Ein bißchen spannender als sonst
Chile vor den Präsidentschaftswahlen am 12. Dezember
Welchen Verlauf die Präsidentschaftswahlen auch nehmen werden, ob also eine oder zwei Runden anstehen – ihr Ausgang ist ungleich offener als bei den Pflichtübungen 1989 und 1993, als mit den Christdemokraten Patricio Aylwin und Eduardo Frei die sicheren Sieger – mangels ernstzunehmender Herausforderer von links wie von rechts – bereits Monate zuvor feststanden. Von einem wirklich spannenden Wahlkampf kann freilich auch dieses Mal keine Rede sein. Gleichgeblieben ist die Tradition der außerparlamentarischen Linken, mehrere Eisen gleichzeitig ins Feuer zu werfen – auf daß keines richtig heiß werde. Wieder leistet sie sich, wie schon 1993, den Luxus, einen Humanisten (Tomás Hirsch), eine Ökologin (Sara Larraín) und eine Kommunistin (Gladys Marín) in ein auch aus ihrer Sicht völlig chancenloses Rennen zu schicken. Gespannt sein darf man einzig darauf, wieviele Stimmen Ricardo Lagos am 12. Dezember dadurch am linken Rand abhanden kommen werden. Wenigstens der Chefin der KommunistInnen wird zugetraut, mehr als nur einen Achtungserfolg einfahren zu können. Politisch wird er ihr aber nichts nützen: In einem zweiten Wahlgang wird auch eine Marín keine andere Option haben, als für Lagos zu stimmen.
Die PDC bleibt Präsidentenmacherin
Gleichgeblieben ist auch die Strategie des aus Christdemokraten, Sozialisten, Sozialdemokraten und Radikalen zusammengesetzten Wahl- und Regierungsbündnisses. Zum dritten Mal in Folge wollte die Concertación einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten aufstellen. Anders als in den Jahren zuvor handelt es sich jedoch nicht mehr um einen Vertreter der PDC (Partido Democráta Cristiano): Die „offenen“ Vorwahlen (primarias) von Ende Mai hatten Ricardo Lagos als Vertreter der aus der PS (Partido Socialista) und der PPD (Partido por la Democracia) zusammengesetzten Regierungslinken einen überwältigenden Vorsprung vor seinem christdemokratischen Widersacher Andrés Zaldívar beschert. Damit stand fest: Die PDC würde als größte chilenische Partei nicht nur erstmals seit 1958 keinen eigenen Bewerber in das Präsidentschaftsrennen schicken, sondern mußte sich nolens volens hinter die Kandidatur des – wiewohl geläuterten – Sozialisten stellen. Aus dieser Konstellation aber leitet sich die – neben den Erst-, Nicht- und ProtestwählerInnen – wichtigste Unbekannte dieser Präsidentschaftswahlen ab: das Abstimmungsverhalten der vornehmlich konservativen PDC-WählerInnen. Es wird darüber entscheiden, ob es am 9. Januar 2000 zu einer Stichwahl kommt, und wenn, wer am Ende die Nase vorne haben wird. Gleichgültig, ob sie nun einen eigenen Kandidaten stellt oder nicht – die Christdemokratie bleibt damit einmal mehr ihrer Rolle als Präsidentenmacherin treu.
Auch die Rechte ist gespalten
Einmal mehr auch haben am Ende die bekannten Profilierungssüchte und Grabenkämpfe die Aufstellung eines gemeinsamen, rechts von der Concertación stehenden Einheitskandidaten verhindert. Zwar konnten sich die von ihrer Vergangenheit läuternde Rechte in Gestalt von RN (Renovación Nacional) und der parteipolitisch organisierte Pinochetismus – in Form der UDI (Unión Demócrata Independiente) – mit dem, wiewohl nur unter den Seinigen populären, Bürgermeister von Santiagos Reichenviertel Las Condes, Joaquín Lavín, früh auf einen gemeinsamen Bewerber verständigen. Dann aber brach der mittlerweile bei der rechtspopulistischen UCC (Union de Centro Centro) des Großunternehmers Fransisco Errázuriz gelandete, frühere PDC-Senator Arturo Frei Bolívar in das ohnehin nur oberflächlich befriedete rechte Lager ein. Frei Bolívar, ein Vetter des derzeit amtierenden Präsidenten, meldete indessen nicht erst nach der absehbaren Niederlage seines vormaligen Parteikollegen Zaldívar bei den primarias eigene Ambitionen an. Morgenluft witterte der Ex-Senator und mit ihm die konservative Fraktion innerhalb der PDC, als Lavín sich gewillt zeigte, sich von den Hardlinern unter den Pinochetisten abzugrenzen und sich das Image eines modernen Rechten zuzulegen. General Pinochet persönlich bezichtigte ihn deshalb bereits des „Verrates an der gemeinsamen Sache“. Eine Acción Pinochetista Unitaria hat deshalb auch nicht etwa Lavín, sondern Bolívar die Unterstützung zugesagt.
Namentlich die auf Bolívar entfallenden Stimmen werden somit Aufschluß darüber geben, wie gewillt die konservativere PDC-Klientel um die sogenannten colorines ist, dem Aufruf ihrer Parteiführung Folge zu leisten und für den Kandidaten der Concertación zu stimmen. Sollte es am Ende zu einer Stichwahl zwischen Lagos und Lavín kommen, wäre Bolívars in der ersten Runde erzielter Stimmenanteil in seiner Gänze der Rechten zuzuschlagen, profiliert sich doch der vormalige Christdemokrat in seinem Wahlkampf dadurch, den gemeinsamen Kandidaten von RN und UDI rechts überholen zu wollen.
Lavín will deshalb einen an den „wirklichen Problemen“ seiner Landsleute orientierten Wahlkampf führen. Dazu hat er eine landesweite Umfrage unter 1,8 Millionen Chilenen zu deren wichtigsten Sorgen und Ängsten in Auftrag gegeben. Deren Ergebnisse — weniger Kriminalität, mehr Arbeit, mehr Gesundheit – sollen unter dem Motto Viva el cambio nicht nur sein Regierungsprogramm bestimmen, sondern zugleich eine „strategische Allianz“ mit der Wählerschaft begründen. Unabhängig davon will Lavín, daß auch das unter der parlamentarischen Rechten äußerst strittige Thema der Verfassungsreform Teil seiner Kampagne wird. Noch ist freilich nicht absehbar, wie etwa die Forderung nach einer Abschaffung der ernannten Senatoren programmatisch Eingang in das rechte Wahlbündnis Alianza Por Chile finden könnte. Dazu müßte die UDI zugunsten der mehrheitlich reformbereiten RN klein beigeben. Den kräftigeren Rückenwind haben jedoch seit Ende 1997 die Ultrarechten; sie gingen aus den letzten Parlamentswahlen klar gestärkt hervor; gerade der liberalere Flügel innerhalb von RN wurde hingegen für seine Öffnung hin zur Concertación vom Wähler zuletzt abgestraft. Will man den jüngsten Meinungsumfragen Glauben schenken, scheint das Buhlen von rechts um die Gunst der christdemokratischen Wählerklientel dieses Mal erfolgversprechender zu sein. Hiernach steht der Sozialist in der Wählergunst – mit im besten Fall 44Prozent – zwar noch vorne, der Abstand zu seinem größten Rivalen wird indessen kleiner.
Neue Slogans für Lagos
Mehr als auf den Überzeugungskünsten des eher farblos wirkenden Lavín dürfte die abnehmende Zustimmung für Lagos auf den stetig sinkenden Stern der Administration Frei zurückzuführen sein. Die sich radikal verschlechternde Wirtschaftslage hat zusammen mit den innen- wie außenpolitischen Querelen um den Fall Pinochet die Regierung Frei in ihrem letzten Amtsjahr gleichermaßen unter Beschuß von links wie von rechts gebracht. Dazu kam dieser Tage der Verdacht auf, das Regierungsbündnis betreibe mittels millionenschwerer Beraterverträge eine Art verdeckte Wahlkampfhilfe für seinen Kandidaten. Allein der ehemalige Regierungssprecher José Joaquín Brunner (PPD) und der vormalige Präsidialamtschef Genaro Arriagada (PDC) sollen zusammen mehr als sieben Millionen Pesos eingestrichen haben.
Derlei Patzer machen den Wahlkampf für Ricardo Lagos nicht gerade einfacher. De facto vollführt auch er einen Eiertanz, wenn er sich einerseits – auf der Suche nach Distanz vom dogmatischen Sozialismus traditioneller Prägung und der Betonung seiner Nähe zur europäischen Sozialdemokratie – als „dritter Präsident der Concertación“ klar zur Wirtschafts- und Sozialpolitik der seit fast zehn Jahren regierenden Parteienallianz bekennt, andererseits aber durchblicken läßt, daß Chile fortan nicht mehr nur mit „equidad“, sondern mit „igualdad“ (frei übersetzt: nicht nur mit der behaupteten Chancengleichheit aller, sondern mit echtem gesellschaftlichen Ausgleich) wachsen soll. Nach offizieller Lesart soll diese rhetorische Wendung in seinem neuen Wahlslogan den im Vergleich zu den Regierungen Aylwin und Frei stärkeren Kompromiß betonen, sich der gesellschaftlichen Schieflage endlich anzunehmen und die Wohltaten des Wirtschaftswachstums gerechter verteilen zu wollen. Freilich ist bislang ein Rätsel geblieben, wie eine solche Sozialpolitik bei einem von der rechten Opposition dominierten Senat und Wirtschaftsprognosen, die eine Rezession mit zuletzt fast 3% Negativwachstum und eine Arbeitslosenquote von 11% vorhersagen, in die Praxis umgesetzt werden könnte. Tatsächlich dürfte der politische wie wirtschaftliche Handlungsspielraum eines Präsidenten Lagos nicht nur enger als derjenige seiner Vorgänger werden, sondern überhaupt wird das Thema der Regierbarkeit neue Schärfe erhalten. Schließlich gründete die politische Stabilität der 90er Jahre trotz der nach wie vor zutiefst polarisierten Gesellschaft maßgeblich auf den Wirtschaftserfolgen des Landes.