Eine neue Literaturgeschichte
Das Vorhaben, eine Literaturgeschichte des noch nicht zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts zu schreiben, bringt einige Probleme mit sich. Da ist zunächst die Unmenge an AutorInnen und Büchern, aus der irgendwie ausgewählt werden muß, mit dem Ziel, den Rahmen eines Taschenbuchs nicht zu sprengen. Sodann stellt sich die Frage, wie diese Auswahl zu ordnen, weiter, wie mit den “Rändern” umzugehen sei, man denke an AutorInnen, die in Nordamerika oder Europa leben und teilweise in anderen Sprachen schreiben. Und nicht zuletzt ist es heikel, die persönlichen Vorlieben und Vorbehalte zugunsten einer halbwegs objektiven Darstellung zurückzuhalten, die den LeserInnen möglichst viele Freiräume bei der eigenen Lektüre läßt.
In seinem Vorwort geht Strosetzki auf diese Probleme ein und stellt die Prinzipien dar, nach denen er das Buch geschrieben und an die er sich durchgängig gehalten hat.
Die Auswahl der SchriftstellerInnen folgte dem Grundsatz, daß ihre Bedeutung in der Literaturwissenschaft Lateinamerikas und Europas weitgehend unumstritten sein soll. Die Verkaufszahlen in deutschen Buchläden spielen dabei keine Rolle, denn viele AutorInnen gerade der ersten Jahrhunderthälfte wurden und werden hier – im Gegensatz zu Amerika – kaum gelesen. Andererseits geht Strosetzki nur vorsichtig auf Werke des letzten Drittels des Jahrhunderts ein, da ihre Bedeutung für die Literaturwissenschaft oft noch nicht abzusehen ist. So ist zwar Isabel Allende ausführlich, Gioconda Belli jedoch nur knapp erwähnt, und der hierzulande häufiger gespielte chilenische Dramatiker Ariel Dorfman fehlt ganz. Das bedeutet auch, daß unbekanntere Autoren vor allem Mittelamerikas und der Karibik keine Aufnahme fanden. Aber vielleicht ist das die Aufgabe einer Literaturgeschichte, die in 20 Jahren geschrieben wird.
Strosetzki geht länderweise von Nord nach Süd vor, stellt jedoch Nicaragua (mit dem modernismo bei Rubén Darío) und Guatemala (mit dem magischen Realismus bei Miguel Angel Asturias) an den Anfang. Tatsächlich macht die Einteilung nach Ländern hier mehr Sinn als die traditionelle chronologische. Besonders deutlich wird das dadurch, daß Strosetzki jedem Kapitel einen knappen, ein- bis zweiseitigen Geschichtsabriß voranstellt. Die Themenwahl vieler AutorInnen wird dadurch verständlicher, etwa die mexikanische Revolutionsliteratur oder die argentinische Gaucho-Literatur. Wo die Themen sich nicht auf die Ländergeschichte beziehen lassen, erzwingt er nichts, und die vielfältigen Verflechtungen innerhalb Lateinamerikas wie auch die Beziehungen zu Europa bleiben nicht unberücksichtigt.
Bei den erwähnten “Rändern” gilt – mit Ausnahmen – die Regel, daß diejenigen AutorInnen erwähnt werden, die auf Spanisch beziehungsweise Portugiesisch schreiben. Genauso bleiben europäische Autoren völlig unberücksichtigt, die in Lateinamerika lebten und über lateinamerikanische Themen schrieben, wie Anna Seghers oder B. Traven. In formaler Hinsicht findet die testimonio-Literatur eines Miguel Barnet genauso Platz wie die Essayistin Elena Poniatowska und die dezidiert historiographischen Werke Eduardo Galeanos.
Wichtig zu erwähnen ist noch der Anhang. Zunächst werden fremdsprachige Zitate übersetzt, wobei leider einige fehlen; für das Verständnis mancher Passagen ist das eine empfindliche Lücke. Daran schließt sich eine Liste besonderer Art: In alphabetischer Reihenfolge hat Strosetzki alle erwähnten Werke aufgeführt und die Titel übersetzt. Ist das Buch auf Deutsch erschienen, steht der entsprechende deutsche Titel. Wenn der jeweilige Titel jedoch nicht wörtlich übersetzt wurde, fügt er eine entsprechende Übersetzung an. Beispielsweise heißt es da: “El siglo de las luces (Alejo Carpentier); in deutscher Fassung: Explosion in der Kathedrale; deutsch wörtl. [Das Zeitalter der Aufklärung]”.
Was für ein Buch liegt uns nun vor? Strosetzki schrieb eine “kleine” Literaturgeschichte. Sie reicht nicht aus, wenn es um Details im Werk eines Autors geht und kann die übrige Sekundärliteratur nicht ersetzen. Wenn er “Hundert Jahre Einsamkeit” zwei thesenartige Seiten widmet, kann das nicht befriedigend über den Roman Auskunft geben, und das Fehlen von Carlos Fuentes’ frühem Meisterwerk “Aura” mag schmerzen.
Was das Buch leistet, und zwar in vorbildlicher Weise, ist ein gut lesbarer Überblick. Die AutorInnen werden nicht lexikonartig aufgelistet, sondern ihre thematischen und stilistischen Zusammenhänge werden – manchmal artistisch – benutzt, um einen fortlaufenden Text zu schreiben, der von Laien und Fachleuten gleichermaßen zum Nachschlagen wie zur Bettlektüre verwendet werden kann.
Christoph Strosetzki: Kleine Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im 20.Jahrhundert, Beck’sche Reihe, München 1994, 360 S., 24.- DM.