Literatur | Nummer 435/436 - Sept./Okt. 2010

Eine Welt für sich

Das Lieblingsgenre der argentinischen Literatur ist die Erzählung

Die Neuerscheinungen des diesjährigen Gastlandes der Frankfurter Buchmesse sind überwiegend Romane. Aber einige Erzählbände sind auch dabei und zeugen von einer ungebrochen lebendigen Tradition. Besonders zwei Anthologien, in denen jede Autorin und jeder Autor nur mit einem Text vertreten ist, machen klar, dass wir nur die Spitze des Eisbergs sehen können.

Valentin Schönherr

Außerhalb Argentiniens sind Erzählungen die Stiefkinder der Literatur. Gerade ihre Kürze macht es Publikum und Verlagen schwer: Sie sind nur schlecht zu bewerben, ungeeignet für die Mund-zu-Mund-Propaganda, und auch das Lesevergnügen selbst ist ein anderes, herberes, lässt sich doch in einen Erzählungsband viel schlechter eintauchen als in einen schön dicken Roman. Verlagsprogramme, Bestseller- und Preisträgerlisten legen eindrücklich dar, wie schwer es jemand hat, der keine Romane schreibt, sondern Erzählungen.
In der argentinischen Literatur ist das anders. Die Erzählung scheint sogar das argentinische Lieblingsformat zu sein – hat doch praktisch jede Autorin und jeder Autor Erzählungen geschrieben. Sie werden verlegt und gelesen, und nicht selten gelten die jeweiligen Erzählungen als die Höhepunkte eines Lebenswerks: siehe Jorge Luis Borges, siehe Adolfo Bioy Casares und Julio Cortázar. Borges und Bioy Casares, Roberto Arlt, Leopoldo Lugones und Horacio Quiroga (ein Uruguayer, der aber lange in Argentinien lebte) haben bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Maßstäbe gesetzt und wunderbare sozialkritische oder phantastische Natur- oder Kriminalerzählungen geschrieben und ihr Spiel mit fiktiver Literatur sowie philosophischen Ideen getrieben. Nahezu uneingeschränkt lohnt sich die Lektüre auch heute noch.
Asado verbal, eine Anthologie, die Autorinnen und Autoren unter vierzig versammelt, ist stilistisch und formell der vielfältigste Band von allen. Hier sind neben Romanauszügen von bereits bekannteren Namen wie Lucía Puenzo oder Ariel Magnus auch Erzählungen enthalten, die bisher nur im Internet zu lesen waren oder direkt für diese Anthologie geschrieben wurden. Es ragen besonders „Das Fest“ von Julia Coria und „Siesta“ von Romina Paula heraus, die mit großer Eindringlichkeit die Erlebnisse von Mädchen in der Pubertät ansprechen. In „Das Fest“ feiert Norma ihren fünfzehnten Geburtstag. Da ihr Freund Andrés bei den Eltern nicht gern gesehen ist, hat er mit Norma ausgemacht, dass er sie dramatisch von dem Fest weg entführt. Als dann eine Gruppe Vermummter auftaucht und Unfug anrichtet, weiß Norma nicht, ob dahinter Andrés steckt oder nicht. Ihr Schwanken zwischen Begeisterung und Entsetzen wird ganz unmittelbar greifbar. Hier zeigt sich ein Erzähltalent ebenso wie in den äußerst zarten, brüsk aufgelösten homoerotischen Phantasien der Erzählerin in „Siesta“.
Die stärkeren Texte finden sich übrigens eher im zweiten Teil dieser Anthologie. Der erste Text etwa, das „Correntiner Schauerstück“ von Mariana Enríquez, hat zwar eine interessante Idee zu bieten – als Gustavos Mutter 30 Jahre nach ihrem Tod auf dem Friedhof umgebettet werden soll, stellt man fest, dass sie unverwest ist: ein Sinnbild für Gustavos Kampf mit den Erinnerungen –, sprachlich überzeugt er hingegen überhaupt nicht.
Die zweite Anthologie Die Nacht des Kometen enthält ausschließlich Texte von Frauen. Auch wer nicht der Überzeugung ist, dass Frauen prinzipiell anders schreiben als Männer, wird diese Eingrenzung sinnvoll finden. Denn bis weit in die 1970er Jahre hinein gab es kaum argentinische Autorinnen, die erfolgreich schrieben, und sie wurden praktisch nicht übersetzt. Zwei von ihnen, Angélica Gorodischer und Liliana Heker, sind hier mit exzellenten Texten vertreten. Gorodischers „Die römischen Katzen“ ist ein phantastisches Verwirrspiel im Alten Rom, bei dem zwar Cäsar Gallien nicht erobert hat, aber dafür die Elektrizität bereits erfunden und der Weg nach Transmare, Amerika, befahren worden ist. Hekers „Nacht des Kometen“ erzählt von den Hoffnungen und Enttäuschungen ganz gewöhnlicher Menschen, die mit großem Aufwand auf den (wohl Halleyschen) Kometen warten und dann doch nichts zu sehen bekommen.
Aber auch jüngere Generationen von Autorinnen – die mittlerweile einen wesentlichen Anteil der argentinischen Literatur ausmachen – lernt man hier kennen. Zum Beispiel Alejandra Laurencich, Selva Almada, Ángela Pradelli oder Cecilia Pavón. Die mitreißendste Erzählung ist „Die heitere Zivilisation der Hauptstadt“ von Samanta Schweblin. Darin rollt sie das uralte argentinische Identitätsproblem, den Konflikt zwischen Buenos Aires und der Provinz, auf leicht gruselige, sehr unterhaltsame Weise neu auf. Ein Mann in der Provinz hindert durch ein spezielles Signal einen Zug am Anhalten. Einen Mann, der abreisen will, nötigt er so in eine Art Zwangslager, in dem ihm nur noch die Sehnsucht nach der „heiteren Zivilisation der Hauptstadt“ bleibt – und am Ende die glückliche Rebellion.
Von Samanta Schweblin ist in diesem Jahr unter dem Titel Die Wahrheit über die Zukunft ein eigenständiger Erzählband erschienen. Die Texte stehen zumeist in der Tradition der phantastischen Literatur. Sie spielen in der argentinischen Gegenwart, mal in der Provinz, mal in Buenos Aires, und behandeln Zwischenmenschliches, Paar- oder Eltern-Kind-Beziehungen. Ein Erwachsener wird wieder zum Kind, eine Schwangerschaft verläuft verkehrt herum – nie sind diese Texte merkwürdig nur um der Unterhaltung willen, sondern immer liegt ihnen eine klare Handlung mit einer bewegenden Idee zugrunde. Hier ist mit der Erzählung „Die Raserei der Pest“ ausgerechnet der Text am beeindruckendsten, in dem Schweblin sich am klarsten eines sozialen Themas angenommen hat. Ein Beamter, der in entlegenen Provinzdörfern die Bevölkerung zählt, kommt in ein Dorf, in dem alles ausgestorben zu sein scheint. Dann sieht er doch Menschen, aber sie rühren sich nicht. Ein Dorf von Toten? Nein, die Menschen leben. Nun gibt er – wie üblich, denn die Provinz ist verarmt – einem Jungen etwas zu essen. Als die DorfbewohnerInnen das mitbekommen, strömen sie alle herbei. Sie erinnern sich daran, dass sie einmal Hunger gelitten haben – und diese Erinnerung bricht aus mit der Titel gebenden Raserei der Pest. Was für eine grandiose Idee: eine nur noch schweigend dahindämmernde Dorfgemeinschaft, die so sehr in ihrem Leiden versunken ist, dass sie sogar den Hunger schon vergessen hat.
Eduardo Sacheris Fußballgeschichten können auf diesem Niveau nicht mithalten. Zwar ist es erstaunlich, wie viele verschiedene Facetten Sacheri dem Phänomen Fußball abgewinnen kann – vom Kinderkick bis zum Superstar ist alles dabei. Und als Sportreporter wäre er großartig. Davon abgesehen ist jedoch der Alltagsjargon seiner Figuren von einer schwer erträglichen Possierlichkeit, und die Geschichten sind mit völlig überkonstruierten Pointen ausgestattet. Regelrecht dumpfbackig ist seine Huldigung an Diego Maradona, dem er wegen seiner beiden WM-Tore gegen England 1986 alles zu verzeihen bereit ist. Wobei Sacheri genau besehen nur das eine Tor, den berühmten Solo-Lauf, anspricht – vom Hand-Tor hingegen kein Wort. Dass der Verlag sich für den (nicht originalen) Titel Die Hand Gottes entschieden hat, geht einige Schritte am Buch vorbei und kommt dem Massengeschmack zu weit entgegen.
Das Können von Elsa Osorio ist dem deutschsprachigen Lesepublikum seit Mein Name ist Luz gut bekannt. In ihrem neuen Erzählungsband Sackgasse mit Ausgang stellt sie erneut unter Beweis, wie exzellent sie eine Geschichte aufbauen, wie sie für Spannung und Mitgefühl sorgen kann. Die meisten der Erzählungen handeln von der argentinischen Militärdiktatur und ihren Folgen. Die wenigen Texte, die sich nicht (oder nicht klar erkennbar) um die Diktatur drehen, sind deutlich schwächer. Hier liegt allerdings zugleich ein Problem: Es scheint fast, als benötige – oder gar, als benutze – Osorio das Leiden, die Trauer, den Kampf ihrer Figuren, um uns zu packen. Und so manchem Konflikt weicht sie dabei aus. Eine Geschichte zum Beispiel geht so: Drei junge Leute brauchen Geld und entführen ein Kind von Reichen. Zwei finden das in Ordnung, schließlich entführen die Reichen, sprich die Militärs, ja auch die linken AktivistInnen, und Geld haben sie ohnehin genug. Die Dritte im Bunde bekommt Skrupel, freundet sich zudem mit dem Kind an und bringt es schließlich ohne Lösegeld zu seinen Eltern zurück. Das klingt nach selbstkritischer Reflexion über die Schattenseiten der Linken in jenen Jahren. Viel spannender wäre jedoch gewesen, wenn es eine Entführung aus politischen, nicht finanziellen Motiven gewesen und sie vielleicht nicht so hübsch ausgegangen wäre.
Überhaupt, die Schlüsse. Sackgassen, siehe Buchtitel, haben ja bekanntlich gerade keinen Ausgang. Die Geschichten bei Osorio gehen aber so wunderbar auf wie Abenteuerfilme für Kinder – was man gern mal liest, was aber in der Wirklichkeit recht selten vorkommt.
Bei Félix Bruzzone braucht man derlei nicht zu befürchten. Auch seine Erzählungen handeln von der Diktatur – indirekt. Bruzzone, Jahrgang 1976, ist eines jener „Diktaturkinder“, deren Eltern verschwunden sind. Die Erfahrungen seiner Generation fließen in die Erzählungen ein und gehen durchwegs nicht so glücklich aus, wie das bei Osorio der Fall ist. Bruzzone erzählt davon, wie junge Erwachsene heute nach Informationen über den Verbleib ihrer Eltern suchen, wie sie dabei einen Schritt vorankommen oder scheitern, wie sie in Netzwerken wie der Organisation H.I.J.O.S. eingebunden sind und ihnen trotzdem nicht zu helfen ist. Oder einfach nur, wie ein Kind ohne Mutter irgendwie anders, ernsthafter ist als seine Kumpanen und mühsam lernt, sich gegen deren Gemeinheiten zu schützen.
Ob die Suche nach der Wahrheit wirklich nützt, bleibt in vielen der Geschichten durchaus offen. Zum Beispiel in „Unimog“. Da erhält ein Mann von der Regierung eine Abfindung für das gewaltsame Verschwindenlassen seines Vaters. Er kauft sich davon einen Unimog-Militärlaster, weil das das letzte Auto war, mit dem sein Vater gefahren ist, bevor er geschnappt wurde. Das Auto hat tatsächlich ein Einschussloch, aber von Details wie diesen lässt sich Bruzzone glücklicherweise nicht dazu verleiten, auf den Zufall zuzusteuern, dass das tatsächlich das Auto ist, das der Vater fuhr. Vielmehr geht, als der Mann nun zum Schauplatz jener alten Ereignisse fahren will, alles schief – der Laster gibt den Geist auf, das Geld ist futsch, der Mann fährt wieder nach Hause und ist irgendwie erleichtert. Spannend ist das, voller unerwarteter Wendungen und über den ganzen Band hinweg exzellent geschrieben, mit der Fähigkeit, viele verschiedene Konstellationen glaubwürdig darstellen zu können.
Schließlich bietet dieser Bücherherbst noch zwei Erzählbände von Autoren, die ihren festen Platz im Literaturhimmel längst erobert haben. Rodolfo Walsh, bekannt durch das soeben in neuer Übersetzung erschienene Operación Masacre, jetzt unter dem Titel Das Massaker von San Martín veröffentlicht, das eine ganz neue Form investigativer Literatur erfand, ist auch Autor zahlreicher Erzählungen. Einige von ihnen sind Kriminalgeschichten in der Tradition jenes Don Isidro Parodi, des zeitkritischen Ermittlers, den Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares in den 1940er Jahren gemeinsam erschufen. Bei ihnen wie bei Walsh finden sich strenge, knappe Texte, die ihren Reiz, ihre Schönheit gerade daraus beziehen, dass sie alles Beiwerk aussparen. Hauptfiguren bei Walsh sind ein gewisser, dem Autor ähnelnder Daniel Hernández und mal ein Kommissar Laurenzi, dessen Ausführungen von Hernández protokolliert werden, mal ein Kommissar Jiménez, dem Hernández als schlauer Gegenpart, als besserer Ermittler zur Seite steht. Zusammen überlegen sie, was wohl passiert, wenn man das antike Problem vom Mann, der Wolf, Ziege und Kohlkopf über den Fluss bringen muss, auf Menschen überträgt – wenn man aber nicht weiß, wer wen fressen wird. Sie entschlüsseln einen Mord, der auf einem Psychodrama per Fernschach beruht oder überführen den Mörder anhand eines winzigen Farbflecks auf einem Ball. Verrückte Geschichten, Novellen fast, faszinierend.
Übersetzt hat sie übrigens ein universitäres Team, dem man zu dieser geschlossenen, präzis aufeinander abgestimmten Gemeinschaftsleistung nur gratulieren kann. Ein Glücksfall, dass es diese in den 1960er Jahren geschriebenen Erzählungen doch noch auf den deutschen Buchmarkt geschafft haben.
Um die Bekanntheit von Ricardo Piglia muss man zum Glück nicht fürchten. Aber einen Erzählband herauszubringen, dessen Texte überwiegend ebenfalls aus den 1960er Jahren stammen, ist auch bei ihm keine Selbstverständlichkeit. Piglia erzählt gern von kleinen Leuten, die üblicherweise verlieren. Von einem Goldschmied zum Beispiel, der seine Tochter nicht sehen darf, oder von einem Boxer, der zwar unermüdlich an sich glaubt, aber keine Kämpfe gewinnt. Menschen, die einem mit ihrer Melancholie nahe rücken, auch wenn man sie am liebsten rütteln möchte. Dann gibt es da aber noch kleine Wendungen. Der Goldschmied setzt alles aufs Spiel, um seine Tochter einfach nachts aus dem Haus ihrer Mutter mitzunehmen (er wird dann ja anrufen). Und der Boxer hat immerhin einen abgegriffenen Zeitungsartikel in der Tasche, in dem vom Kampf seines Lebens erzählt wird, als er nämlich einem Großmeister zumindest hat Paroli bieten können.
Mit Piglias letzter Erzählung schließt sich ein Kreis. Sie handelt von einem unnahbaren Richter in der Provinz Misiones, der nach und nach dem Reiz eines Mädchens verfällt. Sie handelt aber auch von einer bedeutsamen Nebenfigur namens Quiroga, ganz wie der uruguayische Erzähler, der eben diese Provinz zu einem Schauplatz der Weltliteratur gemacht hat. Erzählungen aus Argentinien, das wird in diesem argentinischen Bücherherbst deutlich, sind kein nebensächliches Genre, sondern eine Welt für sich, die begeistern kann, auch wenn man immer nach ein paar Seiten wieder auftauchen muss.

Rike Bolte & Timo Berger (Hg.) // Asado verbal. Junge argentinische Literatur // Verlag Klaus Wagenbach // Berlin 2010 // 244 Seiten // 9,90 Euro // www.wagenbach.de
Félix Bruzzone 76. // Aus dem Spanischen von Markus Jakob // Berenberg Verlag // Berlin 2010 // 160 Seiten // 19 Euro // www.berenberg-verlag.de
Marion Dick (Hg.) // Die Nacht des Kometen. Argentinische Autorinnen der Gegenwart // edition 8 // Zürich 2010 // 160 Seiten // 17,20 Euro // www.edition8.ch
Elsa Osorio // Sackgasse mit Ausgang // Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold // Suhrkamp Verlag // Berlin 2010 // 151 Seiten // 9,90 Euro // www.suhrkamp.de
Ricardo Piglia // Der Goldschmied // Aus dem Spanischen von Carsten Regling und Sabine Giersberg // Verlag Klaus Wagenbach // Berlin 2010 // 144 Seiten // 15,90 Euro // www.wagenbach.de
Eduardo Sacheri // Die Hand Gottes und andere Tangos. Fußballgeschichten // Aus dem Spanischen von Matthias Strobel // Berlin Verlag // Berlin 2010 // 192 Seiten // 19,90 Euro // www.berlinverlag.de
Samanta Schweblin // Die Wahrheit über die Zukunft // Aus dem Spanischen von Angelica Ammar // Suhrkamp Verlag // Berlin 2010 // 130 Seiten // 19,80 Euro // www.suhrkamp.de
Rodolfo Walsh // Die Augen des Verräters. Kriminalerzählungen // Übersetzt von der Gruppe Transports // Rotpunktverlag // Zürich 2010 // 220 Seiten // 18 Euro // www.rotpunktverlag.ch

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