Brasilien | Nummer 493/494 - Juli/August 2015

Eine andere Stadt ist möglich

Ocupe Estelita – die Bewegung für eine andere Stadtentwicklung in Recife stößt Diskussionen in ganz Brasilien an

Zwölf Wohntürme mit jeweils 40 Stockwerken sollen mitten im historischen Zentrum von Recife entstehen. Das Megaprojekt wurde 2012 unter Bürgermeister João da Costa von der Arbeitpartei (PT) verabschiedet. Sein Vorgänger João Paulo, ebenfalls PT, hatte zuvor dem Verkauf des Grundstücks im Besitz der Eisenbahn an ein Immobilienkonsortium zugestimmt. Doch die Bewegung Ocupe Estelita, die eine Stadtentwicklung zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung fordert, gewinnt seit 2012 an Boden. 2014 gelang es im letzten Augenblick, den Abriss der historischen Bauten an den Kais José Estelita zu verhindern. Nun diskutiert die Bewegung mit dem Kulturministerium über die Anerkennung der Kais als „nationales Kulturerbe“. Für viele andere soziale Bewegungen ist der bunte, vielfältige Widerstand von Ocupe Estelita und die geschickte Nutzung der sozialen und traditionellen Medien längst zur Referenz geworden. Die LN sprachen mit Sergio Urt, Aktivist der ersten Stunde.

Interview: Claudia Fix

Warum engagieren Sie sich bei Ocupe Estelita?
Ocupe Estelita drückt das aus, wofür wir von der Bewegung für das Recht auf Stadt uns schon lange engagieren. Denn die Stadt, die wir uns wünschen, ist nicht die, die sie uns aufzwingen. Ein Beispiel sind die Radwege, die zuerst verboten wurden, weil sie angeblich den Verkehr behindern. Wir engagieren uns aus Liebe für die Stadt, um Teil dieser Veränderung zu sein, die die Stadt lebenswerter macht.

Letztes Jahr hat Sie dieses Engagement ins Krankenhaus gebracht – was war passiert?
Ich bin am 21. Mai um 22:15 Uhr bei den Cais de José Estelita angekommen. Ich war der erste der Bewegung, der dort war, als sie begannen, Gebäude abzureißen. Ich bin auf das Gelände gegangen, um den Abriss zu filmen und dann die Information sofort weiter zu verbreiten. Zu dem Zeitpunkt lagen den Gerichten fünf Einsprüche gegen das Projekt vor: Gegen die Form, wie es genehmigt wurde, gegen die Form der Bürgeranhörungen beziehungsweise dagegen, dass diese nicht stattgefunden hatten, dagegen, dass es vorab keine Studien gab, die mögliche Umweltfolgen oder die Auswirkungen auf die Nachbarschaft untersuchten. Diese juristische Auseinandersetzung dauert noch an.
Als ich dort ankam, gab es überhaupt kein Schild, das die verantwortlichen Baufirmen benannte, nicht mal ein Schild mit „Baustelle“ war dort aufgestellt worden. Der Abriss war eine illegale Aktion, die heimlich mitten in der Nacht stattfinden sollte, und bei der ich sie als Bürger ertappt habe. Als ich die Sicherheitsleute und Ingenieure dort ansprach, verlangten sie von mir, das Gelände zu verlassen. Ich fragte sie wiederholt nach der Abrissgenehmigung, die eigentlich immer im Original öffentlich zugänglich vorliegen muss, aber sie zeigten sie nicht vor. Stattdessen warfen sie mich raus. Dann schlossen sie das Tor, das vorher offen gestanden hatte.
Als ich vor dem Tor wartete, kamen zwei Motorräder mit großen, muskelbepackten Sicherheitsbeamten. Sie zogen die Waffe und sagten, sie seien von der Polizei. Aber die Nummernschilder der Motorräder waren so umgeknickt, dass man sie nicht identifizieren konnte. Und dann fingen sie an, mich zu schlagen. Sie schlugen mir ins Gesicht, traten mich, gaben mir einen Faustschlag auf das Auge, schlugen mich mit der Waffe in den Bauch. Am nächsten Tag hatte ich am ganzen Körper Verletzungen. Sie nahmen mir mein Handy ab, löschten alle Fotos und Filme und zerstörten es, nahmen mir den Autoschlüssel weg, bedrohten mich mit der Waffe und drohten mir, dass mich ein Wagen wegbringen würde. Ich habe dann angefangen, um Hilfe zu rufen, weil ich wirklich dachte, sie würden mich umbringen. Aber die Gegend ist um diese Uhrzeit menschenleer.
Bevor die beiden Sicherheitsleute mich angriffen, hatte ich allerdings drei Fotos von dem Abriss der Kais an die Gruppe Ocupe Estelita gesendet. Ein anderes Mitglied, Mauricio, hat die Fotos gesehen, ist sofort zu den Kais gefahren und tauchte plötzlich auf. Er fing an zu fotografieren, woraufhin ihm einer der Sicherheitsleute die Waffe an den Kopf hielt, seine Chipkarte aus dem Fotoapparat riss und sie ins Meer warf. Nur dass sie Mauricio gehen ließen und mich dabehielten. Sie haben dann wieder angefangen, mich zu schlagen, weil ich sie aufforderte, mir meine Brieftasche, meine Autoschlüssel und mein Handy zurückzugeben. Sie haben mich bestimmt noch eine Viertelstunde terrorisiert und gedroht mich umzubringen. Dann hörten sie plötzlich damit auf, gaben mir alles zurück und schickten mich weg.

Wurde diese Attacke auf Sie polizeilich oder juristisch verfolgt?
Die Militärpolizei in Pernambuco hat an dem Tag gestreikt, so dass ich erstmal gar keine Anzeige erstatten konnte, weil die Polizeistationen nicht regulär besetzt waren. Während wir bei der Polizei warteten, riefen mich Freunde von Ocupe Estelita an, die sich bei den Kais versammelt hatten. Dort war bereits alles voller Polizei. Sie baten mich zurückzukommen. Als ich wieder dort war, hatten sich ungefähr 120 Menschen versammelt und es wurden immer mehr. Vielleicht zwanzig Polizeiwagen standen herum, das Tor war verschlossen und die Maschinen hatten bereits aufgehört, die Schuppen abzureißen. Ich wandte mich an die Polizei vor Ort und sagte ihnen, dass die Sicherheitsleute, die mich angegriffen hatten, sich vermutlich auf dem Gelände befänden. Und sie haben überhaupt nichts unternommen, sondern die ganze Zeit die Baufirma geschützt. Erst als ein anderes Polizei-Bataillon kam – GATI, die Gruppe für taktische Operationen – sind drei Polizeibeamte mit mir und Pressevertretern auf das Gelände gegangen. Ich konnte einen der Angreifer identifizieren, doch anstatt ihn festzuhalten, haben sie das Tor sofort wieder geschlossen. Als sie es fünf Minuten später erneut öffneten, war er verschwunden. Das Areal ist 100.000 Quadratmeter groß, da ist es nachts leicht, sich zu verstecken. Als mir dann ein Militärpolizist das Protokoll brachte, stand darin, dass ich die Sicherheitsleute der Firma angegriffen hätte, dass ich der Agressor sei. Schließlich kamen eine Anwältin und ein Stadtverordneter, der mir sehr geholfen hat, sowie ein ziviler Polizeikommissar, der sehr, sehr gut war. Er hat die Anzeige gegen mich sofort fallen gelassen, eine Untersuchung eröffnet und überhaupt nicht mit den sechs Anwälten der Baufirma diskutiert, die diese gerufen hatte, um Druck auszuüben.
Es gibt einen juristischen Prozess, aber er kommt nur sehr langsam voran. Nicht zuletzt wegen des Einflusses, den die Baufirmen ausüben. Aber das Gute ist, dass die Staatsanwaltschaft den Prozess selbst vorantreiben muss, weil es sich um ein Verbrechen handelt. Ich bin übrigens auch von den Baufirmen angezeigt worden: wegen „übler Nachrede“.

Wann begann die Besetzung des Geländes?
Die Besetzung begann in derselben Nacht, nachdem die Leute davon erfahren hatten, was passiert war: der illegale Abriss, die Attacke auf mich. Der Protest vor Ort mündete in der Besetzung. Und ab diesem Moment beteiligten sich auch andere Kräfte und Bewegungen an der Besetzung: Studenten, Lehrer, auch Ärzte, Leute aus der Universität in Caruarú, aus Belo Horizonte, aus Bahia. Ich selbst konnte in den ersten Tagen gar nicht teilnehmen, ich musste mich erst von meinen Verletzungen erholen.

Wie reagierten die Presse und die öffentliche Meinung auf die Besetzung?
Ziemlich schnell nach der Besetzung bezahlte das Konsortium erst einen digitalen Mediendienst und kaufte sich dann eine positive Berichterstattung in der Presse, in der sie als Heilige erscheinen. Unsere Netzwerke sind so gigantisch, dass sie sie nicht kontrollieren können. Sie können deshalb nie voraussehen, wie wir reagieren werden, ob mit direkten Aktionen, wie Besetzungen oder Protesten auf der Straße, oder mit Online-Kampagnen, mit Videos im Internet, Kinofilmen, was auch immer. Wir besetzen auch öffentliche Räume, zum Beispiel die Einweihungen, die der Bürgermeister macht. Heute hat er schon Angst vor öffentlichen Auftritten, weil er dauernd Leute von der Bewegung „Ocupe Estelita“ trifft. Er hat längst gemerkt, dass der Widerstand gegen diese Form von Stadtentwicklung größer ist als gegen irgendein anderes Thema in der Politik. Es gibt einfach unheimlich viele Leute, die sich dazu engagieren. 2014 wurde die Bewegung viel größer, als wir jemals gedacht hätten. Denn wir haben begriffen, dass wir nicht schwach sind.

Warum hat Ocupe Estelita eine solche Bedeutung gewonnen, dass die Bewegung heute in ganz Brasilien eine Referenz ist?
Ich denke, es gibt keine „Formel“ für eine erfolgreiche Bewegung. Aber unsere Forderungen treffen sich sehr mit dem, was die Bürgerinnen und Bürger im Alltag erleben. Das Thema trifft die Sorgen, die sie sich in Bezug auf ihre Stadtteile machen. Vor allem was fehlende Planung und fehlende Partizipation betrifft. Ocupe Estelita kann ihnen eine Stimme geben, sie können Teil einer Bewegung sein, die es geschafft hat, der Gesellschaft eine Botschaft zu übermitteln. Das schaffen wir aber nur, weil wir in den sozialen Medien so stark sind. Die traditionellen Medien würden normalerweise nie über uns berichten, weil wir die Geschäfte derer stören, die hinter ihnen stehen. Wir hatten aber auch das Glück, dass der Anfang der Besetzung mit dem Beginn der WM zusammenfiel: Die gesamte Weltpresse war präsent. Und dann hat Al Jazeera einen Beitrag über Ocupe Estelita gemacht. Erst dann zog die nationale Presse nach.

Welche Auswirkungen hat das Projekt?
Wir erwarten große Auswirkungen auf die Luftzirkulation in der Stadt, insbesondere im ganzen historischen Zentrum, das viele niedrigere Gebäude hat. Die Temperaturen dort werden sicher ansteigen. Und die ganzen kleinen Händler in den umliegenden Straßen sind verzweifelt, weil sie schon jetzt von den großen Handelsketten vertrieben werden. Das ganze Projekt ist eine gigantische Täuschung: Es ist ausschließlich Aufgabe der öffentlichen Hand, Stadtentwicklungsprojekte umzusetzen, nicht die Aufgabe von privaten Unternehmen. Aber sie schaffen es, so viel Druck auf die Stadtverwaltung auszuüben, dass Gesetze geschaffen werden, nur um diese Projekte zu ermöglichen, dass die Gesetzgebung dauerhaft verändert wird und die legalen Verfahren umgangen werden. Unter Missachtung der Bevölkerung und der Verfassung werden hier unumkehrbar Rechtsnormen geschaffen, die illegal sind und einen dauerhaften Schaden verursachen. Diese Bauunternehmen sind die großen Finanziers der Kampagnen des Gouverneurs von Pernambuco und des aktuellen Bürgermeisters Geraldo Júlio der PSB, einer Partei, die auch ganz starke Verbindungen zu Industrieunternehmen hat.

In nur einem Jahr hat es Ocupe Estelita geschafft, die Auseinandersetzung auf die nationale Ebene zu verlagern. Könnte der Denkmalschutz das Projekt noch stoppen?
Wir haben den Kulturminister Juca Ferreira getroffen, um eine Studie zu übergeben, die die Universität von Pernambuco gemeinsam mit der Bewegung Estelita in Brasilien und der Bevölkerung erstellt hat. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass diese Stadtlandschaft tatsächlich eine kulturelle und künstlerische Bedeutung hat. Verschiedene Architekten und Stadtplaner begründen in sieben verschiedenen Dokumenten, warum die Kais unter Denkmalschutz gestellt werden sollten.

Denken Sie, es sei doch möglich, das Projekt noch zu stoppen?
Meine persönliche Einschätzung ist, dass wir tatsächlich auf eine neue Ebene der Verhandlungen gelangt sind, eine Ebene, auf der die Stadtverwaltung und die Unternehmen mit der nationalen Regierung verhandeln müssen. Denn die Regierung von Recife wollte nicht mit uns verhandeln. Sie haben ein paar Gespräche simuliert, aber sie wollten keine wirklichen Veränderungen des Projekts. Ich meine, die Höhe der Gebäude von 40 auf 38 Stockwerke zu senken, das ist doch nur eine andere Form, uns als Idioten zu bezeichnen, oder? Es gibt Teile der Bewegung, die relativ radikale Forderungen stellen, wie den Bau von sehr günstigen Häusern, von „casas populares“, auf dem Gelände. Man kann den privaten Besitzer aber nicht zwingen, etwas anderes zu bauen als er will, solange die Baumaßnahmen innerhalb der Richtlinien des Denkmalschutzes bleiben. Ich persönlich glaube, dass das Projekt noch grundlegend umgestaltet wird.

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