Ein Kongreß über Gedichte?
In den USA traf sich, wer spanischsprachige Lyrik schreibt, liest und kommentiert
Wie Mitglieder eines Geheimbundes reisten LyrikerInnen und AkademikerInnen aus Argentinien, Chile, Mexiko, Frankreich, Deutschland und US-amerikanischen Universitäten nach Eugene, einer grünen Kleinstadt an der Pazifikküste. Vom 24. bis 26. Oktober vollzog sich eine poetische Inbesitznahme der Stadt unter dem Dach des Romanischen Instituts der University of Oregon. Sie ging im Stillen und nicht ohne Hindernisse vor sich, denn Flugzeuge verspäteten sich, verirrten sich oder kamen einfach nicht an ihrem Ziel an. Schließlich regnete es erbarmungslos.
Schon unterwegs in den Flugzeugen versuchten sich die Teilnehmer gegenseitig zu erkennen – sei es an einer träumerischen Ausstrahlung, an Brillen, Bärten, sei es an der Bescheidenheit der einen, der Bedeutsamkeit der anderen, an Kleidung, spanischsprachigen Büchern, Witzen oder Komplimenten. So waren unter den Passagieren die Poeten von den Politikern zu unterscheiden, von Managern, Schmugglern, Studenten, chicanos, Touristen. Nicht immer fand man sich, aber zuweilen. Die Erschöpfung nach endlosen Reisen, die Zeitumstellungen, das Wiedersehen nach vielen Jahren, Schreie, innige Umarmungen, Lachen: Die lateinamerikanischen Diktaturen haben die Menschen über den ganzen Globus zerstreut. Als sich die Stürme der Gefühle gelegt hatten, ging es an die Arbeit.
„The Powers of Poetry in Spanish, Latin American and Latino/a Cultures“, so der Name des Kongresses, brachte nicht nur lateinamerikanische, sondern auch spanische Dichter und Literaturwissenschaftler zusammen.
Übereinstimmungen und Kontraste im Blick
Die übliche Aufspaltung nach Generationen oder Ländern und die Ausrichtung auf spezielle Autoren spielte keine Rolle. Es handelte sich darum, „die Übereinstimmungen und Kontraste in den Blick zu bekommen, die in der zeitgenössischen Lyrik aus Spanien, Lateinamerika und – sofern spanischsprachig – den USA bestehen“, so Juan A. Epple, einer der Organisatoren. Die über zweihundert Einsendungen, die im Vorfeld des Kongresses gezählt wurden, bewiesen nachdrücklich, daß an der Beschäftigung mit Lyrik reges Interesse besteht. Mangels Platz und Zeit konnte davon nur die Hälfte in den Kongreßverlauf integriert werden. So beschäftigten sich sechs parallele Arbeitsgruppen mit den Papieren, in jeder Gruppe lasen Dichter aus ihren Werken. So gingen drei Tage dahin… Unter den angebotenen Themen: Der Dichter und die kollektive Seele, Weibliche Identität, Homosexuelle Liebe, Technische Probleme bei Lesungen und Übersetzungen, Das Verhältnis von Poesie und Musik, Poetische Gerechtigkeit, Körper und Text, Aids, Leroy Quintana und die chicano-Poesie, Die Avantgarde in Chile, Das imaginäre Wir… Es gab Referate über Werke zahlreicher Lyriker, darunter García Lorca, Pablo Neruda, Patricio Manns, César Vallejo, Astrid Fugellie, Gabriela Mistral.
Besonders an dem Treffen war, daß LiteraturwissenschaftlerInnen mit LyrikerInnen zusammenkamen und miteinander sprachen. Das geschieht selten. Zu den Besonderheiten zählte aber auch die Anwesenheit von drei TeilnehmerInnen, die speziell eingeladen wurden und längere Lesungen hielten: Patricio Manns, ein in Frankreich lebender chilenischer Komponist und Schriftsteller, sang seine Geschichten, durch die die Gruppe Inti Illimani berühmt geworden war, und stellte sein „Memorial de Bonampak“ vor, in dem es um das Leiden der Maya-Völker geht und der Zapatistenaufstand einbezogen ist… María Negroni, Argentinierin, zerbrechlich, klein, fast ein Nichts, las ihre volltönenden Verse: „…en esto de existir/ conviene quedarse en lo oscuro…// …esa mujer/ con un balcón en la mano…// …un día me dirás que no existes/ y tu ausencia será toda mía…“ (…was das Dasein anbelangt/ empfiehlt es sich, im Dunkeln zu bleiben…// ..diese Frau/ mit einem Balkon in der Hand…// …eines Tages wirst du mir sagen, daß du nicht existierst/ und deine Abwesenheit wird ganz mein sein…). Das Dreiergespann vervollständigte Juan Gelman, in Mexiko lebender Argentinier, der seine Gedichte mit der Schlichtheit eines Weisen las, der viele Wege gegangen ist und etwas verstanden hat. Seine Stimme eines alten Kindes schlug den Takt zum launischen Regen, der gnadenlos gegen die Fenster peitschte.
Wohnhafte Schlangen und andere Viecher
Außerhalb der Universität, dem Regen näher, bot ein improvisierter Tisch die wertvollsten Schätze dieser Tagung dar: die Bücher, verfaßt von den Anwesenden, den Fehlenden, den Toten. Vom erst kürzlich verstorbenen Jorge Teillier die posthumen Gedichte „Hotel Nube“ (Hotel Wolke), von den nicht Gekommenen: Sybil Brintrup, „Vaca Mía“ (Du meine Kuh) und „Ella y las ovejas“ (Sie und die Schafe), und Omar Laras „Serpientes habitantes y otros bichos“ (Wohnhafte Schlangen und andere Viecher).
Der jüngste Dichter, Jesús Sepúlveda, ein chilenischer Student in Eugene, provozierte mit seinem frischen Humor: „…las pruebas son contundentes:/ Dios es una negra…“ (…die Beweise sind stichhaltig:/ Gott ist eine Schwarze…). An seiner Seite ein Poet in Schlips und Kragen, Andrés Morales: „El hombre que come palomas/ no conoce el Paraíso“ (Der Mensch, der Tauben ißt,/ kennt nicht das Paradies). Carlos Trujillo präsentierte Texte, die auf Chiloé, seiner chilenischen Heimatinsel im Süden der Welt geschrieben wurden. Jorge Madrazo glänzte mit seinen starken sinnlichen Bildern aus Argentinien. Mauricio Ostria schließlich stellte seine SchülerInnen aus Concepción, Chile, vor.
Keine Scheu vor schwierigen Themen
Eine der wichtigsten Sitzungen war der Vorstellung des Buches „POESIdA“ (span. sida= Aids) gewidmet, einem kollektiven Werk unter Federführung von Carlos Rodríguez-Matar. Von Aids zu sprechen, ist eine Sache, aber daß lateinamerikanische Männer Gedichte über Liebe und Tod mit Blick auf die Krankheit schreiben, dürfte ein Schock für die übrigen Männer gewesen sein, eine Wunde im machistischen Weltbild und schon daher von Wert.
Und es gab deutlich sichtbar eine weibliche Poesie: Von der bereits erwähnten, überzeugen-den María Negroni zur liebevollen, vitalen, verschmitzten Lyrik von Lilianet Brintrup: „Estoy en la tierra de América la del Norte/ que me avasalla perfectamente/ en su odio por lo que represento“ (Ich bin in Amerika, dem nördlichen/ das mich hervorragend begleitet/ in seinem Haß auf das, was ich verkörpere). Alejandra Basualto, stark, erotisch, herablassend, zärtlich: „podría morir/ de inviernos como éste/ si no supiera/ que existes“ (ich könnte sterben/ an Wintern wie diesem,/ wenn ich nicht wüßte,/ daß es dich gibt). Astrid Fugellie stellte eine konfessionelle Lyrik vor, mit mythischer und biblischer Sprache, in deutlicher Parteinahme für die ausgelöschten indigenen Völker: „Cierto día me dormí y desperté intuyendo/ ser vida y muerte al mismo tiempo“ (Eines gewissen Tages schlief ich ein und wollte beim Aufwachen/ Leben und Tod zur gleichen Zeit sein).
Lyrik ist Wirklichkeit
Und wozu so viel Lyrik? Wem nützt sie etwas in diesen Zeiten? Es geht darum, „sich nicht darauf einzulassen, diese Welt gefällig zu beschreiben“, so Juan Epple, sondern sich ihr zu verweigern, dissident zu sein und sich eine eigene Sprache zu erfinden.
Auf dem Rückflug wird über Bordfunk bekanntgegeben, daß Clinton als Präsident wiedergewählt wurde. Die Reaktionen der Passagiere waren gespalten – in Applaus und Schweigen. In diesem Moment kommt mir das Bild von jenem Mann in den Sinn, den ich auf dem Highway bei Washington D.C. sah, ein Schild in der Hand: „I will work for food“. Und ich sage mir, auch das ist Poesie, die nackte Wirklichkeit.
Übersetzung:Valentin Schönherr