Und schon ist wieder Wahlkampf
Die Parlamentswahlen in Venezuela werden mit Spannung erwartet
Heute verteidigt kaum noch jemand die strategische Dummheit von 2005. Damals hatte die Opposition in Venezuela auf dem absoluten Tiefpunkt ihrer Wahlaussichten die Parlamentswahlen boykottiert. Die fadenscheinigen Begründungen über angeblich „unfreie Wahlen“ entpuppten sich selbst in den eigenen Reihen schnell als Farce. Als Ergebnis blieb eine vollkommen rot eingefärbte Nationalversammlung zurück, in der die Opposition gegen Ende der Wahlperiode aufgrund einiger Überläufer gerade einmal elf von 165 Abgeordneten stellt.
Bei den am 26. September dieses Jahres stattfindenden Parlamentswahlen soll nun alles anders werden. Hatten sich die Oppositionsparteien in den letzten Jahren meist völlig zerstritten und ohne politische Konzepte präsentiert, sind sie mittlerweile zumindest um ein einheitliches Auftreten bemüht. Die wichtigsten Oppositionsparteien haben sich als „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) zusammengeschlossen und werden bei den Wahlen ausschließlich gemeinsame KandidatInnen aufstellen. Erklärtes Ziel ist das Erreichen der Parlamentsmehrheit, um einen politischen Wandel im Land einzuleiten. Ein klares politisches Profil ist nach wie vor nicht erkennbar, meist sprechen sich VertreterInnen der Opposition gegen einzelne Regierungspolitiken wie Verstaatlichungen oder die Unterstützung anderer Länder aus. In erster Linie wollen die RegierungsgegnerInnen den Aufbau eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ aufhalten, für den sich die Regierung ausspricht.
Am 26. April beendete das Bündnis seinen internen Auswahlprozess durch Vorwahlen in 15 der 87 Wahlkreise, an denen sich gut neun Prozent der Wahlberechtigten beteiligten. Die entspricht etwa einem viertel der oppositionellen Stammwählerschaft. Der Nachweis einer Parteimitgliedschaft war für die Teilnahme nicht nötig. Da die BewerberInnen die Abstimmungen, die vom Nationalen Wahlrat (CNE) unterstützt wurden, jeweils selbst finanzieren mussten, konnte nur teilnehmen, wer über ausreichend finanzielle Mittel verfügt.
Die meisten Kandidaturen hatten die Parteien aber bereits zuvor untereinander ausgehandelt. Als Richtschnur für die KandidatInnenaufstellung galt das Ergebnis, dass die jeweiligen Parteien bei den Regionalwahlen 2008 erzielt hatten. Vorwahlen sollten nur dort stattfinden, wo kein Konsens erzielt werden könne.
Trotz der anvisierten Einheit war es vielerorts zu Streit gekommen. Besonders im nördlichen Bundesstaat Miranda, der von der rechtsliberalen Partei Primero Justicia (Gerechtigkeit zuerst) regiert wird, konnten sich die Parteien lange Zeit nicht auf ein Prozedere einigen. Enrique Mendoza, Ex-Gouverneur des Staates und Mitglied der christdemokratischen Partei Copei, forderte die Kandidaten der beiden führenden Oppositionsparteien Primero Justicia und Un Nuevo Tiempo (Eine neue Zeit), Julio Borges und William Ojeda, offen heraus. Letztlich zog er seine Kandidatur zunächst zurück, nachdem ihn das Oppositionsbündnis
nur in einem chavistisch dominierten Wahlkreis aufstellen wollte.
Unter den KandidatInnen des Bündnisses befinden sich auch zahlreiche der von der Opposition als „politische Gefangene“ bezeichnete oder vor der Justiz geflohene Personen. So wurden ursprünglich zum Beispiel die ehemaligen Polizisten Iván Simonovis und Lázaro Forero aufgestellt, die während des kurzzeitigen Putsches gegen Präsident Hugo Chávez im April 2002 das Feuer auf DemonstrantInnen eröffnet haben sollen und rechtskräftig verurteilt im Gefängnis sitzen. Das Oberste Gericht (TSJ) bestätigte kürzlich die Strafen für die Kommissare, womit sie auch ihr passives Wahlrecht einbüßen. Zumindest konnte die Opposition so den Streit mit Mendoza lösen, der nun anstelle von Simonovis antreten soll. Der ehemalige Gouverneur des westlichen Bundesstaates Zulia, Manuel Rosales, sollte ebenfalls kandidieren. Im vergangenen Jahr entzog er sich einer Anklage wegen Korruption, indem er sich nach Peru absetzte. Seine Kandidatur wurde allerdings auch nicht zugelassen. Das Antikorruptionsgesetz sieht in Fällen von Korruption das Verbot, für öffentliche Ämter zu kandidieren, ausdrücklich vor. Die Opposition hatte das Gesetz seinerzeit selbst mit verabschiedet, bezeichnet es aber heute als verfassungswidrig.
Eine Woche nach den Teilwahlen der Opposition zog die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) von Staatspräsident Hugo Chávez nach. Am 2. Mai waren fast sieben Millionen Parteimitglieder dazu aufgerufen, in den 87 Wahlkreisen über 110 DirektkandidatInnen sowie deren StellvertreterInnen zu entscheiden. Nach den Vorwahlen für die Regionalwahlen 2008 (siehe LN 409/410) ließ die PSUV somit bereits zum zweiten Mal den Großteil ihrer Kandidaturen durch die Parteibasis bestimmen. Erst Ende April hatte die Anfang 2008 gegründete Partei mit der Verabschiedung von Parteistatuten, programmatischen Grundlagen und Prinzipien ihren außerordentlichen Kongress beendet. Insgesamt fünf Monate lang diskutierten 772 von der Parteibasis gewählte Delegierte über die Grundsätze der PSUV, die sich als „antikapitalistisch und antiimperialistisch“ definiert und einen „Übergang zum Sozialismus“ anstrebt.
Bei den Vorwahlen traten insgesamt mehr als 3.500 BewerberInnen an. Mit zweieinhalb Millionen Personen machten etwa 38 Prozent der eingeschriebenen PSUV-Mitglieder von ihrem Stimmrecht Gebrauch. Unter den siegreichen KandidatInnen befinden sich zahlreiche Partei- größen, aber auch politische Neulinge. So konnten sich insgesamt 44 BewerberInnen aus der Jugendorganisation der Partei durchsetzen.
Hugo Chávez, der auch Präsident der PSUV ist, bezeichnete die Abstimmung als „beispielhaft“. Die kommende Nationalversammlung werde eine „wesentlich tiefere Verbindung“ mit der Basis haben. Es gab jedoch auch Kritik. Das basischavistische Nachrichtenportal aporrea.org berichtete über Vorteilnahme und unerlaubten Wahlkampf für einige KandidatInnen.
Neben den 110 Direktkandidaten werden am 26. September nach den Prinzipien des Verhältniswahlrechts 52 Mandate über Parteilisten ermittelt, während drei weitere Mandate für die indigene Bevölkerung reserviert sind. Über die gemeinsame Liste der PSUV und ihrer Verbündeten entscheiden die jeweiligen Parteiführungen. Die PSUV legte sich bereits auf 25 Personen – darunter sechs MinisterInnen – fest, welche die gemeinsamen Listen anführen sollen. In jedem der 24 Staaten wurde mindestens ein Platz für die Verbündeten freigehalten. Während sich die Kommunistische Partei (PCV) bei den Wahlen einige Mandate erhofft, wird die gewerkschaftsnahe PPT (Heimatland für Alle) aufgrund zunehmender politischer Spannungen mit der Regierungspartei dieses Mal getrennt von der PSUV antreten.
Ende Februar hatte Henri Falcón, der Gouverneur des Bundesstaates Lara, die PSUV verlassen und war der PPT beigetreten. Er begründete den Schritt unter anderem damit, dass die PSUV „von Bürokratie, fehlender Diskussion und Klientelismus“ sowie einem „falsch verstandenen Konzept der Loyalität“ geprägt sei. PSUV-Mitglieder warfen ihm hingegen vor, „die Seiten gewechselt“ zu haben und den Lebensmittelkonzern Polar in Lara vor Enteignungen schützen zu wollen. Bei der Vorstellung ihrer KandidatInnen Mitte Mai, versuchte sich die PPT als Alternative zur Polarisierung zu präsentieren und stellte zahlreiche unabhängige KandidatInnen auf, wie etwa die bekannte Historikerin Margarita López Maya. Die Parteiführung der PPT betonte zwar, sich keineswegs der Opposition anschließen zu wollen, wurde von Chávez und anderen PSUV-Mitgliedern verbal jedoch harsch angegangen. Da durch eine Reform des Wahlgesetzes im vergangenen Jahr die Elemente der Mehrheitswahl gegenüber den Prinzipien der Verhältniswahl ausgebaut wurden, wird es die PPT jedoch schwer haben, ein gutes Ergebnis zu erzielen. Zudem hatten Abspaltungen vom Regierungslager bisher in keinem Fall Erfolg an den Wahlurnen.
Präsident Chávez hat als Ziel eine Zweidrittelmehrheit für die PSUV ausgegeben. Dies mag zwar hoch gegriffen sein, dennoch geht seine Partei als klare Favoritin in die Wahlen. Alles wird davon abhängen, ob sie ihre potentiellen WählerInnen mobilisieren kann. Die Stammwählerschaft der Opposition ist seit Jahren in etwa konstant. Enttäuschte Chávez-AnhängerInnen werden sich vermutlich eher enthalten, als ihr Kreuz woanders zu machen. Die schwere Energiekrise (siehe LN 426 und 428), die der Opposition durchaus hätte nutzen können, scheint durch eine Drosselung des Stromverbrauchs und einem Ende der Dürreperiode vorerst entschärft. Der Pegel des Guri-Stausees, durch den der Großteil der Elektrizität in Venezuela produziert wird, steigt erstmals seit Monaten wieder an. Venezuela befindet sich jedoch weiterhin in der Rezession. Nachdem das Bruttoinlandsprodukt 2009 um 3,3 Prozent gefallen war, ging es in den ersten vier Monaten dieses Jahres um 5,8 Prozent zurück. Zudem häufen sich in jüngster Zeit erneut Engpässe bei einzelnen Lebensmitteln. Während die Regierung den großen Lebensmittelkonzernen vorwirft, Produkte bewusst zurückzuhalten und ihrerseits das staatliche Versorgungsnetz ausbaut, machen die Unternehmerverbände die Wirtschaftspolitik für die Engpässe verantwortlich.
Eine größere Rolle als bei bisherigen Wahlkämpfen wird dieses Mal der Mobilisierung über das Internet zukommen. Während die Vorteile für politische Kommunikation bisher fast ausschließlich von der Opposition genutzt wurden, um beispielsweise zu Protesten aufzurufen, strömen in jüngster Zeit immer mehr ChavistInnen in die sozialen Netzwerke wie Facebook oder den Kurznachrichtendienst Twitter. Der Präsident selbst eröffnete im April seinen eigenen Twitter-Account, von dem aus der leidenschaftliche Langredner seitdem Statements abgibt, die 140 Zeichen nicht überschreiten dürfen. Bereits nach kurzer Zeit war die Zahl seiner Abonnenten weitaus höher als jene des radikaloppositionellen Nachrichtensenders Globovisión, der bis dato den beliebtesten venezolanischen Twitter-Acount hatte. Ende Mai startete Chávez zusätzlich seine eigene Internet-Seite, auf der er unter anderem einen Blog betreibt und Literaturtipps bereithält. Mit der Vorherrschaft der Opposition über das Internet dürfte es somit nun auch vorbei sein.