Literatur | Nummer 248 - Februar 1995

Eine neue Literaturgeschichte

Die von Christoph Strosetzki herausge­gebene und mitverfaßte “Geschichte der spani­schen Literatur” (1991) gehört bei RomanistInnen bereits zu den einschlägi­gen Hand­büchern. Nun hat Strosetzki, Romanist an der Universität Münster, als alleiniger Autor ein ähnlich überschauba­res, einführendes Werk, die “Kleine Ge­schichte der lateiname­rikanischen Litera­tur im 20. Jahrhundert” vorgelegt, die – sa­gen wir es gleich – sehr zu empfehlen ist.

Valentin Schönherr

Das Vorhaben, eine Literaturgeschichte des noch nicht zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts zu schreiben, bringt einige Pro­bleme mit sich. Da ist zunächst die Unmenge an AutorInnen und Büchern, aus der irgendwie ausgewählt werden muß, mit dem Ziel, den Rahmen eines Ta­schenbuchs nicht zu sprengen. So­dann stellt sich die Frage, wie diese Auswahl zu ordnen, wei­ter, wie mit den “Rändern” umzugehen sei, man denke an Autor­Innen, die in Nordamerika oder Europa leben und teilweise in anderen Sprachen schreiben. Und nicht zuletzt ist es heikel, die persönlichen Vorlieben und Vorbe­halte zugunsten einer halb­wegs objektiven Darstellung zurückzuhalten, die den Le­serInnen möglichst viele Freiräume bei der eigenen Lektüre läßt.
In seinem Vorwort geht Strosetzki auf diese Probleme ein und stellt die Prinzi­pien dar, nach denen er das Buch ge­schrie­ben und an die er sich durchgängig gehalten hat.
Die Auswahl der SchriftstellerInnen folgte dem Grundsatz, daß ihre Bedeutung in der Literaturwissenschaft Lateinameri­kas und Europas weitgehend unumstritten sein soll. Die Verkaufs­zahlen in deutschen Buchläden spielen dabei keine Rolle, denn viele AutorInnen gerade der ersten Jahr­hunderthälfte wurden und werden hier – im Gegensatz zu Amerika – kaum gelesen. Ander­er­seits geht Strosetzki nur vorsichtig auf Werke des letzten Drittels des Jahr­hunderts ein, da ihre Bedeutung für die Literaturwissenschaft oft noch nicht abzu­sehen ist. So ist zwar Isabel Allende aus­führlich, Gioconda Belli jedoch nur knapp erwähnt, und der hierzulande häufiger ge­spielte chile­nische Dramatiker Ariel Dorf­man fehlt ganz. Das bedeutet auch, daß un­bekanntere Autoren vor allem Mit­tel­amerikas und der Kari­bik keine Auf­nahme fan­den. Aber vielleicht ist das die Auf­gabe einer Literaturgeschichte, die in 20 Jah­ren geschrieben wird.
Strosetzki geht länderweise von Nord nach Süd vor, stellt je­doch Nicaragua (mit dem modernismo bei Rubén Darío) und Guate­mala (mit dem magischen Realis­mus bei Miguel Angel Asturias) an den An­fang. Tatsächlich macht die Einteilung nach Län­dern hier mehr Sinn als die tradi­tion­elle chronologische. Beson­ders deut­lich wird das dadurch, daß Strosetzki je­dem Kapitel einen knappen, ein- bis zwei­sei­tigen Geschichtsabriß voranstellt. Die The­menwahl vieler AutorInnen wird da­durch verständlicher, etwa die mexikani­sche Revolutionsliteratur oder die argenti­nische Gaucho-Literatur. Wo die Themen sich nicht auf die Ländergeschichte bezie­hen lassen, erzwingt er nichts, und die viel­fältigen Verflechtungen innerhalb La­tein­amerikas wie auch die Beziehungen zu Eu­ropa bleiben nicht unberücksichtigt.
Bei den erwähnten “Rändern” gilt – mit Aus­nahmen – die Regel, daß diejenigen AutorInnen erwähnt werden, die auf Spa­nisch beziehungsweise Portugiesisch schreiben. Genauso bleiben europäische Autoren völlig unberücksichtigt, die in Lateinamerika lebten und über lateiname­rikanische Themen schrieben, wie Anna Seghers oder B. Traven. In formaler Hin­sicht findet die testimonio-Literatur eines Miguel Barnet genauso Platz wie die Es­sayistin Elena Poniatowska und die dezi­diert historiographischen Werke Eduardo Galeanos.
Wichtig zu erwähnen ist noch der An­hang. Zunächst werden fremdsprachige Zi­tate übersetzt, wobei leider einige feh­len; für das Verständnis mancher Passa­gen ist das eine empfindliche Lücke. Da­ran schließt sich eine Liste besonderer Art: In alphabetischer Reihenfolge hat Strosetzki alle erwähnten Werke aufge­führt und die Titel übersetzt. Ist das Buch auf Deutsch erschienen, steht der entspre­chende deutsche Titel. Wenn der jeweilige Ti­tel jedoch nicht wörtlich übersetzt wurde, fügt er eine entsprechende Über­set­zung an. Beispielsweise heißt es da: “El siglo de las luces (Alejo Carpentier); in deutscher Fassung: Explosion in der Ka­thedrale; deutsch wörtl. [Das Zeitalter der Aufklärung]”.
Was für ein Buch liegt uns nun vor? Strosetzki schrieb eine “kleine” Literatur­geschichte. Sie reicht nicht aus, wenn es um Details im Werk eines Autors geht und kann die übrige Sekundärliteratur nicht ersetzen. Wenn er “Hundert Jahre Ein­samkeit” zwei thesenartige Seiten wid­met, kann das nicht befriedigend über den Rom­an Auskunft geben, und das Fehlen von Carlos Fuentes’ frühem Mei­sterwerk “Aura” mag schmerzen.
Was das Buch leistet, und zwar in vor­bildlicher Weise, ist ein gut lesbarer Überblick. Die AutorInnen werden nicht lexikon­ar­tig aufgelistet, sondern ihre the­matischen und stilistischen Zusam­men­hänge werden – manchmal artistisch – be­nutzt, um einen fortlaufenden Text zu schreiben, der von Lai­en und Fachleuten glei­chermaßen zum Nachschlagen wie zur Bett­lektüre verwendet werden kann.

Christoph Strosetzki: Kleine Geschichte der la­teinamerikanischen Literatur im 20.Jahrhundert, Beck’sche Reihe, München 1994, 360 S., 24.- DM.

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