Nachruf | Nummer 433/434 - Juli/August 2010

Ein Denken in Brüchen

Zum Tod des ecuadorianisch-mexikanischen Philosophen und Essayisten Bolívar Echeverría

Wenn es jemanden gibt, von dem man sagen könne, er habe die kritische Theorie und so genannte Frankfurter Schule nicht nur nach Lateinamerika exportiert, sondern auch deren Kritik der Moderne aus der Perspektive lateinamerikanischer Geschichte neu geschrieben, dann ist dies der ecuadorianisch-mexikanische Philosoph Bolívar Echeverría. Am 5. Juni 2010 ist er im Alter von 69 Jahren in seiner Wahlheimat Mexiko-Stadt gestorben.

Javier Sigüenza

Er war ein Übersetzer. In einer tiefen, vielleicht benjaminschen Bedeutung des Wortes. Bolívar Echeverría, gebürtiger Ecuatorianer, Deutschlandkenner und Wahlmexikaner, Philosoph und Essayist, übersetzte nicht einfach nur europäische Autoren wie Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Max Horkheimer, Jean Paul Sartre und Karl Marx in eine andere Sprache. Er „übersetzte“ und modifizierte auch die in Zentraleuropa entstandene kritische Theorie aus der Perspektive lateinamerikanischer Geschichte. Im Zentrum seines philosophischen und essayistischen Werkes steht dabei seine Theorie des Barocken und die Analyse komplexer Transkulturalisierungsprozesse als Grunderfahrung der Moderne in Lateinamerika.
Fast zehn Jahre seines Lebens verbrachte Bolívar Echeverría in Berlin. Es waren prägende, wegweisende Jahre. Zunächst hatte ihn das Interesse an dem umstrittenen Philosophen Martin Heidegger Anfang der 1960er Jahre mit einem DAAD-Stipendium zwanzigjährig nach Freiburg verschlagen. Doch die Pforten zu den Vorlesungen des Großmeisters blieben ihm verschlossen, nur noch wenigen, auserwählten studentischen Zöglingen gewährte dieser Einlass.
So kam es, dass der politisch interessierte Student weiter in das neu eingemauerte West-Berlin zog, wo er bis 1968 bleiben würde, und an der FU Berlin Philosophie, vor allem bei dem Marxisten Hans Joachim Lieber, studierte. Heidegger wurde bald einer freudomarxistischen Relektüre unterzogen und das Kapital von Karl Marx in Angriff genommen. Schon in Ecuador hatte er enthusiastisch die französischen Existenzialisten diskutiert sowie die Entwicklung des Kalten Krieges und der Kubanischen Revolution verfolgt.
In Berlin fand er schnell Anschluss an intellektuelle Kreise und die Westberliner Polit-Bohème. In diesen Jahren entstand auch seine Mitarbeit in der Zeitschrift Der Anschlag und seine Freundschaft zu Rudi Dutschke, die ihm den Spitzname „Rote Front Bolívar“ einbrachte. Im Gespann mit Dutschke fungierte er in diesen Kreisen nicht selten als Übersetzer zwischen Erster und Dritter Welt. So kommentierte Echeverría in der Redaktion die Bücher von Frantz Fanon und die jüngsten politischen Entwicklungen in Lateinamerika, während Dutschke im Verband lateinamerikanischer Studenten das Werk von Herbert Marcuse zur Diskussion stellte.
Als es Echeverría im Sommer 1968 zurück nach Lateinamerika zog, hieß der Zielort: Mexiko-Stadt. Die Studierendenbewegung war hier wie dort in vollem Gange. Er organisierte Diskussionsrunden und eine kleine Ausstellung zur Studierendenbewegung an den Universitäten in Berlin und Mexiko Stadt. Auch hier handelte es sich um eine Art Übersetzungsarbeit: Die verschiedenen Erfahrungen dieses Jahres sollten über den Ozean hinweg gehört und ausgetauscht werden, und nicht zuletzt die internationale Solidarität fördern.
In den 1970er Jahren setzte Echeverría seine philosophische Ausbildung und akademische Karriere am Lehrstuhl des exilspanischen marxistischen Philosophen Adolfo Sánchez Vázquez an der renommierten staatlichen Universität UNAM fort, wo Echeverría bis zu seinem Tod lehren würde. In den 1970er Jahren flüchteten viele verfolgte Intellektuelle aus Lateinamerika nach Mexiko ins Exil. Mit einigen von ihnen gründete Echeverría damals die Zeitschrift Cuadernos Políticos, die in den 16 Jahren ihrer Existenz zu einem wichtigen Referenzmedium der mexikanischen und lateinamerikanischen Linksintelektuellen wurde. Ihre Unabhängigkeit sowohl vom Staat, als auch von der Kommunistischen Partei und den Dogmen des orthodoxen Marxismus machte sie zu einem wichtigen Organ. Zugleich startete Echeverría mit einer Neuübersetzung von Marx‘ Thesen über Feuerbach und einigen Texten von Bertolt Brecht seinen Werdegang als Übersetzer philosophischer Texte im klassischen Sinne.
Seine wichtigste Übersetzungsleistung liegt aber zweifellos in der Relektüre und Weiterentwicklung der kritischen Theorie. Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung der Moderne in Lateinamerika und dem verbreiteten Eurozentrismus, unterzog er europäische Theorien und Kritiken der kapitalistischen Moderne seit den 1980er Jahren einer Relektüre. Auch entwarf er eine Theorie dessen, was er idealtypisch den vierfachen Ethos der Moderne nannte, wobei mit Ethos eine Daseinsform beziehungsweise ein Selbst- und Weltverhältnis gemeint ist.
In Anlehnung an und Abweichung von Max Weber, der der Frage nachgegangen war, wie die Entwicklung des Kapitalismus und die protestantische Ethik zusammenhingen, fragte Bolívar Echeverría, welche verschiedenen Daseinsformen das Leben in den Widersprüchen der kapitalistischen Moderne produziert hatte und welches die dominante Erfahrung der Moderne in Lateinamerika sei. Seine Antwort lautete: der barocke Ethos. Dessen Entstehung sei eine historische Antwort auf den Schock der fast kompletten Zerstörung existenter Kulturen im Zuge der gewalttätigen Kolonialisierung. Er drücke sich aus als eine kreative Form des Widerstands, der Subversion und Kritik des dominanten, realistischen Ethos der westlichen Moderne, was zu komplexen Transkulturalisierungsprozessen beziehungsweise Mestizaje kultureller Formen führt. In diesem Prozess werden sowohl die dominante als auch die subalterne Kultur transformiert.
Mit dieser Konzeption der Kulturmischung oder Mestizaje grenzt er sich sowohl von nationalistischen Mestizaje-Diskursen der harmonischen Einheit in der Vielheit, als auch von postmodernen Varianten eines herrschaftsfreien Spiels der Differenzen ab. Auf diese Weise behandelt Echeverría schon früh wichtige Fragen zum Verhältnis von Kultur, Macht und Kolonialismus aus einer marxistischen Perspektive, welche eurozentrische Erzählungen der Moderne in Frage stellte – lange bevor die postcolonial studies und die Versuche der Provinzialisierung Europas in den Universitäten in den USA, Indiens und Europas in Mode kamen. Nachzulesen sind diese Reflektionen auf Spanisch vor allem in seiner Aufsatzsammlung zum Kulturbegriff Definición de la cultura und seinem Buch La modernidad de lo barroco von 1998. Ins Deutsche wurden bisher allein einzelne Essays und Artikel übersetzt.
Wer das spielerische Element des Essays als Form liebt, der findet in Echeverría auch einen begnadeten, scharfsinnigen Essayisten und Kritiker seiner Zeit, der gleichermaßen Essays über den Mauerfall, die Krise der Moderne, die Politik und das Politische, über Links-sein heute, wie über einige seiner geistigen Ziehväter, heißen diese Walter Benjamin, Martin Heidegger, Octavio Paz oder Fernand Braudel schreibt.
Das Werk von Bolívar Echeverría zeigt uns nicht etwa die guten Seiten des verkehrten Lebens in der kapitalistischen Moderne. Vielmehr vermag er es, uns aufzueigen, wie es möglich ist, auf kritische und aktive Weise das gute Leben inmitten des Schlechten zu kreieren, indem das Kontinuum der Geschichte aufgebrochen wird. So wie die Kunst, das Spiel oder das Fest mit dem Mittel der Unterbrechung arbeitet, so schrieb Echeverría seine Texte, so bejahte er das Leben inmitten des Todes.

Übersetzung: Anne Becker

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