Eine Frau in der Hölle
Luz Arce war Sozialistin. Über eine persönliche Bekanntschaft wurde sie so etwas wie Sekretärin der Leibwache des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Nach dem Putsch 1973 ging sie in den Untergrund. Nach einigen Monaten einer recht ziellosen und eher schlecht als recht abgeschirmten Untergrundarbeit wurde sie verraten und verhaftet. Der Geheimdienst folterte sie, und sie hielt stand. Als sie einmal mit verbundenen Augen über den Flur eines geheimen Folterzentrums geführt wurde, schoß ihr ein Soldat in den Fuß. Die Geheimdienstbeamten wollten das Risiko nicht eingehen, sie verbluten zu lassen, denn jedeR tote Gefangene war eine vernichtete Informationsquelle. Die Ermordung von politischen Gefangenen mußte von höherer Stelle genehmigt werden. Deshalb brachten sie die Frau in ein Militärkrankenhaus. Sie wollte sterben und warf heimlich die Medizin weg, damit die Wunde sie vergifte. Die Wunde heilte von selbst zu. Ein Pfleger, der ihr beim Baden half, zwang sie zu perversen sexuellen Praktiken. Als sie halbwegs genesen war, fuhren Geheimdienstler sie zu ihren Eltern nach Hause, überwachten sie aber weiterhin.
Sie wird zur Kollaborateurin
Einige Wochen später wurde sie zusammen mit ihrem Bruder ein zweites Mal verhaftet. Wieder wurde sie gefoltert und vergewaltigt. Ihr Bruder hielt der Folter nicht Stand. Nach seinem Zusammenbruch überredete er sie, gemeinsam mit ihm eine Liste von Untergrundkämpfern zusammenzustellen. In der Sprache der Folterzentren “kollaborierten” die beiden. Sie achteten sorgsam darauf, daß die Liste aus Leuten bestand, die ihrerseits kollaborierten, im Ausland waren oder eine untergeordnete Rolle in der sozialistischen Parteihierarchie hatten. Einige Menschen wurden auf Grundlage dieser Liste verhaftet; ein paar davon sind bis heute “verschwunden”. Da alle anderen in die offiziellen chilenischen Gefängnisse überführt oder umgebracht wurden, war Luz Arce bald diejenige Gefangene, die am längsten verhaftet war. Sie wußte viel über die DINA und kannte viele Geheimdienstler. Das war gefährlich. Die DINA konnte nicht riskieren, sie laufen zu lassen. Einige Male hatte sie deutliche Anzeichen dafür, daß sie auf der Liste derer stand, die zum “Verschwindenlassen” selektiert wurden. Durch persönliche Beziehungen und einiges Glück überlebte sie.
Als Kollaborateurin genoß Luz Arce einige Privilegien, die den übrigen Gefangenen nicht zukamen. Sie durfte ihre Zellentür angelehnt lassen und duschen, wenn auch unter den Augen der Wächter, die aus Jux applaudierten, wenn sie sich auszog.
In der Silvesternacht 1974/75 lud der Stellvertreter des Kommandanten des Folterzentrums sie zu einem Gläßchen in sein Büro ein, besoff sich und vergewaltigte sie. Gleichzeitig vergewaltigten die Wachsoldaten die weiblichen Gefangenen. Inmitten der Schreie und des Stöhnens ergriff Luz Arce eines der schweren Dienstsiegel der DINA, das eine eiserne Faust zeigte, und schlug den Offizier, der sie vergewaltigt hatte, damit nieder. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie sich aus dem offenstehenden Waffenmagazin eine Maschinenpistole nehmen und die übrigen Gefangenen befreien sollte, denn das Wachpersonal war nackt und wehrlos. Dann ging sie zu einem Telefon und rief den Kommandanten des Folterzentrums an, der zu Hause Silvester feierte. Der Kom-mandant kam mit einigen Offizieren im Kampfanzug und vorgehaltener Waffe und bereitete der Vergewaltigungsorgie ein Ende. Der Vergewaltiger wurde in einen der engen Kästen gesteckt, die der Folter an Gefangenen dienten, und von da an bedurfte die Vergewaltigung von gefangenen Frauen der Vorabgenehmigung. Ordnung muß sein.
Folterer mit kleinen Schwächen
Die DINA rechnete es Luz Arce hoch an, daß sie nicht die Waffenkammer geplündert hatte, sondern den Dienstweg gegangen war. Nach und nach wurde sie zur regulären Beamtin des Geheimdienstes. Fünf Jahre lang arbeitete sie für die DINA und die Nachfolgeorganisation CNI. Ihr Buch “Die Hölle” berichtet von der Routine dieser Geheimdienste, von Mord und Folter, vom Abhören von Telefonen, dem Unterricht der Agenten, dem etwas unbeholfenen Aufbau einer Computerabteilung, dem Gehabe der führenden Offiziere, die sich wie Gottväter vorkamen, von Intrigen und sexuellen Beziehungen kreuz und quer. Die allmächtige DINA, die nach Gutdünken eineinhalb tausend Menschen verschwinden lassen konnte, hatte ihre sehr banale Seite. Was nach außen wie die perfekte Terrormaschine wirkte, war in Wahrheit eine schnell zusammengeschusterte, korrupte und mit allen Fehlern behaftete militärische Einheit. Die DINA-Beamten, deren Identität geknackt wurde – darunter auch Luz Arce selbst – wurden in Publikationen des chilenischen Exils wie Monster dargestellt. Aber es waren Menschen, die, wenn sie vom Foltern kamen, ein halbwegs normales Familienleben zu führen versuchten, die ihre kleinen Schwächen hatten und sich in Liebesbeziehungen mit den Sekretärinnen und weiblichen Gefangenen verstrickten. Luz Arce schildert alle Beziehungen, die sie mit Geheimdienstbeamten hatte. Sie kann es sich heute noch nicht ganz verzeihen, daß sie in der Hölle lieben konnte.
Im Exil entsteht ihr Buch
Als 1990 die erste demokratisch gewählte Regierung nach der Pinochetdiktatur eine Kommission zur Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen gründete, rang Luz Arce sich zu einer Aussage durch. Sie erhielt Drohungen ihrer früheren Geheimdienstkollegen und mußte Chile verlassen. Das Buch “Die Hölle” ist das Ergebnis dieses Exiljahres in Österreich.
Luz Arce kennt den Tod. Sie hörte mit verbundenen Augen, wie andere Gefangene starben, drückte erschossenen Guerilleros die Augen zu, sollte selbst ermordet werden und war wegen verschiedener Krankheiten mehrfach im Delirium. Es gibt Wochen in ihrem Leben, in denen sie kaum bei Bewußtsein war. Nach ihrer Verhaftung und dem Schuß in den Fuß verging bis heute kein Tag ohne starke körperliche Schmerzen. Diese Erfahrungen erspart sie den Leserinnen und Lesern ihres Buches. Die tagelange Elektrofolter wird nur in Andeutungen erwähnt. Statt ihre Vergewaltigungen zu schildern, läßt sie lieber eine Lücke im Text. Durch diese Auslassungen und eingesprengte christliche Reflexionen wird das Buch erträglich. Das gleichzeitig in Chile erschienene Buch ihrer Leidensgenossin Alejandra Merino “Mí Verdad” bildet den Schrecken 1:1 ab. Obwohl auch hier die schlimmste Folter nicht geschildert wird, wird es kaum jemand ohne Erholungspausen lesen können.
Anfang 1992 kehrte Arce nach Chile zurück und stellte sich in zahlreichen Menschenrechtsprozessen als Zeugin zur Verfügung. Diese manchmal tagelangen Gerichtstermine und Gegenüberstellungen mit den Folterern und überlebenden Gefangenen waren eine weitere Aufarbeitung des Geschehenen. “Die Hölle” beschreibt die meist auftrumpfenden, gelegentlich tölpelhaften und nur selten reuigen Reaktionen der DINA`Agenten, von denen der erste Teil des Buches handelt.
Guerilleros sind keine
eisernen Helden
“Die Hölle” ist nicht nur deshalb ein ungewöhnliches Buch, weil hier eine Geheimdienstlerin ohne ghostwriter auskommt. In Arces Person und Buch kommen die Perspektiven der Opfer und die der Täter über lange Passagen zur Deckung. Berichte über politische Haft sind fast nur aus der Perspektive der Opfer geschrieben und neigen dazu, die Täter und ihre Institutionen als nebulöse Monster zu überzeichnen. Agentenberichte wiederum sind Knüller, die das Leiden der Opfer allenfalls der Sensation halber einbeziehen. Arce deckt eine Verstrickung von Tätern und Opfern auf, die eine dialektische Wahrheit enthält. Ein Apparat wie die DINA konnte den militanten Widerstand nur zerschlagen, weil die scheinbar perfekt organisierten Untergrundorganisationen triviale Fehler machten, weil es Inkonsequenz und Indiskretion gab und weil die Guerilleros eben nicht die eisernen Heldenfiguren waren, für die sie sich selbst hielten. Spiegelbildlich entspricht dieser Entmythologisierung des Untergrunds die Schwäche der Folterer, ihr Gestammel, wenn sie zur Rede gestellt werden, das Klappern der Teetasse in einer Verhandlungspause, das die zitternden Finger eines sich selbstbewußt gebenden früheren Folterers verrät.
Luz Arce ist unfähig zum Haß. Sie weiß von ihren theologischen und therapeutischen Freunden, daß die Buße vor der Vergebung kommt, daß sie sich ihrer Aggressionen gegen die Täter erst bewußt werden muß, ehe sie ihnen verzeihen kann. Sie sucht in ihrem Buch die Versöhnung und bringt sie in religiösen Formeln ins Spiel, vergißt aber nie, daß sie sich und den Überlebenden des Terrors, vor allem aber den Angehörigen der “Verschwundenen” statt der wohlfeilen Rede von Feindesliebe eine präzise Darstellung des Geschehenen schuldig ist.
Auch wo der autobiographische rote Faden des Buches subjektiv wird, bleibt die Autorin der Wahrheit treu. Sie verweigert den letzten Schritt, Unversöhnliches versöhnen zu wollen. Es wäre der deutschen Ausgabe des Buches gut bekommen, wenn sie die Objektivität, der sich Arce verpflichtet fühlte, gestützt hätte. Stattdessen wird das Buch in Klappentext, Untertitel und Nachwort als “selbstanalytische Studie” und Identitätsfindung angeboten. Die spanische Ausgabe konnte mit einigem Recht davon ausgehen, daß Orte, Personen und Ereignisse dem Publikum bekannt waren. Die deutsche Ausgabe hätte hier Anmerkungen machen müssen. So wie das Buch nun vorliegt, bleiben einige Passagen unverständlich. Ereignisse, die faktisch miteinander verknüpft sind, stehen isoliert da.
Das Nachwort von Thomas Scheerer bemüht sich, einiges nachzutragen, was im Text hätte angemerkt werden müssen. Die Übersetzung, im ganzen einfühlsam, scheitert an einigen spezifisch chilenischen Wendungen. Arces Text ist so gewichtig, daß er dieses Ungeschick verträgt.
Dieter Maier
Luz Arce, Die Hölle; eine Frau im chilenischen Geheimdienst – Eine Autobiographie. Mit einem Nachwort von Thomas M. Scheerer. Aus dem Spanischen von Astrid Schmitt-Böhringer. Hamburger Edition, Hamburg 1994, 405 S.