumpfes

Wie kam es zu dieser undurchschaubaren Verstrickung von Mafia, Polizei und Justiz? Historischer Hintergrund dieser Situation ist die ökonomische und soziale Ausgrenzung der Favela-Bewohner, die in Rio auch geografisch scharf von den „normalen“ Stadtvierteln getrennt leben. Während der Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985 war die Aufgabe der Polizei, neben der politischen Repression der Schutz der wohlhabenderen Stadtviertel, insbesondere im Süden der Stadt, während Favelas als Brutstätte von Dieben und Kriminellen gesehen wurden, in die die Polizei nur gelegentlich eintrat, um Verbrecher zu suchen. Der Schutz der Favela-Bewohner, die ja selber unter der Kriminalität leiden, war nicht Teil ihres Auftrages. Unter dem Schutz des Militärs hat sich der Korpsgeist der Polizei verstärkt, so dass sich die Korruption relativ ungestört entwickeln konnte, während die zivilen Landesregierungen nur begrenzt Befehlsgewalt ausüben kon-nten. Öffentliche Kritik an Polizei und Justiz war verboten. Im rechtsfreien Raum der Armenviertel bildeten sich seit den siebziger Jahren Drogenhändlerringe, die die Favelas zunehmend dominierten.
Nach der Demokratisierung hat sich daran wenig geändert. Die jeweiligen Landesregierungen arrangierten sich mit Polizei und Drogenhändlern, um wenigstens in den „normalen“ Stadtvierteln eine relativ kontrollierte Kriminalität zu erreichen. Der ehemalige linkspopulistische Gouverneur Rios, Anthony Garotinho (1998-2002), konnte sich beispielsweise damit brüsten, dass die Südzone der Stadt eine niedrigere Mordrate als New York hatte. Dass sie im Rest der Stadt wie in Bosnien zu den heißesten Phasen des Krieges war, verschwieg er. Die Arrangements der Politik mit der Polizei haben hauptsächlich die Tatenlosigkeit der Regierung zum Ergebnis. Im Gegenzug sorgt die Polizei in den Mittelklassevierteln für Ordnung. Zwischen Drogenmafia und korrupten Polizisten wiederum ist das Arrangement, dass die Polizei sie gegen Zahlung von Bestechungsgeldern Drogen verkaufen lässt, und die Drogenhändler die öffentliche Ordnung nicht stören. Das wird natürlich immer wieder durchbrochen: Mal versucht eine kriminelle Fraktion die Favela einer rivalisierenden Fraktion zu „erobern“, ein andermal okkupiert die Polizei eine Favela, um Bestechungsgelder einzutreiben. Während der Regierungszeit Anthony Garotinhos kam es aber zu so etwas wie einem Gleichgewicht in Rio, mit nur wenigen spektakulären Aktionen auf beiden Seiten. Man muss das Verhalten der jeweiligen Landesregierungen nicht als aktive Komplizenschaft mit dem Verbrechen sehen, sondern eher als Schwäche. Da die Bekämpfung von Korruption und der Mafia zunächst einmal einen Anstieg der Kriminalität zur Folge hätte, ziehen sie es vor, sich zu arrangieren.

Einstige Abkommen gelten nicht mehr

Politischer Hintergrund der jetzigen Gewaltwelle ist die Aufkündigung dieser stillen Vereinbarungen durch die Übergangsregierung unter Benedita da Silva (PT) in Rio de Janeiro. Anthony Garotinho (PSB) trat Mitte letzten Jahres zurück, um als Kandidat an den Präsidentschaftswahlen teilzunehmen und die Vizegouverneurin Benedita da Silva, selber eine ehemalige Favelabewohnerin und Aktivistin, trat das Amt an. Die Allianz von PSB und PT war bereits kurz nach der Wahl Garotinhos 1999 wegen Auseinandersetzungen über die Sicherheitspolitik zerbrochen, wobei die PT der PSB vorwarf, die Polizeikorruption nicht zu bekämpfen.
In ihrer halbjährigen Übergangsamtszeit hat Benedita versucht, die Macht der Drogenmafia zu schwächen und die Korruption einzudämmen. Benedita erhöhte den Anteil jener Favelas, in denen die Polzei im Modus des „community-policing“ operieren soll (eine Polizeistrategie, in der die Polizei das Vertrauen der Bevölkerung „schwieriger Stadtviertel“ gewinnen soll). Das heißt in Rio, dass Polizisten permanent in einigen (wenigen) Favelas präsent sind, aber der Bekämpfung des Drogenhandels eine geringere Priorität einräumen. Der Drogenmafia soll ihr Monopol für Verbrechensbekämpfung abgenommen werden und die Zusammenarbeit mit der Bevölkerung soll so ermöglicht werden.
Die Polizei unterstützte diese Vorhaben nur widerstrebend, da sich damit kein Geld machen lässt. Parallel dazu wurden die großen Bosse des Drogenhandels unter Druck gesetzt. Schon damals reagierte die Drogenmafia darauf mit gewalttätigen Aktionen, unter anderem der Ermordung eines prominenten Journalisten des marktführenden Fernsehsenders Globo. Das führte unter anderem dazu, dass Benedita die Gouverneurswahlen im Oktober letzten Jahres verlor und Rosinha Mateus, Ehefrau Garotinhos neue Gouverneurin wurde. Die Drogenbosse erwarteten nun, dass die Landespolitik zu ihrer früheren stillen Übereinkunft zurückfände, was jedoch nicht der Fall war. Rosinha Mateus hätte dann zu ihrem Nachteil als Verbündete der Drogenmafia dagestanden. Zudem widersetzt sich die neue Bundesregierung unter Inácio „Lula“ da Silva einer solchen Politik.

Regierung schickt Militär in die Favelas von Rio

Unter dem Eindruck der jüngsten Gewaltwelle hat die Landesregierung von der Bundesregierung den Einsatz des Militärs angefordert. Die Bundesregierung und das Militär haben sich jedoch gegen einen solchen polizeilichen Einsatz ausgesprochen. Schließlich stimmten sie angesichts des Ausmaßes der Gewalt doch einem auf etwa drei Wochen begrenzten Einsatz der Armee zu. Der Einsatz begann in der zweiten Märzwoche.
Dass das Militär für solche Zwecke in der Tat nicht geeignet ist, hat sich dabei prompt gezeigt: Die Soldaten erschossen versehentlich einen Lehrer, weil sie dessen Auto mit einem der Mafia verwechselten, aus dem Bomben geworfen wurden. Die Präsenz des Militärs hat zwar die Auswüchse der Gewalt in den Vierteln der Mittelklassen verringert, aber dem Militär fehlen jegliche Kenntnisse, um den Drogenhandel anzugehen.
Daneben besteht die Gefahr, dass sich das Heer auch von der Korruption in Beschlag nehmen lässt. Im Gegensatz zur Forderung der Landesregierung zur oberflächlichen Wiederherstellung der Ordnung durch das Militär, hat die Bundesregierung Anfang März einen umfassenden Plan vorgelegt, der die Landespolizeikräfte unter Aufsicht des Bundes stellen würde. Der Plan sieht auch vor, geheimdienstliche Ermittlungen der Bundespolizei zu verstärken und die Polizei- und Gefängniskorruption zu bekämpfen. Landesregierung und Stadtverwaltung Rios lehnen das Vorhaben jedoch ab – auch einen abgeschwächten Alternativplan. Die jetzt gefundene Lösung kommt nun weitgehend der Landesregierung entgegen, die sich zu keinen vertraglich bindenden Schritten verpflichten muss. Politisch war es jedoch für die Bundesregierung von Bedeutung, in diesem Fall Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Die Bundesregierung wird ihre eigenen ermittlungspolizeilichen Kapazitäten ausbauen und der Landesregierung Geld zur Polizeireform zur Verfügung stellen. Der Ausbau der Aktivität der Bundespolizei in Rio wird die Landesregierung unter Druck setzen, insbesondere wenn die Bundespolizei Korruptionsfälle der Landespolizei aufdecken sollte.
Langfristige Lösungen für die Drogenkriminalität Rios sind schwierig. Eine „holländische“ Lösung der Drogenlegalisierung sieht theoretisch gut aus. In der Praxis aber hätten die Drogenbanden die Mittel, gewaltsam den dann legalen Drogenhandel (und die Favelas) weiterhin zu kontrollieren, und angesichts der dann vielleicht niedrigeren Gewinnmargen im Drogenhandel sich in andere Felder der Kriminalität auszubreiten, in denen sie auch mit der korrupten Polizei weiterhin Geschäfte machen könnten. Eine auf Rio beschränkte Legalisierung wäre nicht aufrechtzuerhalten, abgesehen davon, dass die Durchsetzbarkeit in Brasilien eher unmöglich erscheint. Schließlich geht es ja hauptsächlich um Kokain und sein billigeres und gefährlicheres Derivat Crack, und nicht um die weiche Droge Marihuana wie in den Niederlanden.
Der lange und schwierige Weg ist also wahrscheinlich der einzig gangbare: Eine Polizeireform, die den Schutz der FavelabewohnerInnen vor Verbrechen einschließt. Das bedeutet Präsenz in den Favelas, auch wenn das erst einmal geringe Priorität für den Drogen(einzel)handel bedeutet. Die Korruptionsbekämpfung bei Polizei, Justiz und Militär wäre dafür eine Vorraussetzung. Die großen, organisierten Mafiastrukturen müssten zerschlagen werden, um eine weitere Korrumpierung der Politik zu vermeiden. Das hieße aber auch Bekämpfung des Drogennachschubs und des Drogenhandels. Damit könnte der Drogenhandel und – über höhere Preise und schwierigere Erhältlichkeit – auch der Konsum, auf geringere Ausmaße reduziert werden. Diese Schritte sind allerdings schwierig, denn sie treffen unter anderem auf die Rivalitäten der Landes- und Bundespolitik und auch verfassungsrechtliche Schwierigkeiten, denn polizeiliche Fragen sind in Brasilien eindeutig Landessache. Ob diese Maßnahmen aber am Ende auch von Erfolg gekrönt sind, hängt auch davon ab, ob man den niedrig bezahlten Beamten auch eine einträgliche Alternative zur Korruption bietet.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren