Mexiko | Nummer 433/434 - Juli/August 2010

Nie wieder Acteal

Interview mit dem indigenen Filmemacher José Alfredo Jiménez aus Chiapas über seinen Film Acteal – 10 Jahre Straflosigkeit, und wie viele noch?

José Alfredo Jiménez arbeitet als Filmemacher für die Organisation Sociedad Civil Las Abejas. Er ist tzotzil-sprachiger Einwohner der Ortschaft Acteal in der Gemeinde Chenalhó in Chiapas. Zuletzt hat er den Dokumentarfilm Acteal – 10 Jahre Straflosigkeit über das Massaker von Acteal 1997 produziert. Zusammen mit sechs Maya-KünstlerInnen, GemeindekommunikatorInnen und drei nicht-indigenen AnthropologInnen und KünstlerInnen hat er außerdem das Buch Sjalel Kibeltik: Tejiendo Nuestras Raíces (Unsere Wurzeln weben) herausgegeben.

Interview: Barbara Rühling

Wie entstand die Idee, einen Film über das Massaker zu machen?
Das war Anfang 2007, als zehn Jahre seit dem Massaker vergangen waren. Zu dem Zeitpunkt war es uns wichtig, an die Öffentlichkeit zu treten, weil Anwälte der Paramilitärs eine Kampagne in Gang gesetzt hatten, die Geschichte des Massakers von Acteal umzuschreiben. Einerseits forderten sie die Freilassung der Paramilitärs, andererseits versuchten sie, das staatliche Verbrechen zu vertuschen. Wir wollten nicht zulassen, dass die Wahrheit der Überlebenden manipuliert würde.

Inwiefern unterscheidet sich dieser Dokumentarfilm von anderen Filmen?
Es gab bereits mehrere Dokumentarfilme über das Verbrechen, aber niemand aus unserer eigenen Organisation hatte bisher einen Film darüber gemacht. Ich bin zwar der Verantwortliche für den Film, aber er ist auch ein Gemeinschaftswerk von den Überlebenden, den Vorsitzenden von Las Abejas und allen, die dem Film Inhalt geben. In den anderen Dokus kommen Zeugen und Überlebende zu Wort, aber meistens wurden sie auf Spanisch interviewt oder die Fragen wurden aus dem Spanischen in Tzotzil übersetzt. Die Fragen und der ganze Film wurden nicht so strukturiert, wie ein Tzotzil den Fall sieht. In meinem Film wurden die Interviews auf Tzotzil von einem Tzotzil geführt, das macht den Hauptunterschied aus. Mir haben viele Zuschauer von den Abejas, aber auch von außerhalb gesagt, dass mein Film ganz anders wirkt, weil man die Vision der Tzotzil dahinter sieht.

Zum Beispiel beginnt und endet der Film mit einer Legende der Tzotzil.
Genau, mit dem Mythos aus dem Popol Vuh. Man kann die Geschichte der Maya mit der der verstorbenen Kameraden in Acteal verbinden, denn auch sie starben gewissermaßen für den Kampf gegen das System. Im heiligen Mythos des Popol Vuh geht es um Zwillinge, die Söhne von Göttern sind, die für ein freies Leben kämpften, da die unterdrückenden Mächte aus der Unterwelt sie nicht in Frieden leben ließen. Zuerst ließen sie sich von ihren Feinden töten, um sie dann in wiedergeborener Gestalt hereinzulegen. Davon sprechen wir in dem Dokumentarfilm, wie die Zwillinge am Anfang in die Unterwelt hinabsteigen, um die Herren dort zu bekämpfen, sie zum Schluss besiegen und so den Frieden in der Welt herstellen. Auch die Verstorbenen von Acteal sehen wir als Opfer dafür, dass neues Leben aufkeimen kann.

Waren Sie selbst am 22. Dezember 1997, dem Tag des Massakers, in der Gemeinde?
Nein, wir waren schon einen Monat vorher vertrieben worden und lebten in einem Lager zwanzig Kilometer von Acteal entfernt. Die Paramilitarisierung war schon seit Mai 1997, sieben Monate vor dem Massaker in Chenalhó, sichtbar geworden. Die ganze Zeit lang versuchten wir, auf die Lage aufmerksam zu machen und baten die Regierung, diese Leute zu entwaffnen, die uns bedrohten und beraubten.

Gab es in Mexiko Verurteilungen der Verantwortlichen?
Zuerst wurden 88 Paramilitärs festgenommen, darunter auch der damalige Gemeindevorsitzende von Chenalhó. Mehr als 30 von ihnen wurden zu 25 bis 40 Jahren Haft verurteilt. Man hat auch 15 Beamte verurteilt, aber nur die auf niedrigster Ebene. Die haben ihre etwa zweijährigen Haftstrafen schon abgesessen. Dabei ging es natürlich darum, die nationale und internationale Gesellschaft zu beruhigen. Sie wurden aber immer als Einzeltäter behandelt. Niemand wurde wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt. Keiner fragte, wer sie mit Waffen ausgestattet hatte. Die Rolle der Regierung und des Militärs sollte vertuscht werden.

Wie ist die Situation in Acteal im Moment, nachdem einige der am Massaker beteiligten Paramilitärs aus dem Gefängnis entlassen wurden (vgl. LN 423/424)?
Seit der mexikanische Oberste Gerichtshof letztes Jahr 29 Paramilitärs wegen angeblicher Verfahrensfehler freigelassen hat, ging unter den Überlebenden natürlich die Angst um, besonders unter den Zeugen, die ausgesagt hatten. Während der Gegenüberstellungen mit den Paramilitärs hatten diese die Zeugen bedroht. Der Gouverneur von Chiapas versprach den Paramilitärs, ihnen Land in der Nähe der chiapanekischen Hauptstadt, Häuser und Geld zu geben, damit sie dort ein neues Leben anfingen. Er könne die Freilassung der Paramilitärs nicht verhindern, wolle aber zumindest dafür sorgen, dass sie nicht in ihre alten Gemeinden zurückkehrten. Das war natürlich eine Täuschung, das übliche Theater der Politiker. Weniger als einen Monat später sah man die Paramilitärs wieder in der Nähe von Acteal, und die Überlebenden haben sich große Sorgen gemacht.

Sind die Strategien der Regierung denn dieselben geblieben?
Die Strategie der Regierung gegen die Aufständischen ist vielleicht nicht mehr, den Paramilitärs einfach ihre Waffen zurück zu geben. Eher bietet man den Überlebenden des Massakers Geld an. Der Gouverneur von Chiapas ließ in von der Regierung kontrollierten Medien verbreiten, er lade die Überlebenden und Vorsitzenden von Las Abejas zu einem Dialog ein. Und dass er ihnen Stipendien und Pensionen anbiete. Gerechtigkeit könne man nicht nur durch Gefängnisstrafen erreichen, sondern auch durch andere Dinge. Implizit meinte er, wenn ihr schweigt, dann geben wir euch Geld. Vor einem Monat kamen Funktionäre der Regierung nach Acteal und gingen von Haus zu Haus. Sie nahmen die Namen der Verstorbenen des Massakers auf und überprüften die Sterbeurkunden. Den Familien wurden 5000 Pesos monatlich angeboten. Damit will man offensichtlich die Überlebenden zum Schweigen bringen. Denn bis jetzt prangern sie das Massaker an und machen die Straflosigkeit publik. Das ist für die Regierung und die beteiligten Politiker natürlich ungemütlich. Sie wollen den Fall abschließen. Die größte Bedrohung im Moment geht nicht von Waffen aus, sondern vom Geld. Die Regierung nutzt die Not der Menschen aus.

Wurden die Angebote der Regierung angenommen?
Die Überlebenden haben ihre Reaktion abgestimmt. Sie wollen kein Geld annehmen, mit dem das Blut ihrer Verstorbenen bezahlt werden soll. Stattdessen werden wir weiterhin Gerechtigkeit fordern, gegen die Straflosigkeit kämpfen und an das Geschehene erinnern. Wir werden nicht schweigen.
Las Abejas und das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas haben den Fall vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission gebracht. Wie ist der Stand dort?
Die Kommission erhält natürlich viele Anfragen. Im Fall von Acteal warten wir noch auf eine Antwort, obwohl er schon vor fünf Jahren dort eingereicht wurde. Irgendwann wird die mexikanische Regierung vor der Kommission geradestehen müssen.

Welche Art der Unterstützung erhoffen Sie sich von der internationalen Gemeinschaft?
Uns ist wichtig, dass die Ereignisse bekannt werden, damit ein Massaker wie das in Acteal nicht wieder passiert. Es soll Druck auf die mexikanische Regierung ausgeübt werden, damit sie ihre eigenen Gesetze und internationale Abkommen über Menschenrechte einhält. Mexiko stellt sich gerne als Verteidiger der Menschenrechte und der Rechte indigener Völker dar, aber was in Mexiko gemacht wird, ist genau das Gegenteil. Wir werden dieses Jahr im Dezember den 13. Jahrestag des Massakers begehen und bitten die internationale Gemeinschaft, uns mit Aktionen zu unterstützen.

Wie sehen Sie die Kampagne von Las Abejas gegen die Straflosigkeit in Verbindung mit den jüngsten paramilitärischen Aggressionen in Oaxaca (vgl. LN 432)?
Die Situation der Menschenrechte in San Juan Copala in Oaxaca erinnert an die Erfahrungen in Acteal in der Zeit vor dem Massaker. Da die Regierung Oaxacas und die mexikanische Bundesregierung die Paramilitärs nicht entwaffnen und keine Justiz walten lassen, kann es dort zu einem neuen Massaker kommen. Darum schließt unsere Kampagne gegen die Straflosigkeit nicht nur den Fall von Acteal ein. Im letzten Jahr haben wir ein Forum für eine andere Justiz organisiert, an dem Leute aus Oaxaca teilgenommen haben: Die Versammlung der Völker Oaxacas (APPO), Repräsentanten der Volksfront für die Verteidigung der Erde aus San Salvador Atenco und andere Organisationen, wie die Gewerkschaft der Elektriker (SME). Wir müssen einander unterstützen. Las Abejas hat sich bereits zu den Ereignissen geäußert: Wir fordern Gerechtigkeit. Es dürfen nicht noch mehr Männer und Frauen in Oaxaca und Mexiko leiden.

Acteal, 10 años de impunidad y ¿cuántos más?
(Acteal. 10 Jahre Straflosigkeit, und wie viele noch?) // Dokumentarfilm von José Alfredo Jiménez Pérez //
Mexiko 2007/08 // 45 Min. // Tzotzil/Spanisch mit englischen Untertiteln
Zum Herunterladen unter: http://acteal.blogspot.com/

Kasten:
Das Massaker von Acteal
Am 22. Dezember 1997 töteten Paramilitärs in Acteal 45 Mitglieder der den ZapatistInnen nahe stehenden gewaltfreien Organisation Las Abejas, die meisten davon Frauen und Kinder (siehe LN 284, Februar 1998). Inzwischen wurden einige Einzeltäter verurteilt, jedoch wurden die Drahtzieher des Verbrechens, die in den höchsten Ebenen der mexikanischen Politik und des Militärs zu finden sind, nie zur Rechenschaft gezogen. Dabei organisierten sie die Paramilitarisierung in Chiapas und den Krieg niedriger Intensität gegen die Aufständischen. Mit ihrer Kampagne gegen die Straflosigkeit kämpfen Las Abejas bis heute für die Aufklärung des staatlichen Verbrechens. Der Dokumentarfilm von José Alfredo Jiménez entstand im Rahmen der Kampagne.

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