Guyana | Nummer 433/434 - Juli/August 2010

Ein Hauch Ewigkeit

Den Río Cuyubini stromaufwärts nach El Terror – Eine Flussexpedition ins Unbekannte

Das Grenzgebiet zwischen Venezuela und Guyana ist eine eigene Welt mit eigenen Gesetzen. Hier verschwinden nicht selten Menschen ohne je wieder aufzutauchen. Sogar ganze Ortschaften, die auf älteren Landkarten noch erscheinen, tauchen auf den nächsten Ausgaben nicht mehr auf. Ein persönlicher Reisebericht zu einer solchen Phantom-Siedlung.

Ingolf Bruckner

Auf einer alten Karte, die die Grenzregion von British Guiana und Venezuela darstellte, bemerkte ich einen bizarren Namen: El Terror. Schreckensbilder schossen durch meinen Kopf. Wegen der geographischen Nähe zu Jonestown, dem Ort des Massensuizids einer Sekte im Jahr 1978, welchem über 900 Menschen zum Opfer gefallen waren, oder der Nähe zum Bloody Creek bei Five Stars, jenem Bach, an dem sich rivalisierende Goldgräbercrews gegenseitig umbrachten? So sehr ich mich mühte, El Terror auf aktuellen Karten wiederzuentdecken: Der Name scheint getilgt aus dem Gedächtnis der Kartographen.
Neun Jahre sollten vergehen, bevor ich mich am 24. August 2003 auf der Weite des Orinoko wiederfinde, in unserer Ballahoo, einem kiellosen Holzboot guyanischer Bauart, bestückt mit 2 Außenbordmotoren. Mein Ziel? El Terror!
Neben mir sitzt, das blauschwarze Haar im Wind, D., meine Verlobte, eine Hindu, deren Eltern 1983 vor der wirtschaftlichen Not ihrer Heimat Guyana hinein in das Labyrinth des Orinokodeltas geflohen waren, um hier ein neues Leben zu beginnen, mit neuen Namen, neuen Ausweisen, neuem Geld und – mit dem Segen von Lakshmi Mata, der Göttin des Glücks und Wohlstands. Gelang es? Sie führen einen Handel mit dem Volk der Warao, die ihre Pfahlbauten weitab errichtet haben – was die Indigenen jahrhundertelang sowohl vor dem Terror weißer Entdecker als auch einer kreolischen Soldateska bewahrt hat, die die unbarmherzigen Sümpfe stets mieden. D.’s Eltern, ihr Bruder und ihre Tante tauschen Salzfisch von den Waraos gegen Stoffe, Arzneien, Zucker, Tabakstangen, Feuerwasser. Denn der Verkauf von Fisch in Tucupita bringt der Familie gutes Geld, und an der Orinokomündung, wo Ozeanwasser auf Flusswasser trifft, gibt es jede Menge Fisch. Doch es ist nicht das Business, es ist D., die von ihrer Mutter, der alten Matriarchin, am meisten geliebt wird. Und es ist D., die ihr am meisten Kummer gemacht hat. Kaum 18, lief sie mit einem im Delta stationierten Nationalgardisten davon, an die kolumbianische Grenze, wohin er versetzt worden war, um gegen die Guerilla zu kämpfen. D. verbrachte endlose Tage allein. Wenn er nach seinen Scharmützeln heimkam, weinte er vor Verzweiflung, er zitterte und er griff zur Flasche. Ein Mann, so hatte D. gelernt, muss immer stark sein. Sie ging. Er folgte ihr zu ihrem Elternhaus, schrie und schoss in die Luft, doch sie zeigte sich ihm nie wieder. Es vergingen Jahre der Einsamkeit. Jetzt aber scheint alles perfekt: Sie neben mir, und der Passat in unserer Nase. Indes: Von heute an sind es kaum mehr fünf Jahre, die D. auf dieser Welt noch beschieden sein werden. Am 5. April 2008 werden Revolverkugeln eines unbekannten Mopedfahrers die inzwischen 35jährige Frau treffen, während sie ihren Jeep in Tucupita einparkt.
Am Heck steht unser Steuermann, ein Hüne aus Guyana, der unter dem Namen M. berühmt ist und dessen Adern „globales Blut“ durchströmt: Seine Vorfahren waren Afrikaner, Arawaks, Portugiesen. M. ist für jedes Abenteuer zu haben. Er taucht auf und er taucht unter, ist immer allein, obwohl stets in Gesellschaft zu sehen. Die Frauen lieben ihn, den sanften Helfer in der Not, der noch keiner je einen Wunsch abgeschlagen hat. Über Jahrzehnte schmuggelte er Benzin von Venezuela nach Guyana und Menschen von Guyana nach Venezuela. Bei Fort Island, einer Insel im Essequibo, tauchte er mit modernem Equipment nach dreihundert Jahre altem Müll: leer gesoffenen Flaschen, welche die Sklavenhalter, in Ekel vor ihrer eigenen Grausamkeit und nicht minder großem Ekel vor der ihnen feindlich gesinnten Umgebung, ins Wasser geschleudert hatten. In den entlegenen Strömen Guyanas tauchte M. ebenfalls, den Saugschlauch im Arm, der die Ablagerungen der Flussbetten nach oben auf das Floß presste, wo eine Lavador genannte „Waschmaschine“ goldhaltigen Schlamm von wertlosen Sedimenten trennte. Indes: Nur ein Jahr wird vergehen, und er wird nicht mehr sein, der er heute ist. Wir werden nach Guyana aufbrechen. Von dort wird er nicht zurückkehren, wird sich als Bootsmann für Goldtransporte verdingen, wird erkranken an Malaria und bis zum Skelett abmagern. Dann wird sich die Spur des 39-jährigen verlieren. Heute aber steht er stolz am Heck. Zum Schutz seiner tränenden Augen hat er seine Skibrille aufgesetzt, in der sich die Wasserfläche des Orinoko unendlich fortsetzt.
Wegen Motorproblemen sind wir spät losgekommen. Hierzulande verläuft das Leben unkalkulierbar, und jeder noch so gute Plan muss durch Improvisationskunst ersetzt werden.
Wir biegen in einen südlichen Nebenarm des Orinoko ein, den Río Arature, jenen Schwarzwasserfluss, den ich auf zahlreichen Fahrten lieb gewonnen habe, und übernachten an der Einmündung des Caño Basama in einem alten Pfahlbau.
Während wir überm Sangrito-Feuer ein Stück Wild rösten, das wir unterwegs von den Waraos erhandelt haben, und an unserem Rum nippen, kommt unweigerlich die Story mit dem Koks hoch, die ewig alte, neue, gleiche: In der Nacht des 17. August zischte eine Crew von 7 Drogenkurieren in ihrem Fiberglasboot und mit einer Fracht von 500 Kilo durch die Große Barre des Orinoko 35 km östlich der Arature-Mündung. Die Barre zu befahren ist (außer am zeitigen Morgen) gefährlich; die Wellen türmen sich höher als im Meer. Das Boot raste gegen eine der Bojen, die den Containerschiffen die Fahrrinne anzeigen, und barst entzwei. 4 Besatzungsmitglieder ertranken. Ihr Mafia-Bossman traf am nächsten Tag in dem der Barre nächstgelegenen Dorf ein und zahlte den Waraos umgerechnet. 2.000 US-Dollar, um nach den Ertrunkenen und den Drogen zu suchen. Zwei Wasserleichen wurden tatsächlich gefunden: mit um den Leib gebundenen Kokainpäckchen. Als D.’s Tante mit ihrem Handelskahn eintraf, fand sie die Waraos orgiastisch feiernd vor: „Es gab keine Hütte, die nicht wenigstens 100 Dollar besaß“, erzählte sie später D., und sie machte bessere Geschäfte als je und verkaufte Stoffe, Kleider und Rum für 400 Dollar. „Warum nur sind es die Waraos“, klagte sie, „die immer Dollar oder Drogen auf den Sandbänken finden, nie ich! Ich möchte auch mal einen Packen finden!“
Morgengrauen. Nebel wabert überm Spiegel des Caño Basama, auf dem die schwarzen Nüsse der Temiche-Palmen wie Bälle treiben und mit hölzernem Poltern gegen unseren Rumpf schlagen. Wir quälen uns durch einen schmalen Verbindungskanal zum Caño Guayacaicoro und gewahren hier auf Stelzen, die an Spinnenbeine erinnern, die Hütten der Papageienfänger, welche ihre Beute an Tierschmuggler verhökern, um nicht zu verhungern. Der Guayacaicoro vereint sich mit dem Cuyubini und fließt in den Amacuro, den ärmsten und wildesten Fluss Venezuelas, und dort ist es die Familie Frederic Smalls, die mit uns ihre Schildkrötensuppe teilt. Wir steigen um in einen Einbaum und heuern Enrique Valenzuela an, einen Lotsen, der mit lederner Haut und der Brusttätowierung eines Adlers mit ausgebreiteten Flügeln vertrauenerweckend wirkt.
Und jetzt geht`s los: Die Fahrt den Cuyubini stromauf – nach El Terror. Sogleich bricht ein Sturm los. Mehrmals krachen Bäume in den Fluss. Unser Lotse liegt im Bug und warnt M. vor Pflanzenstängeln, die sich um die Schiffsschraube wickeln könnten, und gefährlichem Driftholz.
Nach dem Regen nehmen sich die wenigen, allesamt verlassenen Hütten wie von einem Fluch überschattet aus. 1994 kam D.’s Bruder bis hierher, an den Rand der Goldregion. Der 18-jährige war den „berüchtigten Banditenfluss“ hochgefahren bis zum Vorratsshop von Bruce Small, dem Sohn des alten Frederic. Nahebei verbrachte er die Nacht, den Kopf auf dem Motor, der hierzulande mehr wert ist als ein Menschenleben. Am Morgen, als er zur Rückfahrt rüstete, bat ein Goldgräber, mitfahren zu dürfen. Unterwegs klagte er plötzlich: „Ich habe Durchfall, lass mich an Land!“ – „Schwing deinen Hintern über Bord“, erwiderte D.’s Bruder. Aber der Mann zierte sich in falscher Scham und dirigierte das Boot an eine Lichtung. Rasch verschwand er im Busch, doch während D.’s Bruder sich eine Bristol ansteckte, hörte er Stimmen, und als er aufschaute, gewahrte er mehrere Männer … Einen Lidschlag später hatte er das Boot in der Flussmitte. Kugeln flogen ihm um die Ohren, dann war er gerettet.
Und nun, in der Dämmerung, erreichen auch wir Bruce‘s Shop. An der Uferfront zieht sich eine Baracke, in der durchreisende Goldgräber nächtigen. Doch der nur von einem Öldocht erleuchtete, stickige Raum ist voller Menschen, darunter etliche Malariakranke.
Also weiter! Ein Docht am Ufer zeigt uns die Stelzenhütte von Carlos Knight. Hundebellen zerreist die Finsternis, Kinderweinen. Es riecht nach Penicillin. Über mein Gesicht streichen Fledermausflügel. Eine Zikade klagt. Wir alle – außer Enrique, der im Boot wachen wird – spannen unsere Hängematten an die Dachbalken. D. kocht Spaghetti. Carlos und seine Familie sind dankbar: Am Cuyubini ist der Hunger Dauergast. Wie stets checke ich in der Nacht das Boot – Enrique, wirklich zuverlässig, hört mich sofort.
Vormittag. Die Stromschnelle El Ahogado, „Der Ertrunkene“, macht uns einen Strich durch die Rechnung. Wir entladen unser Habe auf einen Felsen in der Flussmitte, während M. und E. das Boot durch die Strömung navigieren. Silberne Fischchen, aufwärts wandernd, schnellen über den Fels; D. befreit sie aus ihrer hilflosen Lage und setzt sie oberhalb wieder ein.
Über El Ahogado habe ich bereits gelesen: Francisco Lugo (1894-1982), seinen Landsleuten zufolge „der einzige gebildete Mensch aus Amacuro, der in der großen weiten Welt Ruhm erlangte“, Philosoph, Parapsychologe, Ingenieur, unternahm in seiner Jugend eine Reise bis zu dem Ort El Terror, um Gold zu suchen. Er passierte El Ahogado, berüchtigt wegen der dortigen Jaguare und Schlangen, und gelangte nach El Terror: Gold fand er kaum, erkrankte jedoch an Gelbfieber.
Heute sind wir es, die das Antlitz von El Terror erblicken: Das Camp ist aufgegeben, aber warum man es so nannte, klar: Vor uns donnert auf der gesamten Flussbreite ein schrecklicher Wasserfall herab.
Am Fuße des Falls, auf dem Waldboden, liegen ausgestreut wie Juwelen Pflanzensamen, in Formen und Farben so merkwürdig, wie niemand je erdenken könnte. Einer der Samen sieht aus wie ein Kristallkiesel; in seinem Inneren ringelt sich fötengleich der Keimling. Beim Baden in der Lagune fühlen wir einen Hauch von Ewigkeit.
Bald wird unsere illustre Gesellschaft zurückkehren, jeder in seine Welt, E., M., D., ich. Wir werden Gold ertauschen, am Amacuro Kochbananen, Ingwer, Kürbisse, Kokosnüsse kaufen, werden bei Frederic Rum trinken, und am darauffolgenden Morgen die Große Barre des Orinoko kreuzen, mit uns ein malariakranker Indigener, 16 Jahre alt, in eine Decke gehüllt. Und unser Schicksal wird sich erfüllen.

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