Kolumbien | Nummer 307 - Januar 2000

Ein Leben in Entspannung

Die Bevölkerung in der „Entspannungszone“ lebt seit einem Jahr an der Seite der FARC-Guerilla

Seit gut einem Jahr sind die FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) in einer sogenannten „Entspannungszone“ im Süden Kolumbiens präsent, nachdem die Armee als Vorbedingung für Friedensgespräche den Rückzug antreten mußte. Seitdem ranken sich allerlei Mythen um dieses Gebiet, in dem die Guerilleros angeblich autoritär schalten und walten und die Bevölkerung drangsalieren. Daß diese für Kolumbien typischen Vorurteile falsch sind, zeigt die Lebenssituation der Bevölkerung in diesem Gebiet. Nur die Angst ist immer präsent.

Jens Holst

Bis vor wenigen Monaten gehörte die baumbestandene Plaza von San Vicente del Caguán Verkaufsständen mit gebratenem Fleisch, Pizza oder Eis, den Schuhputzern, fliegenden Händlern und Wahrsagerinnen. Nun hat sich das Angebot für die flanierenden Familien und Paare erweitert. Jeden Samstag betreten Comandante Fernando und einige andere Uniformierte eine zusammengezimmerte Tribüne unter einem Spruchband: „No más Narco-Ejército“ – Schluß mit der Narcoarmee. Der 41-jährige Fernando, seit einem Vierteljahrhundert mit der Guerilla in den „kolumbianischen Bergen“, ist der Beauftragte der FARC für die Sicherheit in dem Städtchen San Vicente del Caguán, der größten Gemeinde in der Entspannungszone am Rande des Amazonasbeckens. Seit dem Abzug der Armee bewegen sich die Guerilleros in ihren grünen Tarnanzügen unangetastet durch das „Friedenslabor“ von San Vicente de Caguán.
Zu den Neuerungen seit dem Einmarsch der FARC-Guerilla gehören die samstäglichen Informationsveranstaltungen auf der Plaza. Comandante Fernando verliest die neuesten Nachrichten aus dem Städtchen, kommentiert die Ereignisse der Woche und verkündet Mitteilungen der FARC-Führung zum Friedensprozeß. Das Mikrofon ist, so erklärt Fernando, auch für die ZuhörerInnen offen, allerdings würde davon so gut wie kein Gebrauch gemacht. „Die Leute sind so zurückhaltend,“ erklärt er, „weil sie Angst haben, ein Mikro der Guerilla zu benutzen, ohne zu wissen, wer zusieht oder zuhört. Wenn wir aber Radiosendungen mit Hörerbeteiligung in einem lokalen Sender veranstalten, reicht die Zeit nie für die vielen Fragen und Kommentare aus.“ Die Unsicherheit der Menschen sitzt tief. Zwar wurde der Armeeabzug aus San Vicente und weiteren vier Gemeinden zunächst auf unbestimmte Zeit für die Dauer der Friedensgespräche verlängert, aber niemand weiß, wann die Armee zurückkommt und welchen Repressalien die Menschen ausgesetzt werden, die mit den Guerilleros in Kontakt stehen oder sich bei ihren Veranstaltungen äußern. „Ich habe in den letzten Monaten schon so viele Journalisten in das FARC-Lager oder nach La Machaca gebracht,“ meint ein Taxifahrer auf dem Rückweg von dort, daß ich Angst habe vor dem Tag, an dem die Guerilla wieder abzieht. Dann ist keiner mehr da, der uns beschützen kann.“

Fast alles beim Alten

Von Anfang an kursierten viele Gerüchte um die zona de despeje im Südosten Kolumbiens. Auf der Suche nach Sensationen berichteten einige Zeitungen über Verbote, welche die FARC-Guerilla mit ihrem Einzug verhängen würde: Männer dürften in ihrem Einflußbereich weder Ohrringe noch lange Haare tragen, Diskotheken würden geschlossen, eine strenge Sperrstunde eingeführt und überhaupt alles verboten, was Spaß macht. Tief verwurzelte Vorurteile der kolumbianischen Gesellschaft wurden befriedigt, mit der Realität hatte das aber wenig zu tun. Comandante Joaquín Gómez, einer der drei Verhandlungsführer in der Entspannungszone, schmunzelt beim Gedanken an die Horrormeldungen über das Regime der FARC. „Wir haben wirklich herzlich gelacht über das, was wir in den Zeitungen lasen. Mit solchen Bagatellen können wir uns gar nicht befassen, da gibt es viel wichtigere Dinge zu tun.“
Von strenger Kontrolle oder einem strikten Regime ist in San Vicente in der Tat wenig zu spüren. Der Umsatz der meisten Geschäfte ist nach kurzer Flaute steigend, die wenigen Hotels und Restaurants freuen sich über die vielen JournalistInnen und Regierungsfunktionäre, die das Städtchen aufgrund seiner politischen Sonderstellung anzieht. Auch nach dem Einmarsch der Guerilla ist die im Volksmund und zu Recht „Sauna“ genannte Diskothek schräg gegenüber der Kathedrale jeden Samstagabend brechend voll, junge und nicht mehr ganz so junge Leute schwitzen bis tief in die Nacht im Rhythmus von Salsa, Merengue und Cumbia. Bis jetzt hat noch niemand von der FARC das im Moment vermutlich bedeutendste Kulturzentrum in San Vicente schließen wollen.
Das einstige Kulturhaus des Viehzüchterstädtchens, in dem gerade von iranischen Investoren ein modernes Schlacht- und Kühlhaus gebaut wird, hat dagegen eine neue Bestimmung bekommen. Heute beherbergt es die Beschwerdestelle der FARC, die gleichzeitig als Anlaufstelle für JournalistInnen dient, die aus allen Teilen der Welt nach San Vicente kommen und mit den FARC Kontakt aufnehmen wollen. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Drinnen nimmt Compañera Nora die Klagen der BürgerInnen entgegen „Wir versuchen, beiden Seiten gerecht zu werden,“ erklärt sie in einer kurzen Pause. „Die Menschen kommen freiwillig, wenn wir sie zitieren, und sie akzeptieren unsere Urteile.“ Die Guerilla hat heute in vielen Bereichen öffentliche Aufgaben übernommen. Die Kontrolle der öffentlichen Sicherheit obliegt jedoch formal der eigens gegründeten Zivilpolizei, die nur mit Schlagstöcken bewaffnet durch San Vicente patrouilliert, Auseinandersetzungen schlichtet und Verkehrssünder zur Kasse bittet. „Größere Probleme hat es noch nicht gegeben,“ meint deren Leiter, „aber die Arbeit ist nicht ganz ungefährlich.“

“Riesige Chancen“ für das Städtchen

Oberster Dienstherr der Zivilpolizei und gleichzeitig höchste Autorität in der Gemeinde ist Bürgermeister Omar García. Geschickt nutzt er das große Interesse im In- und Ausland am kolumbianischen Friedensprozeß, um vor allem in Europa Geld für Infrastrukturprogramme locker zu machen. „Der Entmilitarisierungs- und Friedensprozeß bietet uns eine riesige Chance, die traditionelle Rückständigkeit und die Vernachlässigung durch die Zentralregierung zu überwinden,“ erklärt er. „Wir bauen dabei auch auf die Unterstützung der Guerilla, die auf allen Ebenen Einfluß auf die Geschicke des Städtchens nimmt.“ Einen Widerspruch zum Gemeinwohl und der kolumbianischen Verfassung mag er darin nicht erkennen. Nur in der Frage der Rechtsprechung durch die Guerilla ist er skeptisch und sieht die juristischen Laien ungern im Richteramt. So wie die meisten BürgerInnen des Städtchens zollt er indes den Aufständischen Anerkennung auf dem Gebiet der Kriminalitätsbekämpfung. „Ganze sechs Menschen sind seit ihrem Einmarsch ermordet worden – so viele starben zuvor jede Woche eines unnatürlichen Todes.“ Dieses Phänomen ist in vielen Gebieten unter FARC-Kontrolle zu beobachten. „Die Guerilla hat in diesen Regionen praktisch staatliche Aufgaben übernommen,“ bestätigt Diego Pérez, der stellvertretende Leiter des jesuitischen Forschungsinstituts CINEP in Bogotá, die ausgeprägte Verankerung der Aufständischen in der Zivilbevölkerung. „Sie wendet Recht an, auf ihre Art, aber sie übernimmt die Rechtsprechung. Sie schlichtet Konflikte, löst alltägliche Probleme der Gemeinden und ist eine Art Beschützerin der Bevölkerung gegenüber externen Angreifern.“
In erster Linie gegenüber der kolumbianischen Luftwaffe und der US-amerikanischen Drogenpolizei DEA und deren regelmäßige Giftsprühaktionen gegen Koka- und Mohnpflanzungen. Die FARC kontrollieren mit ihren 15.000 KämpferInnen weite Teile des kolumbianischen Amazonasbeckens mit ausgedehnten Drogenanbauflächen. Ein besonderer Dorn im Auge der Drogenwächter aus den USA ist die“ Entspannungszone“ um San Vicente. Seit dem endgültigen Abzug der kolumbianischen Armee malen sie den Teufel einer unkontrollierbaren Expansion des Drogenexports aus diesem Gebiet an die Wand und bezichtigen die sogenannte Narco-Guerilla, die Zona de despeje als militärisches Aufmarschgebiet und Zentralstelle für den Kokaexport zu mißbrauchen.
Der Vertreter des UNO-Drogenprogramms in Kolumbien, Klaus Nyholm, widersprach allerdings dieser Behauptung. Die Drogenproduktion habe dort seit dem Abzug der Armee keineswegs zugenommen, konstatierte er im Juli. Der UNO-Experte schrieb den Vertretern des harten Kurses noch etwas anderes ins Stammbuch: In Kolumbien brauche es mehr Zuckerbrot und weniger Peitsche, um das Drogenproblem in den Griff zu bekommen. In den nächsten drei Jahren werden die Vereinten Nationen 5.000 Kleinbauern in der “Entspannungszone” mit sechs Millionen Dollar bei der Umstellung von Koka auf Kakao, Kautschuk und Viehzucht unter die Arme greifen. Das Mißtrauen gegenüber der FARC-Guerilla ist bei der UNO offenbar erheblich geringer als in Kolumbien.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren