Literatur | Nummer 271 - Januar 1997

Ein Kongreß über Gedichte?

In den USA traf sich, wer spanischsprachige Lyrik schreibt, liest und kommentiert

Lyrik, die spröde Fee. Jeder liest sie auf seine Weise, jeder meint etwas anderes, je­der hat seine persönlichen Vorlieben und Abneigungen. Über Lyrik läßt sich, scheint’s, genauso wenig streiten wie über Geschmack. Wozu also ein Kongreß über Lyrik? Der Wunsch nach Austausch war es gewesen sein, der Ende Oktober Lyrike­rInnen und AkademikerInnen in Eu­gene, Oregon, USA zusammen­gebracht hat. Mit einer aussage­kräftigen Abschlußerklärung war dabei ebensowenig zu rechnen wie mit handfesten, ab­zählbaren Ergebnissen. Viel­leicht schlägt sich der Kongreß aber in dem einen oder anderen Ge­dicht nieder, vielleicht gab er Anlaß, Kontakte wiederzubele­ben oder neu zu knüpfen – das wäre doch schon etwas. Die Ly­rik, manchmal schwer lesbar, meist schwer verkaufbar, Stief­kind der Verlage, Buchläden und nicht zuletzt der Leser, braucht Rückenwind.

Isabel Lipthay

Wie Mitglieder eines Ge­heimbundes reisten LyrikerInnen und AkademikerInnen aus Ar­gen­tinien, Chile, Mexiko, Frank­reich, Deutschland und US-amer­ikanischen Universitä­ten nach Eugene, einer grünen Klein­stadt an der Pazifikküste. Vom 24. bis 26. Oktober vollzog sich eine poetische Inbesitz­nahme der Stadt unter dem Dach des Romanischen Instituts der University of Oregon. Sie ging im Stillen und nicht ohne Hin­dernisse vor sich, denn Flug­zeuge verspäteten sich, verirrten sich oder kamen einfach nicht an ihrem Ziel an. Schließlich reg­nete es erbarmungslos.
Schon unterwegs in den Flug­zeugen ver­suchten sich die Teil­nehmer ge­genseitig zu erkennen – sei es an einer träumerischen Ausstrah­lung, an Brillen, Bärten, sei es an der Bescheidenheit der einen, der Bedeutsamkeit der an­deren, an Kleidung, spanisch­sprachigen Büchern, Witzen oder Kompli­menten. So waren unter den Pas­sagieren die Poeten von den Po­litikern zu unterscheiden, von Managern, Schmugglern, Stu­denten, chicanos, Touristen. Nicht immer fand man sich, aber zuweilen. Die Erschöpfung nach endlosen Reisen, die Zeit­um­stel­lungen, das Wiedersehen nach vie­len Jahren, Schreie, in­nige Um­armungen, Lachen: Die la­tein­amerikanischen Diktaturen ha­ben die Menschen über den gan­zen Globus zerstreut. Als sich die Stürme der Gefühle ge­legt hatten, ging es an die Arbeit.
“The Powers of Poetry in Spa­nish, Latin American and La­ti­no/a Cultures”, so der Name des Kongresses, brachte nicht nur la­tein­amerikanische, sondern auch spa­nische Dichter und Lite­ra­tur­wis­senschaftler zusammen.

Übereinstimmungen und Kontraste im Blick

Die übli­che Aufspaltung nach Ge­ne­ra­tionen oder Ländern und die Aus­richtung auf spezielle Autoren spielte keine Rolle. Es handelte sich darum, “die Über­ein­stimmungen und Kontraste in den Blick zu bekommen, die in der zeitgenössischen Lyrik aus Spanien, Lateinamerika und – so­fern spanischsprachig – den USA be­stehen”, so Juan A. Epple, ei­ner der Organisatoren. Die über zweihundert Einsen­dun­gen, die im Vorfeld des Kon­gres­ses ge­zählt wurden, bewie­sen nach­drücklich, daß an der Be­schäf­tigung mit Lyrik reges In­teresse be­steht. Mangels Platz und Zeit konnte davon nur die Hälfte in den Kongreßverlauf integriert wer­den. So beschäf­tig­ten sich sechs parallele Ar­beitsgruppen mit den Papieren, in jeder Gruppe lasen Dichter aus ihren Werken. So gingen drei Tage dahin… Unter den angebo­tenen Themen: Der Dichter und die kollektive Seele, Weibliche Iden­tität, Homosexuelle Liebe, Technische Probleme bei Lesun­gen und Übersetzungen, Das Ver­hältnis von Poesie und Mu­sik, Poetische Gerechtigkeit, Kör­per und Text, Aids, Leroy Quintana und die chicano-Poe­sie, Die Avantgarde in Chile, Das imaginäre Wir… Es gab Re­fe­rate über Werke zahlreicher Lyriker, darunter García Lorca, Pablo Neruda, Patricio Manns, César Vallejo, Astrid Fugellie, Ga­briela Mistral.
Besonders an dem Treffen war, daß Literaturwissenschaftle­rIn­nen mit LyrikerInnen zusam­menkamen und miteinander spra­chen. Das geschieht selten. Zu den Besonderheiten zählte aber auch die Anwesenheit von drei TeilnehmerInnen, die spezi­ell eingeladen wurden und län­gere Lesungen hielten: Patricio Manns, ein in Frankreich leben­der chilenischer Komponist und Schriftsteller, sang seine Ge­schichten, durch die die Gruppe In­ti Illimani berühmt geworden war, und stellte sein “Memorial de Bonampak” vor, in dem es um das Leiden der Maya-Völker geht und der Zapatistenaufstand ein­bezogen ist… María Negroni, Ar­gentinierin, zerbrechlich, klein, fast ein Nichts, las ihre voll­tönenden Verse: “…en esto de existir/ conviene quedarse en lo oscuro…// …esa mujer/ con un balcón en la mano…// …un día me dirás que no existes/ y tu ausencia será toda mía…” (…was das Dasein anbelangt/ empfiehlt es sich, im Dunkeln zu blei­ben…// ..diese Frau/ mit einem Balkon in der Hand…// …eines Tages wirst du mir sagen, daß du nicht existierst/ und deine Abwe­senheit wird ganz mein sein…). Das Dreiergespann vervollstän­dig­te Juan Gelman, in Mexiko le­bender Argentinier, der seine Gedichte mit der Schlichtheit ei­nes Weisen las, der viele Wege gegangen ist und etwas verstan­den hat. Seine Stimme eines al­ten Kindes schlug den Takt zum launischen Regen, der gnadenlos gegen die Fenster peitschte.

Wohnhafte Schlangen und andere Viecher

Außerhalb der Universität, dem Regen näher, bot ein impro­vi­sierter Tisch die wertvollsten Schätze dieser Tagung dar: die Bücher, verfaßt von den Anwe­senden, den Fehlenden, den To­ten. Vom erst kürzlich verstor­benen Jorge Teillier die posthu­men Gedichte “Hotel Nube” (Ho­tel Wolke), von den nicht Gekommenen: Sybil Brintrup, “Va­ca Mía” (Du meine Kuh) und “Ella y las ovejas” (Sie und die Schafe), und Omar Laras “Ser­pientes habitantes y otros bi­chos” (Wohnhafte Schlangen und andere Viecher).
Der jüngste Dichter, Jesús Se­púlveda, ein chilenischer Student in Eugene, provozierte mit sei­nem frischen Humor: “…las pruebas son contundentes:/ Dios es una negra…” (…die Beweise sind stichhaltig:/ Gott ist eine Schwarze…). An seiner Seite ein Poet in Schlips und Kragen, An­drés Morales: “El hombre que come palomas/ no conoce el Pa­raíso” (Der Mensch, der Tauben ißt,/ kennt nicht das Paradies). Carlos Trujillo präsentierte Tex­te, die auf Chiloé, seiner chi­lenischen Heimatinsel im Süden der Welt geschrieben wurden. Jorge Madrazo glänzte mit sei­nen starken sinnlichen Bildern aus Argentinien. Mauri­cio Ostria schließlich stellte seine Schü­lerInnen aus Concep­ción, Chile, vor.

Keine Scheu vor schwierigen Themen

Eine der wichtigsten Sitzun­gen war der Vorstellung des Bu­ches “POESIdA” (span. si­da= Aids) gewidmet, einem kol­lek­tiven Werk unter Feder­führung von Carlos Rodrí­guez-Matar. Von Aids zu spre­chen, ist eine Sache, aber daß lateiname­ri­ka­ni­sche Männer Ge­dichte über Lie­be und Tod mit Blick auf die Krankheit schrei­ben, dürfte ein Schock für die übrigen Männer gewesen sein, eine Wunde im ma­chistischen Weltbild und schon daher von Wert.
Und es gab deutlich sichtbar ei­ne weibliche Poesie: Von der bereits erwähnten, überzeu­gen-den María Negroni zur liebe­vol­len, vitalen, verschmitzten Lyrik von Lilianet Brintrup: “Estoy en la tierra de América la del Norte/ que me avasalla per­fectamente/ en su odio por lo que represento” (Ich bin in Amerika, dem nördlichen/ das mich her­vor­ragend begleitet/ in seinem Haß auf das, was ich verkör­pere). Alejandra Basualto, stark, ero­tisch, herablassend, zärtlich: “podría morir/ de inviernos como éste/ si no supiera/ que existes” (ich könnte sterben/ an Wintern wie diesem,/ wenn ich nicht wüßte,/ daß es dich gibt). Astrid Fugellie stellte eine konfessio­nelle Lyrik vor, mit mythischer und biblischer Sprache, in deut­licher Parteinahme für die aus­gelöschten indigenen Völker: “Cier­to día me dormí y desperté intuyendo/ ser vida y muerte al mismo tiempo” (Eines gewissen Tages schlief ich ein und wollte beim Aufwachen/ Leben und Tod zur gleichen Zeit sein).

Lyrik ist Wirklichkeit

Und wozu so viel Lyrik? Wem nützt sie etwas in diesen Zeiten? Es geht darum, “sich nicht darauf einzulassen, diese Welt gefällig zu beschreiben”, so Juan Epple, sondern sich ihr zu verweigern, dissident zu sein und sich eine eigene Sprache zu er­finden.
Auf dem Rückflug wird über Bord­funk bekanntgegeben, daß Clin­ton als Präsident wiederge­wählt wurde. Die Reaktionen der Pas­sagiere waren gespalten – in Applaus und Schweigen. In die­sem Moment kommt mir das Bild von jenem Mann in den Sinn, den ich auf dem Highway bei Washington D.C. sah, ein Schild in der Hand: “I will work for food”. Und ich sage mir, auch das ist Poesie, die nackte Wirk­lichkeit.
Übersetzung:Valentin Schönherr

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