Aktuell | Editorial | Nummer 594 - Dezember 2023

Editorial für LN 594

Die LN 594 (Dezember 2023) hatten kein eigenes Editorial. Der Grund dafür lag darin, dass wir uns als LN-Redaktion nicht auf einen konsensfähigen Text zu Israels Krieg in Gaza einigen konnten.

Damals kündigten wir an: „Wir haben uns allerdings vorgenommen, die Diskussionen zu dem Thema und über unser Selbstverständnis fortzuführen. Euch Leser*innen werden wir natürlich bezeiten über den Prozess unterrichten.“

Teil des internen Prozesses, der sich aus den Diskussionen entwickelte, ist der Beschluss, den Entwurf für unser Dezember-Editorial nun nachträglich auf unsere Webseite zu stellen. Zwischenzeitlich ist vieles passiert, ganz überwiegend Furchtbares. Die neueren Entwicklungen haben wir nicht in das hier veröffentlichte Editorial aufgenommen. Es ist daher gezwungenermaßen nicht aktuell. Vielmehr dient die Veröffentlichung der Dokumentation.

Von Die Redaktion

Keine zwei Jahre ist es her, dass unser Editorial die Überschrift “Es herrscht Krieg” trug. Zu dem Krieg in der Ukraine, auf den wir in der April-Ausgabe 2022 Bezug nahmen, ist vergangenen Monat nun eine weitere militärische Eskalation hinzugekommen, die hier, in Lateinamerika sowie weltweit heftige Wellen schlägt: Auf das brutale Massaker mit 1.200 israelischen Opfern sowie die Entführung von mindestens 239 Zivilist*innen durch die radikal-islamistische Hamas, folgte eine erneute Bombardierung des abgeriegelten Gaza-Streifens durch die israelischen Streitkräfte. Die Zahlen sind erschreckend: Die massive Bombardierung Gazas tötete über 10.000 Menschen, fast die Hälfte davon Kinder.

Als Lateinamerika Nachrichten stehen wir in Solidarität mit allen Opfern dieses Krieges und jenen, die sich für Frieden einsetzen. Es muss einen Waffenstillstand geben, die Bombardierung von Zivilist*innen muss aufhören, und eine langfristige politische Lösung muss gefunden werden.

In Deutschland ist die Diskussion um die aktuelle humanitäre Katastrophe in Gaza und den Konflikt von Uneinigkeit und teilweise verhärteten Perspektiven geprägt. Auch in unserer Redaktion haben wir das Thema viel und stark diskutiert.

Es gibt einen klaren Anstieg antisemitischer Angriffe auf Jüd*innen in Deutschland: In den ersten zehn Tagen nach dem 7. Oktober wurden 204 antisemitische Übergriffe registriert, Mitte Oktober gab es einen versuchten Brandanschlag auf eine Berliner Synagoge. Mehrere Berliner Häuser wurden mit Davidsternen beschmiert. Seit der Eskalation ist die Gefahr für jüdisches Leben in Deutschland alarmierend gestiegen: Angriffe auf Jüd*innen und antisemitische Hetze sind nicht zu tolerieren, jüdisches Leben in Deutschland und überall auf der Welt muss geschützt werden.

Der weitere Rechtsruck in der deutschen Migrationsdebatte und die zunehmende Repression gegenüber Migrant*innen, die sich politisch organisieren und mit einer kritischen Perspektive gegenüber der israelischen Regierung auf die Straße gehen, ist inakzeptabel. Das systematische Verbot von Solidaritätsbekundungen und Demos sowie Mahnwachen für die Opfer der Bombardierungen in Gaza seitens der Berliner Polizei in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober verstärken den Eindruck, dass kritische Stimmen kriminalisiert werden. 100 jüdische Intellektuelle in Deutschland verurteilten dieses Vorgehen in einem in der taz veröffentlichten Brief: „Als Jüdinnen und Juden lehnen wir diesen Vorwand für rassistische Gewalt ab und bekunden unsere volle Solidarität mit unseren arabischen, muslimischen und insbesondere palästinensischen Nachbarn. Wir weigern uns, in vorurteilsbehafteter Angst zu leben.”

Ein differenzierter Diskurs muss möglich sein. Jüd*innen dürfen nicht für das Handeln des israelischen Staates verantwortlich gemacht werden. Gleichzeitig müssen kritische Stimmen an den Kriegshandlungen der israelischen Armee gehört werden und es muss möglich sein, sich mit der palästinensischen Zivilgesellschaft zu solidarisieren, die von diesen Angriffen getroffen wird.

Antisemitismus von einigen Politiker*innen und Medien derzeit häufig als primär migrantisches Problem dargestellt. Während rassistisch behaftete Integrationsdebatten wieder auf der Tagesordnung stehen, erleben wir in Deutschland einen immer weiter fortschreitenden Rechtsruck. Die AfD fliegt von Wahlerfolg zu Wahlerfolg und Bundeskanzler Scholz möchte „endlich im großen Stil abschieben“. Auch wenn die schrittweise Verschiebung der Migrationspolitik in Richtung der Vorstellungen von Weidel und Co. keine neue Tendenz ist, so ist es doch erschreckend und zynisch, wenn palästinasolidarische Demonstrationen herangezogen werden, um diese zu legitimieren.

Der brutale Angriff der Hamas auf Israel muss ganz klar verurteilt werden. Doch die Hamas steht nicht stellvertretend für alle Araber*innen oder die Palästinenser*innen: Die Gleichsetzung der palästinensischen Bevölkerung mit den Aktionen und Gesinnung einer Terrororganisation auch nur anzudeuten, ist entmenschlichend.

Die Erfahrung zeigt, dass derartige politische Veränderungen oftmals zunächst anhand konkreter Ereignisse und in Bezug auf spezifische Gruppen eingeführt, später aber verfestigt und auf andere ausgeweitet werden, etwa durch eine weitere Restriktion von Migration oder ein repressiver werdendes Vorgehen der Polizei gegen Demonstrationsrechte.

Lateinamerikanische Regierungen haben sich anders positioniert: Bolivien hat die diplomatischen Beziehungen zu Israel gekappt. Auch die kolumbianischen und chilenischen Regierungen distanzierten sich von Israel und haben ihre Botschafter zurückgerufen. Argentinien und Mexiko verurteilten das Vorgehen des Staates. Bekannte soziale Bewegungen haben öffentlich ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk bekundet: Feministische Kollektive aus der gesamten Region, wie Lastesis aus Chile und Ni Una Menos aus Argentinien, unterschrieben eine gemeinsame Erklärung u. a. gegen die „kollektive Bestrafung“ des palästinensischen Volkes, einem Kriegsverbrechen nach der Genfer Konvention. Sie verurteilten ebenfalls die Gewalt der Hamas. Lateinamerikanische Kollektive in Berlin positionierten sich auch gegen die Kriegshandlungen der israelischen Regierung, wie etwa die Kollektive Bloque Latinoamericano und Perrxs del Futuro.

Wir als Linke in Deutschland können es nicht erlauben, dass unsere Mitmenschen von jüdischer, arabischer, muslimischer oder allgemein migrantischer Herkunft wegen der Verschiebung und Instrumentalisierung der Debatte unter Bedrohung und in Angst leben müssen. In diesem Gesamtszenario können wir uns nur behaupten, wenn wir unseren Zielsetzungen und unserem Tun dem allgegenwärtigen menschenverachtenden und nationalistischen Diskurs eine internationalistische, inklusive Perspektive entgegensetzen – unabhängig von Herkunft oder Religion und mit der notwendigen Sensibilität.

Anmerkung der Redaktion: Nicht alle Mitglieder der Lateinamerika Nachrichten teilen alle Positionen und Argumente der erwähnten Kollektive und politischen Akteure.


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