Nummer 432 - Juni 2010 | Peru

Ein Schrittchen nach vorn

Peruanisches Parlament verabschiedet überfälliges Konsultationsgesetz für indigene Völker

Rund ein Jahr nach dem blutigen Ende der Protestwelle in Perus Amazonasgebiet steht nun ein wichtiger Erfolg zu Buche. Mit dem vom Parlament verabschiedeten Konsultationsgesetz müssen staatliche Maßnahmen zukünftig mit indigenen Völkern besprochen werden, wenn sie deren kollektive Rechte beeinträchtigen. Möglich wurde dieser Erfolg auch durch den erheblichen Druck von internationalen Organisationen. Die Umsetzung des neuen Gesetzes hält jedoch noch zahlreiche Fallstricke bereit. Und die peruanische Regierung ist nach wie vor nicht bereit, die Geschehnisse der Gewalteskalation von Bagua wirklich aufzuarbeiten und politische Konsequenzen zu ziehen.

Mathias Hohmann

Es ist ein wichtiger Etappensieg nach 15 Jahren indigener Kämpfe, auch wenn peruanische Tageszeitungen keinen Platz für diese Nachricht auf ihren Titelseiten hatten: Peru verfügt seit dem 19. Mai über ein Gesetz, das die kollektiven Rechte – gemeint sind hier vor allem die Landrechte – von indigenen und ursprünglichen Völkern besser schützen und garantieren könnte. Die neue Norm beschloss das Parlament mehrheitlich mit den Stimmen der regierenden Partei APRA und der Nationalistischen Partei. Sie muss jetzt noch von Präsident Garcia binnen 15 Tagen offiziell verkündet werden. Das Gesetz verpflichtet staatliche Institutionen zu prüfen, ob von ihnen geplante Maßnahmen wie Gesetzesvorhaben, Projekte oder Pläne, die kollektiven Rechte von indigenen Gemeinschaften beeinträchtigen. Wäre dies der Fall, müssten die betroffenen Gemeinschaften in einer noch festzulegenden Vorgehensweise zuvor informiert und umfassend konsultiert werden.
Indigene Organisationen Perus begrüßten das neue Gesetz. Es sei „ein erster Schritt für die Umsetzung der Rechte der indigenen Völker. Dieser Fortschritt ist Resultat der Anstrengungen vieler Jahre des Kampfes der andinen und amazonischen Völker und Gemeinschaften“, hieß es in ihrem gemeinsamen Kommuniqué. Zu dessen Unterzeichnern gehörte auch AIDESEP, die wichtigste Interessenvertretung indigener Völker des peruanischen Amazonasgebietes. In einer separaten Stellungnahme sprach man jedoch nur von einem „Schrittchen“ (pasito). Auch käme es nicht nur darauf an, die Rechte indigener Völker anzuerkennen sondern es müsse auch darum gehen, dass die Regierung ihre sozialen Kämpfe nicht länger kriminalisiere.
Letzteres bekam Alberto Pizango Ende Mai bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Lima gleich unmittelbar zu spüren. Seine Rückkehr aus dem knapp einjährigen Exil in Nicaragua endete für den Präsidenten von AIDESEP in den Händern der Polizei. Einen Tag später wurde er auf Anordnung der zuständigen Richterin auf freien Fuß gesetzt, muss der Justiz jedoch zur Verfügung stehen. Gegen Pizango laufen insgesamt vier Strafverfahren. Die peruanische Justiz wirft ihm verschiedene Tatbestände vor, darunter Volksverhetzung und Rebellion. Begangen haben soll er sie zwischen April und Juni während des letztjährigen massiven Streiks im Amazonasgebiet. Er wird zudem für Tote bei der Gewalteskalation in Bagua am 5. Juni letzten Jahres verantwortlich gemacht. An dem Tag hielt sich Pizango jedoch im weit entfernten Lima auf. Peruanische und internationale Menschenrechtsorganisationen fürchten, dass er keine fairen Prozesse bekommt.
Die neue Norm löst ein altes „politisches Versprechen“ ein. Bereits im Februar 1994 hatte Peru die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO über indigene Völker ratifiziert. Der Artikel 6 der Konvention verpflichtet die Unterzeichnerregierungen zu einer entsprechenden rechtlichen Norm über deren Konsultation. Die Ratifizierung dieses internationalen Vertrages unter der damaligen Präsidentschaft von Alberto Fujimori wirkte progressiv. Ein Blick auf die 1993 neu geschaffene Verfassung zeigte jedoch bereits deutliche Widersprüche zum Umgang mit den Rechten indigener Völker. Denn wichtige Schutzkriterien für indigene Territorien wurden einfach abgeschafft: Sie wurden beschlagnahmbar und veräußerbar, der Zugriff auf sie wurde vereinfacht. An die internationale Ebene wurden freundliche politische Signale gesendet, im Land selbst wurde weiter die Erosion indigener Landrechte betrieben.
Im peruanischen Amazonasgebiet verfügen indigene Gemeinschaften über zwölf Millionen Hektar an titulierten Landflächen. Hinzu kommen weitere Gebiete für so genannte territoriale und kommunale Reserven. Auch wenn es immer wieder Probleme mit dem Prozess der Vergabe von Landtiteln gab und gibt: Der zentrale Konfliktpunkt ist ein anderer. Die im Boden lagernden Rohstoffe wie Erdöl und Mineralerze und auch der Waldbestand und dessen Holzressourcen gehören per Verfassung dem peruanischen Staat. Erkundung und Abbau dieser Rohstoffe sollen in erster Linie transnationale Konzerne leisten. Der Staat vergibt dafür Konzessionen. Diese überlagern jedoch zu einem großen Teil das titulierte Landeigentum und die Territorien indigener Völker und Gemeinschaften.
Die jüngere rohstofforientierte Erschließung des Amazonasgebietes schildert vielleicht am besten die staatlicherseits munter vorangetriebene Front der Konzessionsflächen für die Erkundung und Förderung von Erdöl und Erdgas. „2003 deckten die Claims [Rechtstitel auf Grundbesitz, LN] für Öl und Gas 15 Prozent des Urwalds ab. Heute erstrecken sie sich schon über 70 Prozent“, beschrieb die in Lima ansässige Nichtregierungsorganisation Instituto del Bien Comun den Trend in einer Studie aus dem letzten Jahr. Nicht viel anders sieht es bei den Bergbaukonzessionen aus, die sich vor allem im Andenraum konzentrieren. Das Netzwerk Red Muqui verzeichnete einen Anstieg von sieben Millionen auf rund 17 Millionen Hektar zwischen 2002 und 2008. Mehr als die Hälfte der indigenen und bäuerlichen Gemeinschaften in Peru besitzt Land, für das Bergbaukonzessionen vergeben wurden.
Perupetro ist die zuständige staatliche Ölfirma, die Konzessionen für Erdöl und Erdgas ausschreibt und vergibt. Deren Chef Daniel Saba traf mit seiner Äußerung zur Konsultation indigener Völker und zum neuen Gesetz den Nagel auf den Kopf: „Die Befragungen der Indigenen werden den Staat nicht daran hindern, seine Herrschaft über die natürlichen Ressourcen auszuüben.“ Denn faktisch haben die indigenen Gruppen und Völker letztlich weder nach der ILO-Konvention 169 noch nach dem Konsultationsgesetz ein Vetorecht gegenüber den staatlicherseits geplanten Maßnahmen. Es ist fraglich, ob mit der kommenden Gesetzespraxis der bestehende Gegensatz in den Entwicklungsvorstellungen von Staat und Indigenen gelöst werden kann. Das Konsultationsgesetz zielt auf eine Übereinkunft mit oder eine Zustimmung zu dem, was von Seiten des Staates geplant wird. Doch ob der interkulturelle Dialog ein Austausch auf gemeinsamer Augenhöhe wird, wenn am Ende die staatliche Institution die Entscheidung fällt? Wie eine Einladung zum Dialog oder konfliktschlichtend klang es nicht, als Präsident Alan Garcia noch im letzten Jahr aus seinem Palast in Lima tönte, „400.000 Indigene [im Amazonasgebiet] können nicht über das Schicksal und die Entwicklungsmöglichkeiten von 28 Millionen Peruanern bestimmen.“
Bereits rund zwei Jahre zuvor hatte der auf ausländische Großinvestitionen fixierte Garcia klargestellt: Grundlage für die Inwertsetzung sei Privateigentum. Für ausreichende Investitionen hätten die indigenen oder bäuerlichen Gemeinschaften weder Mittel noch Fähigkeiten. Sie wollten aber auch nicht, dass andere diese Investitionen tätigen. Die letzten Worte erschienen in mehreren Artikeln öffentlichkeitswirksam in der peruanischen Tageszeitung El Comercio. Wenig später, Ende 2007, flog Garcia nach Washington, um dort mit George Bush die letzten Schritte zur Umsetzung des gemeinsamen Freihandelsabkommens zu besiegeln.
Vom Wort zur Tat dauerte es dann nicht lange. Nachdem die peruanische Regierung vom Parlament Vollmachten erhalten hatte, die notwendigen legislativen Anpassungen für den Freihandelsvertrag mit den USA direkt vorzunehmen, erließ sie in der ersten Jahreshälfte 2008 rund 100 Dekrete. Nur hatten viele dieser Dekrete mit dem Freihandelsvertrag nichts zu tun und waren somit jenseits des Mandates der Regierung. Den größten unmittelbaren Widerstand erfuhren zwei Dekrete, mit denen der Verkauf von gemeinschaftlichem indigenen Land – sprich: die Privatisierung – sowie dessen Umwidmung zugunsten landwirtschaftlicher Nutzung durch InvestorInnen vereinfacht werden sollte. Ingesamt identifizierte AIDESEP mehr als 30 Dekrete, die die Rechte indigener Völker beschnitten. Der fehlende Dialog mit ihnen und das sture Festhalten der Regierung an den kritisierten Gesetzen entflammte in der Folge in zwei Protestwellen den indigenen Widerstand im Amazonasgebiet. Er endete im Baguazo, der Gewalteskalation von Bagua, als Spezialeinheiten der peruanischen Polizei in den Morgenstunden des 5. Juni eine friedliche Straßenblockade mit scharfer Munition und Tränengas attackierten (siehe LN 421/422).
Eine wichtige Stimme, die seit den Ereignissen in Bagua noch bedeutender geworden ist, ist jene von Beatriz Merino, der amtierenden Nationalen Ombudsfrau für Menschenrechte. Machtlos angesichts der perfiden Gewaltdynamik von vor einem Jahr, legte sie Anfang Juli 2009 einen Entwurf für ein Konsultationsgesetz vor, von dem sich vieles im jetzt verabschiedeten Gesetzestext findet. Für Merino ist das neue Gesetz „ein weitreichender Schritt, sowohl was die Anerkennung der Rechte indigener Völker betrifft als auch die Institutionalisierung des interkulturellen Dialoges zwischen ihnen und den Institutionen des Staates.“ Allerdings: Dialog ist ein in Regierungskreisen gern genutztes Wort. Nur erfüllt die Praxis in Peru in vielen Konfliktfällen mit staatlichen Akteuren bisher nicht die Erwartungen, vor allem wenn es um nachhaltige, dauerhafte Lösungen geht. Und wie kann man erklären, dass es Anfang Februar einen neuen provokativ wirkenden Gesetzentwurf seitens Alan Garcia gab? Nach diesem soll die jeweilige lokale Bevölkerung von ihrem Land umgesiedelt werden können, wenn sie Projekten von erheblichem nationalem Interesse im Wege ist.
Das neue Konsultationsgesetz hat weniger mit einem wirklichen Wandel im Regierungsdenken zu tun. Auch die Aufarbeitung der Gewalt von Bagua tritt auf der Stelle. Politisch Verantwortliche werden nicht gesucht. Oder sie weisen wie die damalige Innenministerin Mercedes Cabanillas jede Verantwortung und den Vorwurf der Tatenlosigkeit von sich. Eine von der Regierung eingesetzte Untersuchungskommission kam Ende 2009 zu einem der Regierung genehmen Ergebnis. Im Abschlussbericht mit seinen rassistischen Untertönen wurden erneut die protestierenden indigenen Gruppen der Gewalt beschuldigt. Allerdings kam es innerhalb der Kommission zu Kontroversen. Es gab daher keinen einstimmigen Abschlussbericht, da mehrere Mitglieder zurück traten und ihn nicht unterzeichneten. Medien wie Radio La Voz oder TV Oriente, die kritisch über die Ereignisse in Bagua berichteten, wurden die Lizenz entzogen oder sie werden juristisch verfolgt. Ebenso ergeht es hunderten Indigenen, denen wegen der Ermordung von Polizisten in Bagua der Prozess gemacht wird. Beweise für den behaupteten Besitz und die Nutzung von Schusswaffen bei ihnen: Fehlanzeige. Bei vielen der Angeklagten haben Untersuchungen staatlicher Institutionen keine Schmauchspurreste am Körper ergeben. Laufende Prozesse gegen Zuständige bei Polizei und Militär sucht man indessen vergeblich. In den Fällen, in denen es sie gab, wird die Staatsanwaltschaft selbst mit Klagen überzogen und in ihrer Arbeit behindert. Viel Druck gab es hingegen von offizieller internationaler Seite. James Anaya, UN-Sonderberichterstatter zur Lage der Menschenrechte und grundlegenden Freiheiten Indigener Völker, erstellte im Anschluss an Bagua einen wichtigen Bericht, der die Geschehnisse analysierte. Die Vereinten Nationen waren ein nahezu permanenter Beobachter der Entstehung des Konsultationsgesetzes. Auch die Internationale Arbeitsorganisation ILO war vor Ort und gab Ende Februar dieses Jahres in einem Bericht Empfehlungen ab, alle Aktivitäten in Bergbau- und Ölkonzessionen zu stoppen, die bisher nicht mit indigenen Völkern konsultiert wurden. Ricardo Briceño, Präsident des peruanischen Privatunternehmerverbandes CONFIEP, merkte dazu an „die Forderung der ILO-Experten ist keine Verpflichtung, es ist kein rechtliches Mandat.“ Auch würden Dokumente in der Art des ILO-Berichtes das Investitionsklima im Land stören.
Die Rufe nach einer Bestätigung des Konsultationsgesetzes durch Präsident Alan Garcia werden lauter. Kommt er dem nach, rechnen viele Experten damit, dass ein weiteres Jahr vergeht, bis es anwendbar wäre. Und für den Staat wäre es eine Herausforderung. Denn laut Gesetz hätte er als treibender Akteur viele Pflichten. Er müßte die Voraussetzungen für den geforderten Dialogprozess schaffen, die finanziellen Mittel bereit stellen, die Leute ausbilden und die zuständige Institution auf die Praxis der Konsultation vorbereiten. Doch noch sind Fragen offen: Wer wird durch den Staat als indigenes Rechtssubjekt anerkannt, dessen kollektive Rechte im Einzelfall jeweils betroffen sind? Und ist die Schlussklausel des Gesetzes, dass bereits bestehende Verwaltungsakte wie die Vergabe von Konzessionen nicht zurück genommen oder modifiziert werden, wirklich verfassungskonform?
Bis Anfang Juni hat Alan Garcia Zeit zu entscheiden, ob er das Konsultationsgesetz in der vorliegenden Form annimmt oder zur weiteren Bearbeitung zurück in den Kongress schickt. Bleibt zu hoffen, dass er dafür einen nüchternen präsidialen Kopf hat und nicht den nach-Lust-und-Laune-Präsidenten gibt. Jüngst im April erst erklärte Garcia per Oberster Resolution den ersten Samstag im Juni eines jeden Jahres zum Nationalen Tag des Peruanischen Rums. In diesem Jahr fällt dieser Tag prompt auf den 5. Juni: Es ist der erste Jahrestag des Baguazo und alles andere als ein Festtag.

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