Argentinien | Nummer 468 - Juni 2013

„Er war ein schlechter Mensch“

Ein Nachruf auf den ehemaligen argentinischen Militärdiktator Jorge Rafael Videla (1925-2013), der in der Haft verstarb

Als „schlechten Menschen“ qualifizierte Estela Carlotto, Präsidentin der Großmütter von der Plaza de Mayo, Jorge Videla, als sie von seinem Tod erfuhr. Diesem Urteil schließt sich Wolfgang Kaleck, Rechtsanwalt der Koalition gegen Straflosigkeit am European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), an.

Wolfgang Kaleck

Ein recht betagter Massenmörder stirbt während der Verbüßung einer Haftstrafe an Altersschwäche in einem Gefängnis in Buenos Aires. So what? – möchte man fragen. Der ehemalige Militärdiktator Jorge Rafael Videla verschied am 17. Mai 2013 im Alter von 87 Jahren in der Haftanstalt von Marcos Paz. Auch nach seinem Tod vermag diese Person außer höchster Verachtung kaum menschliche Gefühle bei mir zu wecken.
Das Ereignis seines Todes hingegen hat uns, die wir uns seit langem mit der diktatorischen Vergangenheit Argentiniens beschäftigen, bewegt. Er war nach dem Tod von Emilio Massera und Orlando Agosti das letzte lebende Mitglied der Militärjunta, die am 24. März 1976 die Macht ergriff und auf unvorstellbar brutale Weise ausübte. Doch nie war er als Person so bekannt und verhasst wie sein chilenischer Verbrecherkollege Augusto Pinochet, dessen hässliches Gesicht weltweit für die Epoche der Militärdiktaturen im Süden Amerikas stand. Pinochet stürzte den Präsidenten Salvador Allende, die Hoffnung der demokratischen Sozialisten auf der ganzen Welt; der erste Militärputsch in der Geschichte Chiles und die unmittelbar einsetzende Repression, die Verhaftung von Regimegegner_innen, die Bilder von den Straßen Santiagos und aus dem Nationalstadion fanden weltweite Aufmerksamkeit. Auch als es dann viele Jahre später möglich wurde, die Diktatoren vor Gericht zu stellen, wurde Pinochet das Symbol dafür – dieses Mal ein Symbol für den menschenrechtlichen Aufbruch – als er am 16. Oktober 1998 in London verhaftet wurde. Beim Tode Pinochets wurde dann allerdings kritisch von vielen Medien vermerkt, dass er nie für seine Verbrechen verurteilt worden war.
Das war entschieden anders bei Videla: Zwar waren die Verbrechen seiner Junta in der Welt weniger bekannt, doch relativ bald nach der 1983 erfolgten Wahl von Raúl Alfonsín zum Präsidenten veröffentlichte die CONADEP-Wahrheitskommission unter Leitung des Schriftsellers Ernesto Sabado ihren Bericht „Nie Wieder“ (Nunca Más). Die argentinischen Militärs hatten ein das ganze Land abdeckendes System geheimer Haft- und Folterlager installiert und ließen 30.000 Menschen verschwinden. Vor einem zivilen Bundesgericht in Buenos Aires fand ein Strafprozess gegen neun ehemalige Mitglieder der Militärjunta statt, unter ihnen Videla. Am 5. Dezember 1985 wurden Videla und Massera zu lebenslanger Haft verurteilt, das Oberste Gericht Argentiniens bestätigte diese Strafe am 30. Dezember 1986. Wenig später begann aufgrund des massiven Drucks der nach wie vor starken Militärs die Zeit der Straflosigkeit der Diktaturverbrechen mit den beiden Gesetzen zum „Schlusspunkt“ (24. Dezember 1986) und über den „erzwungenen Gehorsam“ (8. Juni 1987). 1990 begnadigte Präsident Carlos Menem Videla und die anderen verurteilten Militärs. Der Junta-Prozess und sein Nachspiel wurde zum Teil heftig kritisiert. So bezeichnete der Strafrechtsprofessor Marcelo Sancinetti ihn als „Vortäuschung einer effektiven Strafverfolgung“ und reklamierte, dass die Regierung Alfonsín keine allgemeine Verantwortung der Streitkräfte für die Menschenrechtsverletzungen feststellen, sondern lediglich einer Gruppe von Männern die gesamte Schuld zuschieben wollte.
Doch es blieb nicht bei diesem gescheiterten Versuch der gerichtlichen Aufarbeitung der Verbrechen Videlas und seiner Waffenbrüder. Die Madres de Plaza de Mayo und andere Angehörigen-Gruppen skandalisierten über zwei Jahrzehnte die fehlende Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen und gingen auch juristisch gegen das Ausbleiben einer umfassenden Sanktionierung der Verbrechen der Militärs vor. So nutzten die Opfer und ihre Anwälte eine rechtliche Lücke in den Amnestiegesetzen und Videla wurde 1998 vorübergehend erneut inhaftiert und später unter Hausarrest gestellt – wegen des systematischen Raubes von Kindern von Oppositionellen während der Diktatur. Zur gleichen Zeit strengten Familienangehörige und Überlebende der Folterhaft zahlreiche Strafanzeigen in Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland an, um von Europa aus die Straflosigkeit zu bekämpfen.
In Deutschland fand sich 1998 ein Netzwerk von Menschenrechtsorganisationen, unter anderem das FDCL, unter dem Namen „Koalition gegen Straflosigkeit. Wahrheit und Gerechtigkeit für die deutschen Verschwundenen“ zusammen und betrieb – erstmalig im Bundesgebiet – Strafverfahren gegen knapp 90 ehemalige argentinische Militärs. In den beiden bekanntesten Fällen der ermordeten deutschen Staatsbürger Elisabeth Käsemann und Klaus Zieschank ergingen zunächst Haftbefehle des Amtsgericht Nürnberg wegen Mordes in mittelbarer Täterschaft kraft Organisationsherrschaft – einer juristischen Kategorie, die es ermöglichte das strafrechtliche Unrecht nicht nur den unmittelbaren Tätern, sondern den höchsten Verantwortlichen des Unrechtssystems zuzurechnen. Die Bundesregierung beantragte 2004 offiziell die Auslieferung Videlas und Masseras für die Morde. Auch wenn die Auslieferung in letzter Instanz von den Gerichten Argentiniens abgelehnt wurde, trug der von Europa erzeugte Druck neben den unaufhörlichen Bemühungen der argentinischen Menschenrechtsbewegung maßgeblich dazu bei, dass unter Präsident Nestor Kirchner die Straflosigkeitsgesetze aufgehoben wurden. Damit wurde ab 2005/2006 der Weg frei für eine Welle von hunderten Strafverfahren gegen die Hauptverantwortlichen der Militärdiktaturen.
Jorge Rafael Videla musste deswegen seine letzten Lebensjahre als Angeklagter vor Gericht, meistens unter Hausarrest und zuletzt in Haft verbringen. Das Großverfahren wegen systematischen Kindesraubes endete im Juli 2012 mit einer Verurteilung zu fünfzig Jahren Haft durch das Bundesgericht in Buenos Aires – sicherlich bei allen Verdiensten ein großes Manko der argentinischen Justiz, dass es so lange gedauert hat, bis das Urteil erging.
Zuletzt stand Videla in einem weiteren Großverfahren wegen der im Rahmen der Operation Condor verübten Straftaten vor Gericht. Nicht nur in diesem Prozess bedauerten es die Nebenkläger_innen und ihre Anwälte, dass der Angeklagte verstarb, bevor es zu einem endgültigen Urteil kommen konnte. Auch die Familie Käsemann ist durch den Tod Videlas betroffen, hatte sie sich doch als Nebenklägerin in einem Prozess wegen der Ermordung von Elisabeth Käsemann gemeldet und war vom Gericht zugelassen worden. Doch kam es bis jetzt zu keiner mündlichen Verhandlung.
Videla selbst hatte sich bis zum Schluss als politischen Gefangenen gesehen und vollkommen uneinsichtig gezeigt. In mehreren Erklärungen vor Gericht und in Interviews rechtfertigte er die Verbrechen unter seiner Herrschaft. Der Kampf gegen die Subversion habe die Beseitigung auch einer großen Anzahl von Menschen notwendig gemacht. Wusste er sich in den ersten Monaten seiner Junta noch einig mit vielen westlichen Regierungen, denen die antikommunistische Ideologie des kalten Krieges und die Bekämpfung sozialrevolutionärer, aber auch demokratisch-sozialistischer Bewegungen über die Bewahrung von Demokratie und Menschenrechten ging, hatte er zuletzt keine Unterstützung mehr erfahren. Zu seinem Tode erschienen allenfalls persönliche Anzeigen, politische Rechtfertigungen der massiven Menschenrechtsverletzungen waren jedoch in einer breiteren Öffentlichkeit nicht zu vernehmen.
Dies ist auch ein kleiner Erfolg der zahlreichen juristischen Verfahren. Durch die Berichterstattung über die Prozesse wurde das Thema auf der Tagesordnung gehalten, natürlich auch weil die Regierungen Kirchner sich politischen Rückenwind davon versprachen. Wichtige Sektoren der argentinischen Gesellschaft wie Schriftsteller, Künstler und Filmemacher, Teile der Universitäten und Gewerkschaften griffen die in den Gerichten produzierten Fakten auf und verarbeiteten sie – ein bis heute andauernder Prozess. Schon seit Jahren diskutieren Autor_innen und Menschenrechtsorganisationen die Schuld aller beziehungsweise großer Teile der argentinischen Gesellschaft. Nicht mehr von der Militärdiktatur, sondern von der zivil-militärischen Diktatur wird gesprochen, um die – auch strafrechtliche – Verantwortung von zivilen Akteuren wie Beamt_innen und Justizangehörigen und weiter Bereiche der Wirtschaft zu betonen. Wichtige Strafverfahren gegen Manager_innen des argentinischen Agro-Unternehmens Ledesma und die Eigner_innen der Minas Aguilar in der Nordprovinz Jujuy wurden eröffnet; im März 2013 mussten frühere Manager_innen von Ford vor Gericht erscheinen. Währenddessen hoffen die Angehörigen der 16 verschwundene Gewerkschafter_innen bei Mercedes Benz in der Provinz Buenos Aires auf einen positiven Ausgang ihrer Entschädigungsklagen vor einem kalifornischen Gericht. Videla und die Seinen haben der revolutionären wie der reformistischen Linken in Argentinien eine fürchterliche Niederlage zugefügt, das Leben tausender Menschen zerstört und die politische und soziale Basis für das lange herrschende neoliberale Modell geschaffen. Doch ihr Vorhaben, die Linke nicht nur physisch zu vernichten, sondern die Erinnerung an die Verschwundenen und ihre politischen Projekte wenn möglich für Generationen auszulöschen, ist nicht geglückt. Die groß angelegte Aufarbeitung der Vergangenheit in und außerhalb von Gerichten hat die argentinische Gesellschaft immunisiert gegen repressive Regimes – eine zivilisatorische Errungenschaft, um die in Guatemala, Honduras und Kolumbien bis heute meist erfolglos gerungen wird.

European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) – www.ecchr.eu

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