Mexiko | Nummer 343 - Januar 2003

„Du gibst dem zu essen, der mich umbringt“

Interview mit dem Sprach- und Kulturwissenschaftler Carlos Montemayor

Er gehört zu den führenden Intellektuellen Mexikos: Der Schriftsteller, Sprach- und Kulturwissenschaftler Carlos Montemayor. Die LN sprachen mit ihm über indigene Autonomie und die Bedeutung der Sprache in den indigenen Kulturen. Er ist Herausgeber der Buchreihe „Letras mayas contemporáneas“ und veröffentlichte 1990 den Roman Krieg im Paradies über die Guerilla in Guerrero.

Harry Thomaß

Im Kampf der Zapatisten hat die indigene Autonomie die zentrale Bedeutung. Was bedeutet die indigene Autonomie in Chiapas für Mexiko und wie kann man sich diese Autonomie vorstellen?

Die mexikanische Bevölkerung im allgemeinen interessiert sich nicht für die Autonomiefrage. Autonomie kann als eine weitere Verwaltungsebene des Staates begriffen werden. Es gibt eine national-föderative Verwaltungsebene, eine bundesstaatliche und es gibt Landkreise, die so genannten municipios. In einigen Fällen sind die indigenen Gemeinden über verschiedene municipios verteilt. Wir brauchen also eine weitere, die der autonomen indigenen Gemeinden. Dann wird ein Raum geöffnet werden, in dem die Entscheidungen der indigenen Gemeinden wirken und legal sind. Das bedeutet nicht, dass die autonomen Gemeinden sich außerhalb der Verfassung stellen wollen, sie werden weiterhin Teil der einzelnen Landkreise sein. Es wäre ein weiteres System von kulturellen und sozialen Werten und politischen Gesetzen, ein partikulares Rechtssystem, das in ein anderes eingegliedert wäre.

Die staatliche Unterstützung für Chiapas floss verstärkt seit dem Aufstand der Zapatisten in diesen Bundesstaat. Warum lehnen viele indígenas die Hilfe ab?

Es gibt viele Regionen in der Selva Lacandona, wo keine staatlichen Lehrer mehr hingehen. Und fast immer identifizieren sich die staatlichen Lehrer mit den Dörfern, die von der PRI regiert werden und nicht mit den autonomen Gemeinden. Einige Lehrer gehören sogar zu den Paramilitärs, wie zum Beispiel Paz y Justicia.
In verschiedenen Regionen von Chiapas engagieren sich Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und eben nicht der Staat. Gemeinden, die paramilitärische Gruppen unterstützen, bekommen eine breite staatliche Unterstützung. Diese Gemeinden werden sozusagen staatlich gekauft. Also reagieren die indígenas, wenn sie die staatliche Hilfe ablehnen, mit großer Würde: „Du gibst dem zu essen, der mich umbringt, und du willst, dass ich den gleichen Mais nehme, wie jener, der mich töten will. Sag diesem Mann, dass er mich nicht tötet, dann können wir alle von dem Mais essen.“

Gibt es Anzeichen, dass die EZLN mit ihrem Projekt der Autonomie als Terroristen abgestempelt wird?

Mit Präsident Bush in den USA laufen wir alle Gefahr als Terroristen angeklagt zu werden. In Mexiko gibt es die Strategie, Gruppen aus der Region zu bewaffnen, damit diese die zapatistischen Gemeinden angreifen. So kann die Regierung die Konflikte als bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen indigenen Gemeinden darstellen und nicht als einen Konflikt zwischen den Zapatisten und der nationalen Armee. Die Armee führt die paramilitärischen Gruppen wie eine Marionettenfigur. Man wird nicht den Vorwurf des Terrorismus äußern, sondern sagen dass die indigenen Gemeinden nicht friedlich leben können. Und dann muss die Armee dort für Ordnung sorgen.

Welche Rolle spielt die Sprache in den indigenen Kulturen Mexikos?

Es ist ein sehr wichtiger Bestandteil. In vielen öffentlichen und religiösen Zeremonien hat das Wort eine sehr wichtige Aufgabe. Bei Zeremonien, in denen die traditionellen Autoritäten wechseln, ist die Sprache wichtiger als die Autoritäten selbst. Oder bei den religiösen und medizinischen Zeremonien ist die Sprache oft wichtiger als das traditionelle Heilmittel. Aber in einem solchen Fall ist es eine magisch-heilige und spirituelle Sprache, nicht die alltägliche Sprache, sondern es ist eine rituelle Sprache, die sich aus den Zeiten vor der Eroberung erhalten hat.

Wie gestaltet sich diese Erneuerung im Mexiko des 21. Jahrhunderts?

Um diese rituell-magische Sprache gibt es eine Erneuerung des Glaubens und der kulturellen Identität. Wenn man sich die aktuellen indigenen Schriftsteller anschaut, dann wird deutlich, dass die Literatur keine persönliche Angelegenheit ist, sondern die Schriftsteller machen so ihre kulturelle und historische Identität bewusst. Die Schriftsteller schaffen mit ihrer Literatur ein Bewusstsein aus einer historischen Verantwortung heraus.

Wer liest denn die Bücher, die in den indigenen Sprachen verfasst werden?

Der Analphabetismus in den indigenen Sprachen ist weit verbreitet. Normalerweise lesen und schreiben die Leute auf Spanisch und nicht in den indigenen Sprachen. Der Schriftsteller, der in indigenen Sprachen schreibt, tut es mit dem Gedanken, dass in der Zukunft seine Kultur wieder erstarken wird und Literatur in seiner Sprache gelesen wird. Das macht den indigenen Schriftsteller zu etwas anderem als zu jenem, den wir normalerweise aus dem Deutschen oder Spanischen kennen. Er wird so zu einem Förderer der Sprache, ohne so sehr auf seinen persönlichen Erfolg als Schriftsteller zu achten.

Also gibt es eine Auseinandersetzung, um das gesellschaftliche Bewusstsein von Identität. Wo werden diese Auseinandersetzungen geführt?

Es ist ein Kampf an vielen Fronten: Die indigenen Schriftsteller kämpfen auf ihre Weise. Bezogen auf die Schulerziehung gibt es viele indigene Lehrer, die die Erziehungspolitik im Sinne der indigenen Völker verändern. Der Kampf der Zapatisten ist eine andere Front. In den Bergen von Guerrero und Oaxaca treten neue indigene Organisationen auf, zum Beispiel die politische Allianz der Zapoteken vom Isthmus. Alle haben das gleiche Ziel, die Stärkung der indigenen Rechte.

In San Andrés Larainzar gab es einen langen Dialog zwischen indigenen Vertretern und der mexikanischen Bundesregierung, der sich um die indigenen Rechte drehte. Man hat viele schöne Worte aufs Papier gebracht. Im Parlament wurde dann ein Gesetz verabschiedet, das eher eine Schwächung der indigenen Position bedeutet. Wie interpretieren Sie das Schweigen der Zapatisten seit letztem Jahr?

Eines ist klar geworden: Es gibt keine Möglichkeit für einen Dialog mit der gegenwärtigen Regierung. Warum soll man verhandeln, wenn die Regierung das eine sagt und das andere macht. Oder 20 Sachen sagt und eine macht, die mit diesen 20 nichts zu tun hat. Die gegenwärtige Regierung von Präsident Fox fährt nur die Politik der alten Regierungen fort: in der Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik und in der militärischen Strategie gegen die Zapatisten. Vicente Fox wollte nur ein Foto, um der Welt zu zeigen, dass er der Freund der Zapatisten und des Subcomandante Marcos ist. Aber er ist nicht an einem Dialog und schon gar nicht an Verbesserungen bei den indigenen Rechten interessiert.

Natalio Hernández, einer der indigenen Schriftsteller (vgl. LN 341) hat die gesellschaftliche Situation nicht so negativ eingeschätzt und gewisse Fortschritte in der Politik zu den indigenen Rechten erkannt.

Die indigenen Gruppen mit den größten Erfolgen in den letzten 40 Jahren sind die zweisprachigen Lehrer. Diese Lehrer haben auf eine ganz leise Art Veränderungen in der Schulbildung und in den Strukturen der Erziehung, die mit der indigenen Welt zusammenhängen, bewirkt. Das bedeutet aber noch lange keine Veränderung in territorialen, wirtschaftlichen, kulturellen und juristischen Fragen. Was auf dem Spiel steht, ist die Negation der territorialen Rechte und der Autonomie der indigenen Völker. Das wird durch die Bemühungen um eine Veränderung im Bildungssektor natürlich nicht erreicht werden.

Sind indigene Themen in den Medien und der mexikanischen Gesellschaft präsent?

Nein, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen. Es gibt keinen Dialog in der mexikanischen Gesellschaft zu den indigenen Rechten. Noch heute weiß ein Großteil der Mexikaner sehr wenig über die indigenen Themen. Die Zapatisten sind vielleicht der wichtigste Faktor für die Verbreitung einer Vorstellung von der indigenen Wirklichkeit. Bevor die Zapatisten an die Öffentlichkeit getreten sind, ist diese soziale Realität einfach ignoriert worden. Als die Zapatisten aufgetreten sind, waren die Mexikaner genötigt, die indigene Realität in ihre Welt zu integrieren. Aber weil es in der mexikanischen Gesellschaft ein weit verbreitetes Unverständnis und eine Unkenntnis den indígenas gegenüber gibt, entwickelte sich eine Angst in der Gesellschaft, ihnen ihrer Rechte zu gewähren.

Zahlreiche indigene Gemeinden hatten im Sommer des Jahres 2002 ihre verfassungsrechtlichen Einwände gegen das verabschiedete Gesetz zu den indigenen Rechten vor den Obersten Gerichtshof gebracht. Anfang September lehnte es das Oberste Gericht ab, über das Gesetz zu urteilen, weil es sich für nicht zuständig erklärte. Was bedeutet das?

Das bedeutet natürlich eine totale Verweigerung für einen Dialog. Schaun sie: Die Exekutive negiert die Zapatisten und wendet sich von ihnen ab. Die Legislative stößt die indigenen Gemeinden auch zurück, denn das Gesetz, das sie im letzten Jahr verabschiedet haben, ist das Gegenteil von dem, was in San Andrés Larainzar ausgehandelt wurde. Und die juristische Gewalt hält sich zurück und lehnt es ab, über die Legislative zu urteilen. Also die drei Gewalten haben den Dialog mit der EZLN abgelehnt. Die drei Gewalten haben die Anerkennung der indigenen Rechte abgelehnt. Mit wem sollen sie jetzt sprechen und wozu? Schließich hat sie der komplette Staat zurückgewiesen.

Und trotzdem beruft sich der mexikanische Staat auf die indigenen Kulturen. Im anthropologischen Museum von Mexiko-Stadt sind die indígenas in einem musealen und exotischen Raum. Welches Konzept hat der mexikanische Staat von den indígenas?

Dieses Museum ist für den abstrakten „Indio“ erbaut worden. Für das Konzept des vorspanischen „Indio“, der mit einer Blüte der Zivilisation verbunden wird, die nichts mit der gegenwärtigen Situation zu tun hat. Es gibt eine tiefe Kluft zwischen der üppigen Austattung des Erdgeschosses, wo die vorspanischen Kulturen ausgestellt werden und der armseligen Ausstattung des ersten Stockes mit der ethnografischen Sammlung. Dieses Museum ist ein Monument der Vergangenheit und nicht für die Gegenwart. Der Mexikaner hat die Idee, dass er von diesen großen Kulturen und von den Spaniern abstammt. Er fühlt sich als Nachfahre der Erbauer der großen Pyramiden, weil sie nicht existieren. Sie sind nur Konzepte. Aber zu den gegenwärtigen indígenas, den wirklichen Nachkommen der Erbauer der Tempelanlagen, leugnet er jegliche Verwandschaft. Sie sind nicht einmal entfernte Verwandte. Dieses Museum ist ein Symbol für die Entstehung der mexikanischen Nation, die den realen indigena ausschließt. Der „Indio“ ist immer da, aber nur als abstraktes Konzept in der chemisch reinen Form der glorreichen Vergangenheit und nicht in einer sozial verunreinigten Form der Gegenwart

Welche Möglichkeiten sehen sie, diesem Rassismus zu begegenen?

Das einzige, was man dagegen tun kann, ist eine Veränderung in der Bildung, und zwar der nicht-indianischen Bevölkerung. Sie müssen mehr Informationen über die Lebenswelten der gegenwärtigen indigenen Kulturen bekommen. Und es muss Respekt für ihre territoriale und politische Identität vermittelt werden. Ich sehe keine andere Möglichkeit.

Welche Vorstellung verbinden die indigenen Gemeinden mit der Globalisierung?

Man hat in den indigenen Gemeinden nicht die leiseste Ahnung von der Globalisierung. Die Globalisierung sieht man in Mexiko oder Argentinien anders als z.B. in den USA oder in Deutschland. Es gibt Länder, die in der Lage sind, zu globalisieren und andere werden eben globalisiert. Es wäre präziser, von einer neuen Form des Kolonialismus zu sprechen, die jetzt als Globalisierung bezeichnet wird.

Was ist das Neue an dieser Form des Kolonialismus?

Diese Form des Kolonialismus stellt sich als etwas Natürliches dar, etwas das nicht zu verhindern ist, fast als eine Art Naturgesetz. Die Expansion der internationalen Konzerne lässt wenig Luft zum Atmen für die globalisierten Gesellschaften. Und die Globalisierung ist vielmehr eine US-Amerikanisierung der Weltwirtschaft. Die USA verlangen offene Grenzen für Waren- und Kapitalströme und verschlossene Grenzen für die Arbeiter und Migranten.
Interview: Harry Thomaß

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