Nummer 433/434 - Juli/August 2010 | Queer

Sexuelle Vielfalt als eigenständiges Arbeitsfeld

Interview mit der ecuadorianischen Soziologin Irene León

Irene León arbeitet im Vorstand der feministischen Organisation FEDAEPS und bei der alternativen Nachrichtenagentur ALAI. Sie ist Mitbegründerin des Süd-Süd-Dialogs von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern (LGBT) auf dem Weltsozialforum. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit ihr anlässlich der queeren Konferenz „Desiring Just Economies – Just Economies of Desire“, die Ende Juni in Berlin stattfand.

Sebastian Henning

Welchen Stellenwert hat die sexuelle Vielfalt in der ecuadorianischen Bürgerrevolution?
Die sozialen Bewegungen in Ecuador sind ja auf einen sehr breiten Veränderungsentwurf gerichtet, einen Gesellschaftsentwurf, der eine andere Kultur des Zusammenlebens anstrebt. Dabei geht es um sämtliche Bereiche. An der Weiterentwicklung dieses alle einschließenden Projekts ist die ganze Gesellschaft beteiligt. Die verschiedenen Völker und Nationalitäten Ecuadors, die unterschiedlichen Lebensformen und Eigenheiten der sozialen AkteurInnen sollen dabei miteinander in Bezug gesetzt werden.
Es geht in Ecuador also in erster Linie darum, strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass dieser allgemeine gesellschaftliche Wandel erreicht wird. Die wichtigste Veränderung in den letzten drei Jahren, seit der Bürgerrevolution, ist ja die Festschreibung der Plurinationalität des Landes in der Verfassung und die der Querschnittsaufgabe des Konzepts des „Guten Lebens“. Es geht also insgesamt um ein Projekt, das auf gesellschaftlicher Vielfalt gründet, wir sprechen dabei sogar im Plural von Diversitäten. Die Anerkennung für sexuelle Vielfalt ist ein fester Bestandteil dieses derzeit stattfindenden fundamentalen Umwälzungsprozesses.

Wie hat sich die Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern (LGBT) in Ecuador in den letzten Jahren entwickelt?
Bereits 1998 war ein Diskriminierungsverbot auch aufgrund der sexuellen Orientierung in die Verfassung eingeführt worden, das nun noch um das Merkmal der geschlechtlichen Identität erweitert wurde. Zudem ist das Recht der Menschen verbrieft, selbst frei über ihren Körper und ihre Sexualität zu entscheiden. Erstmals wird sexuelle Vielfalt in der staatlichen Planung als eigenständiges Arbeitsfeld berücksichtigt, das insgesamt etwa 40 Punkte umfasst. Dazu gehört beispielsweise eine Überarbeitung der Lehrpläne in allen Bildungseinrichtungen des Landes, um gegen Homophobie und andere Diskriminierungen anzugehen. Auch in den Bereichen Kultur, Sport und Politik wird eine solche Gleichstellung vorangetrieben.

Welche Aktionsfelder wurden von den LGBT-Gruppen in Ecuador bearbeitet?
Die wichtigste Mobilisierung entstand in den 1990er Jahren, als im Umfeld von FEDAEPS die Verfassungsmäßigkeit des Artikels 516 des Strafgesetzbuches angezweifelt wurde, der für homosexuelle Handlungen vier bis acht Jahre Haft festlegte. Diese Verfassungsbeschwerde führte erstmals viele Menschen zum Thema sexuelle Vielfalt zusammen, die sichtbar wurden und schließlich 1997 die Außerkraftsetzung des Artikels erreichten.
In den letzten Jahren sind zahlreiche neue Gruppen entstanden. Das wichtigste aber, was in den Jahren vor 2007 stattfand, war, dass im politischen Diskurs sexuelle Vielfalt in den Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Prozessen gestellt wurde. Es wurde deutlich gemacht, dass sexuelle Vielfalt eben nicht loszulösen ist von den konkreten Lebensumständen, von gesellschaftlicher Teilhabe, von Entscheidungen aufgrund der eigenen ökonomischen Situation. Ab Ende der neunziger Jahre beteiligten sich viele LGBT an den Kämpfen gegen das Freihandelsabkommen ALCA. In Ecuador gründete sich im Jahr 2000 der Süd-Süd-Dialog der LGBT, einer Initiative Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, der dann auch bei den Weltsozialforen präsent war, sich also aktiv am Kampf gegen Neoliberalismus und Kapitalismus beteiligte.

Wie hat sich dieser Süd-Süd-Dialog weiterentwickelt?
Bei den Weltsozialforen gab es immer auch Foren zum Thema sexuelle Vielfalt. Es gibt dort nach wie vor Initiativen, die sexuelle Vielfalt und den Kampf gegen den Neoliberalismus verbinden. Bei dem kommenden Sozialforum, im Januar 2011 in Dakar, wird es wieder einen solchen Raum geben.

Mit Blick auf die revolutionären Prozesse in Venezuela, Bolivien und Ecuador: Konnten die LGBT-Bewegungen sich auf breiter Ebene in diese Prozesse einbringen?
Das hängt, wie auf der ganzen Welt, sicher von der politischen Ausrichtung der einzelnen Gruppen ab. Die LGBT-Gemeinschaft ist ja sehr heterogen – es kommen Menschen aller sozialen Schichten, ethnischen Zugehörigkeiten, gesellschaftlichen und politischen Spektren zusammen. In den letzten Jahren haben sich aber wirklich phänomenale Dinge ereignet. So war der zweite Gipfel der Völker im Dezember 2006 in Bolivien das erste größere lateinamerikanische Treffen sozialer Bewegungen, auf dem es auch eine sichtbare Präsenz von LGBT und insbesondere Transgendern gab. Das hatte sich so in Bolivien nie zuvor ereignet. So wie andere zuvor marginalisierte politische Initiativen und Gruppen können LGBT nun sichtbar in der Öffentlichkeit auftreten, wie es vorher nie möglich war.
Ein anderes Beispiel ist ein kürzlich unterzeichnetes Abkommen zwischen dem kubanischen Sexualinstitut CENESEX und der venezolanischen Regierung unter Einbeziehung von LGBT-Gruppen an der Basis. Im Rahmen des solidarischen Austauschs zwischen den Mitgliedern des ALBA-Bündnisses werden also auch Erfahrungen im Kampf gegen Homophobie weitergegeben.

Um nochmals auf Bolivien zurückzukommen: In deutschen Medien wurde unter anderem behauptet, dass im Rahmen kommunitärer Justiz in indigenen Gemeinschaften Homosexualität geächtet und mit Steinigung oder Vertreibung bestraft wird. Wie sind solche Aussagen zu bewerten?
Mir ist ehrlich gesagt keine indigene Gemeinschaft bekannt,  die Homosexualität mit Steinigung oder Vertreibung bestraft. Ich bin selbst Indigene und bin mit den Prozessen in Ecuador und Bolivien eng vertraut. Von so etwas habe ich aber noch nie gehört. Es wäre sicher wichtig, bei einer solchen Darstellung genauer nach den Quellen zu fragen, nach dem Ort und dem indigenen Volk, also dem Kontext, der eine solche Situation hervorgebracht hat. Stattdessen wird hier aber eine generalisierende Aussage getroffen, die diskriminierend ist und Vorurteile schürt.

Existieren Ihrer Meinung nach Widersprüche zwischen kulturellen Traditionen indigener Gemeinschaften und einer emanzipatorischen Perspektive auf Frauenrechte oder sexuelle Vielfalt?
Während der emanzipatorischen Prozesse der letzten Jahre ist von den indigenen Völkern keinerlei Forderung nach Repression gegenüber LGBT eingebracht worden. Es mag sein, dass es einzelne Menschen mit Vorurteilen gibt, so wie es sie überall gibt. Aber von Gemeinschaften in ihrer Gesamtheit ist mir eine solche Ablehnung nicht bekannt. Ganz im Gegenteil: In Dokumenten, wie den lateinamerikanischen Beiträgen für die Weltkonferenz gegen Rassismus, wird von allen beteiligten Nationalitäten und Völkern  ausdrücklich auch die Einbeziehung von Frauenrechten und sexueller Vielfalt gefordert.

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