Feines Dadapulver
Eine Reise in das ganz spezielle Universum des argentinischen Spielfilms „Picado Fino“
Der 18jährige introvertierte Tomás (Facundo Luengo) lebt mit seiner jüdischen Familie in einem industriellen Vorort von Villa Linch und fristet dort eines beklemmenden Daseins der ungelebten Möglichkeiten. Er ist so etwas wie ein moderner, schlafloser Melancholiker, der durch den Mikrokosmos der Vorstadt irrt und dessen großer Traum es ist, irgendwann in den Norden zu gehen.
Dort, glaubt er, könne etwas wirklich Neues in sein Leben einbrechen, das die bisherige Leere füllen würde: „Ich weiß, dort wird es einen Platz für mich geben.“ Seine schwangere Freundin Ana (Belen Blanco) will dagegen ein Glück zu dritt im Hier und Jetzt und entgegnet ihm: „Du mußt aufwachen, das Leben ist kein Traum.“
Fragmentierte Welt des Rausches
Doch für Tomás sind Traum und Wirklichkeit untrennbar verbunden – wie im „Ulysses“ von James Joyce, den er schon zum Frühstück verschlingt, überlagern sich bei ihm die verschiedenen Bewußtseinsebenen. Seine Sehnsucht nach dem Norden scheint schließlich in Erfüllung zu gehen, als er sich in Alma (Marcela Guerty) verliebt, die ihn mit dem Kokaindealer Merkin zusammenbringt.
Mit einem Budget von gerade einmal 23.000 US-Dollar drehte der 29jährige Kameramann und Regisseur Esteban Sapir den experimentellen und nicht ganz einfach zugänglichen, aber um so eindringlicheren Film „Picado Fino“ („Feines Pulver“). Nicht nur die Hauptfigur Tomás, sondern auch der Zuschauer durchlebt in dem Film Surrealistisches. Die zum Teil brillant eingefangenen Schwarz-weiß-Bilder sind grobkörnig bis unscharf und zeigen eine fragmentierte Welt aus Orten (Küche, Schlafzimmer, Bar), Objekten (Eier, Wecker, Telefon), Symbolen (Judenstern, Frauen- und Mannessymbol) und Schildern (zumeist leinwandfüllende Pfeile).
Zu Beginn wirkt der Film überfrachtet und sein Symbolismus ziemlich aufdringlich: da wird das Zerschlagen eines Eis mit dem gellenden Schrei eines Babys verknüpft, die schmerzhafte Entjungferung eines Mädchens durch das Einbrechen eines Daumens in den Dekkel eines Yoghurtbechers illustriert und der Orgasmus von Tomás spritzt per überschäumender Sektflasche über die Leinwand. Doch mehr und mehr verdichten sich Bildästhetik und Ton und entfalten eine sogartige, rauschhafte Wirkung. Insbesondere ist dies dem wahrhaft hypnotischen Ton des Filmes zuzuschreiben, für dessen Verarbeitung Sapir ganze zwei Jahre verwendete.
Er setzt sich zusammen aus Sequenzen monoton-technoartiger Rhythmen, einem immer wiederkehrenden Froschquaken, dem Schrillen eines Weckers, wirkungsvoll verzerrten Geräuschen sowie einem knisternden „Nichts“. All diese Töne verleihen dem Film die Qualitäten eines Fiebertraumes und hinterlassen auch noch lange nach Filmende anhaltende Spuren im Gehör.
Dadaismen und Sprachlosigkeiten
Kommunikation gibt es in „Picado Fino“ fast ausschließlich über das Telefon oder aber in jener Bar, in der sich Tomás und Ana immer wieder verabreden. Selbst dann fallen allerdings nur wenige spröde Sätze, häufig sind Worte oder Schreie trotz aller Anstrengungen des sich Äußernden zwar sicht -, aber nicht hörbar. Innen- und Außenwelt der Charaktere brechen hier auseinander. Sapir erklärte auf der Berlinale mit einem Augenzwinkern, daß er beim Dreh nur über eine Kamera verfügte, deren Motor derart laut war, daß die Schauspieler ihre eigenen Worte nicht verstehen konnten.
Also habe sich die Sprachlosigkeit förmlich aufgezwungen. Doch fielen wohl Produktionsbedingungen und Philosophie des Filmes zusammen, denn Phänomene wie Sprachzerfall und Antisprache tauchen an vielen Stellen des Filmes auf. So blendet Sapir wiederholt dadaistische Sprachfetzen wie „Bla Bla“ in die Handlung ein, und in einer etwas Verwirrung hinterlassenden Szene überschüttet Tomás mit der verzerrten Stimme Hitlers einen fußballspielenden Jungen mit haßerfüllten Worten – dieser antwortet mit einem Griff in den Schritt und langen kreisenden Handbewegungen.
Am bizarren Ende des Filmes stehen eine Sonnenfinsternis, ein Straßenreinigungswagen, der Tomás fast mit seinem Metallrüssel aufsaugt, ein Geigenkasten ohne Geige und die Geburt des Kindes von Ana und Tomás.
Für Esteban Sapir und sein Experimentieren unter mehr als dürftigen finanziellen Voraussetzungen stand am Ende der Berlinale eine lobende Erwähnung bei der Vergabe des Staudte-Preises im Internationalen Forum. Ein Zuschauer stellte dem Regisseur zuletzt die Frage, ob er sich denn seiner Experimentierlust in „normalem“ Geisteszustand hingegeben habe. Ganz so dilettantisch oder fernliegend wie es das Raunen im Publikum Glauben machen wollte, war die Frage nun wirklich nicht – Sapir wäre kaum der erste Künstler, der sich im Rausch dem Rausche stellt. Aber auch das ist nicht neu: der Künstler schwieg und kehrte damit zur filmischen Sprachlosigkeit zurück.
„Picado fino“; Regie: Esteban Sapir; Argentinien 1996; schwarz-weiß, 80 Minuten.