Nummer 391 - Januar 2007 | Queer

Ein Schmetterling sein

Travestis: eine politische Identität

Transvestiten sind eine besonders verletzliche Bevölkerunsgruppe. Ihr Alltag ist vielerorts geprägt von Diskriminierung und Gewalt. Oft werden sie durch eine sexistische und diskriminierende Gesellschaft aus dem Arbeitsmarkt, der Familie und dem sozialen Umfeld ausgeschlossen. Prostitution bleibt in vielen Fällen die einzige Erwerbsmöglichkeit. In Argentinien haben sich Transvestiten/Travestis* zu einer politischen Bewegung zusammengeschlossen, die für ihre Rechte und Anerkennung kämpfen. Lohana Berkins ist Travesti, politische Aktivistin und Vorsitzende des argentinischen Verbandes für transvestitische und transsexuelle Identitäten (Asociación de lucha por la identidad travesti y transexual). Den hier abgedruckten Vortrag hielt Lohana Berkins auf dem 3. Iberoamerikanischen Kongress zur Geschlechterforschung, der in diesem Jahr in Argentinien stattfand.

Lohana Berkins

KASTEN:
* Dem spanischen Wort Travesti entspricht auf deutsch Transvestit. Da sich die Travesti-Bewegung in Argentinien den ursprünglich medizinischen und pathologisierenden Begriff auf besondere Weise angeeignet und mit eigenen Bedeutungen versehen hat, wird in dieser Übersetzung des Vortrages von Lohana Berkins neben der allgemeinen Bezeichnung Transvestitismus weiterhin der spanische Begriff Travesti genutzt. In Argentinien haben sich unter dem Namen Travesti Personen zu einer Bewegung zusammengeschlossen, denen mit der Geburt ein männliches Geschlecht zugeordnet wurde, die ihr Geschlecht al­lerdings nicht entsprechend der gesellschaftlichen Kategorie „männlich” leben, fühlen und auszudrücken.

Wir Travestis haben eine Geschichte zu erzählen: unsere eigenen Erfahrungen, erzählt in der ersten Person, um sie den Diskursen entgegen zu stellen, die über uns geführt werden.
In der Medizin und der Psychoanalyse gelten Travestis als Männer, die Frauenkleidung tragen. Wir sind mit dieser Definition nicht einverstanden, da sie nichts über unser Selbstverständnis und unsere Lebensweise aussagt. Als wir Travestis in den 1990er Jahren begannen, unsere Stimme öffentlich zu erheben und uns zu organisieren, beschlossen wir, den Begriff Travesti neu zu definieren. Bis dahin war dieser Name stark negativ belegt und er wird auch immer noch mit Aidskranken, Dieben, Skandalnudeln, Infizierten oder Ausgegrenzten gleichgesetzt. Wir haben entschieden, dem Wort Travesti einen neuen Sinn zu verleihen und mit Kampf, Widerstand, Würde und Glücklichsein zu verbinden. Und wir stellen uns mit dieser politischen Bezeichnung unseren GegnerInnen entgegen, seien es FundamentalistInnen, Autoritäre, AusbeuterInnen oder VerfechterInnen des Patriarchats und der Heteronormativität.
Wir Travestis bauen unsere Identität darauf auf, dass wir die Bedeutungen, welche die Gesellschaft dem Geschlecht zuweist, in Frage stellen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass ein Körper mit einem Penis eine männliche Subjektivität habe, ein Körper mit einer Vagina hingegen eine weibliche. Wir Travestis durchbrechen diese binäre, in westlichen Gesellschaften vorherrschende Logik, die diejenigen unterdrückt, die sich nicht in die Kategorien Mann oder Frau einordnen lassen.
Selbstverständlich sind auch wir Travestis von Widersprüchen und Spannungen durchzogen, wie jedes andere soziale Wesen auch. Während wir einerseits die binäre, hegemoniale Geschlechterlogik destabilisieren, greifen wir andererseits auf bestimmte kulturelle Werte und Symbole zurück, mittels derer Weiblichkeit und Frauen als untergeordnet reproduziert werden. Dennoch widersprechen wir dem wiederholt vorgebrachten Argument, das dem Transvestitismus vorwirft, weibliche Stereotypen zu wiederholen und eine traditionelle Konstruktion von Weiblichkeit zu stärken. Wir Travestis bringen die Normen und Zeichen hegemonialer Weiblichkeit aus dem Gleichgewicht, indem wir sie nutzen. Wir schaffen neue Bedeutungen.
Dafür werden wir in unserem Sein tagtäglich sanktioniert. Die Travesti-Identität wird kriminalisiert. Einerseits verletzt der Staat unsere Rechte, sowohl aktiv als auch durch Unterlassung. Andererseits schleudert uns die Gesellschaft ihre Geringschätzung entgegen mit Beleidigungen und Stereotypen, die uns systematisch auf ein ursprünglich männliches Wesen im biologischen Sinne reduzieren.

So leben wir

Der lateinamerikanische Transvestitismus unterscheidet sich wesentlich von dem Begriff Transgender, wie er oft in Nordamerika und Europa genutzt wird. Das Wort Transgender stammt vor allem aus nordamerikanischen Forschungstheorien. In Lateinamerika wurde hingegen der Begriff Travesti von den Betroffenen selbst als Eigenbezeichnung übernommen, verändert und verinnerlicht. Hier in Lateinamerika hat der Transvestitismus sich durch die politische Mobilisierung und in der Diskussion mit anderen Unterdrückten einen eigenen Raum geschaffen. Unser Ziel ist es, die Kategorien Mann und Frau zu schwächen.
In lateinamerikanischen Gesellschaften ist es unmöglich, die Konstruktion einer eigenen Identität von den Lebensbedingungen der Travestis zu trennen. Travestis werden aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Unter diesen Bedingungen ist häufig Prostitution die einzige Einnahmequelle. Laut einer 2005 durchgeführten Studie stellt die Prostitution für mehr als zwei Drittel der Travestis im Großraum Buenos Aires die einzig mögliche Überlebensstrategie dar. Sie ist gleichzeitig der einzige Raum, in dem die Travesti-Identität als eine mögliche Daseinsform anerkannt wird. Diejenigen, die anderen Erwerbstätigkeiten nachgehen, finden diese allerdings auch nur im informellen Sektor, ohne arbeitsrechtliche Grund­­lagen, in Form von schlecht bezahlten und wenig qualifizierten Jobs. Transvestitismus mit Prostitution zu assoziieren ist ein Gemeinplatz in der lateinamerikanischen und besonders der argentinischen Gesellschaft. Manchmal wird Prostitution regelrecht als die bewusst gewählte Option vieler Travestis und Transsexueller dargestellt.
Travestis wird der Zugang zu Bildung verwehrt. 91,4 Prozent der für die Studie befragten Travestis haben Gewalt erfahren. Als Orte der Gewalt gaben sie an dritter Stelle, nach dem Polizeirevier und der Straße, die Schule an.
In Lateinamerika und besonders auch in Argentinien bekennen sich viele bereits in relativ frühem Alter zum Transvestitismus. Dies in einer Gesellschaft zu tun, welche die Travesti-Identität kriminalisiert, bringt für viele den Verlust des Zuhauses und aller familiärer Bindungen. Viele von uns geben rückblickend an, sich entwurzelt zu fühlen. Jugendliche Travestis müssen oft ihre Dörfer, Städte, Provinzen oder gar ihr Land verlassen, um ein weniger feindlich gesinntes Umfeld oder einfach die Anonymität der Großstadt zu finden; nur hier können sie zu sich selbst finden und soziale Beziehungen aufbauen, in denen sie anerkannt werden. Häufig ist die Großstadt aber auch einfach rentabler für die Prostitution als das Dorf oder die Stadt ihrer Herkunft.
In der Großstadt bieten sich vielen Travestis auch erst Gelegenheiten zu körperlichen Eingriffen, meist illegal und mit Gefahren verbunden. Fast alle Travestis, die sich Silikon injizieren oder sich hormonell behandeln ließen, geben an, dass die Eingriffe privat durchgeführt wurden – meist ohne die dafür nötige Sterilität, der Eingriff erfolgt ambulant, eine Nachuntersuchung gibt es nicht.
Im Gegensatz zu privilegierten Gesellschaftsgruppen ist für uns Travestis der Tod nichts Außergewöhnliches. 320 befragte Travestis zählten zusammen 420 FreundInnen auf, die innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren verstorben waren – die meisten im Alter zwischen 22 und 41 Jahren. Die Erwartung, nur kurz zu leben begleitet uns Travestis. Manchmal fehlen ganze Generationen von Travestis über 30; junge Travestis kennen keine älteren, die ihnen helfen könnten, über ihre persönliche Gegenwart hinauszublicken und so die Grenzen der Individualität zu überschreiten.
Ein Nebenaspekt der Kriminalisierung der Travesti-Identität, der auch in den letzten Jahren in Argentinien zu politischen Konflikten geführt hat, ist die Kontrolle einzelner Gesellschaftsgruppen durch den Staat. Durchgeführt wird sie mit Hilfe von Polizeiaufgeboten, strafrechtlichen Bestimmungen oder verfassungswidrigen Mitteln zur polizeilichen Verfolgung einzelner sozialer Gruppen. Der Staat schränkt den Zugang zum öffentlichen Raum für verschiedene Gesellschaftsgruppen wie Travestis, Prostituierte, PapiersammlerInnen, Piqueter@s oder StraßenhändlerInnen ein.

Kriminalisierung im öffentlichen Raum

Für uns Travestis ist das besonders tragisch, weil wir die Straße brauchen. Wir haben weder Zugang zu Bildung noch zum Arbeitsmarkt noch zu eigenem Wohnraum, so dass die Straße einen Anker in unserem Alltag darstellt. Die Straße ist ein Teil der Bühne, auf der wir unsere Identitäten konstruieren. Die Straße ist der Raum, in dem wir lernen, wir selbst zu sein, wo wir zu Travestis, zu Prostituierten, zu PapiersammlerInnen, zu Pique­­ter@s werden. Die Straße ist auch der Ort, an dem wir Beziehungen zu anderen knüpfen, unsere Netzwerke spinnen, uns politisch mobilisieren.
Hinter all den Spannungen die unsere Anwesenheit im städtischen Raum hervorruft, steckt die laufende Debatte darüber, wer denn legitime BewohnerInnen des öffentlichen Raumes seien. Die dauerhaften Bemühungen, den öffentlichen Raum zu regulieren, haben zum Ziel, die moralischen Werte einiger Gesellschaftsgruppen für die Gesamtgesellschaft durchzusetzen. Diese Gleichschaltung ist eine autoritäre Praxis, der wir uns auch in Zukunft immer entgegenstellen werden.
Wir Travestis wollen niemandem unsere Werte und Ansichten aufdrängen; wir fordern nur Freiheit und die materiellen Bedingungen, um erfüllt und im Genuss aller unserer Rechte leben zu können. Dafür zu kämpfen ist nicht einfach, denn in einer Welt voller kapitalistischer Würmer braucht es viel Mut, um ein Schmetterling* zu sein.

Übersetzung:
Katharina Wieland

*Anm. d. Red. Schme­tter­ling, im Spanischen mariposa. Als „mari­posón“ werden in Ar­gentinien auf ab­wertende und dis­kriminierende Weise Män­ner mit weiblichen Zügen und Trans­vestiten bezeichnet.

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