Argentinien | Nummer 349/350 - Juli/August 2003

Fernab der Welt und dem Himmel so nah

Natty Petrosino hilft den von der Welt vergessenen Indígenas im Norden Argentiniens, ein menschenwürdiges Leben zu führen

Sie geht dorthin, wo niemand leben will, wo es Krankheiten gibt, die längst als ausgerottet galten. Die „Mutter Theresa Argentiniens“ baut in der argentinischen Provinz Formosa Häuser und verteilt Lebensmittel. Weil sie gespendetes Geld wirklich für die ausgibt, die es brauchen, erhält sie viel Unterstützung aus dem In- und Ausland.

Stephanie Rauer de Schapiro

Zur Person
Natty Petrosino wuchs in der Hafenstadt Bahía Blanca in der argentinischen Provinz Buenos Aires als Tochter einer deutsch-weißrussischen Familie auf. „Ich war ein verwöhntes, reiches Mädchen“, sagt sie selbst. „Frivol und überheblich.“ Ihre Röcke waren die kürzesten der ganzen Stadt. „Ich dachte schon eine gute Christin zu sein, weil ich nett zu meinem Dienstmädchen war.“ Alles änderte sich schlagartig, als sie mit 28 Jahren schwer erkrankte und bei einer Operation nur knapp dem Tod entrann.
Ihre zweite Geburt sah sie als Geschenk Gottes und sie beschloss, nach dem Vorbild des heiligen Franz von Assisi ihrem materiellen Besitz zu entsagen und ihr Leben den Armen, Kranken und Schwachen zu widmen. Zuerst eröffnete sie ihr eigenes elegantes Haus in Bahía Blanca für Obdachlose, Straßenkinder, Behinderte, missbrauchte Frauen. Bis das Ehepaar selbst mit den beiden Kindern aus Platzgründen in die Garage zog. Acht Jahre lang versorgte sie hier jeden, der bei ihr Zuflucht suchte. Dann gründete sie ein Heim in einem der Elendsviertel Bahía Blancas.
Als es Mitte der Neunziger Jahre auf Grund der schlechten Wirtschaftslage zu Plünderungen kam, beschloss sie, einen Aufruf im lokalen Fernsehen zu starten: „Wer Hunger hat, der kann zu mir kommen, ich werde für euch alle kochen, aber geplündert wird in dieser Stadt nicht!“ Sie wusste nicht einmal, woher sie all die Lebensmittel bekommen sollte, als in der ersten Woche 100, in der zweiten schon 1000 hungrige Menschen kamen. Aber wie durch ein Wunder reichte es immer. Jahrelang verteilte sie täglich in einer kleinen Küche Mahlzeiten an über 7000 Menschen.
Vor ein paar Jahren übergab sie ihr Heim in Bahía Blanca der Kirche und ist seitdem pausenlos in den entlegensten Gebieten Argentiniens unterwegs, um Hilfsbedürftigen vor allem Medikamente und Lebensmittel zu bringen. Dabei legt sie oftmals allein in einem Lastwagen Tausende von Kilometern auf Erdstraßen zurück. Für ihre selbstlose Hilfe wurde sie schon mehrfach mit Auszeichnungen geehrt. Die Bevölkerung nennt sie die „Mutter Theresa Argentiniens“.
Kontakt: Susan Berna, berna@vtx.ch

Vicente hat einen Traum. Er will Fußball-Star werden. Wie Diego Armando Maradona, der Nationalheld Argentiniens. Vicente ist fünfzehn Jahre alt und hat drei Kinder. Von zwei verschiedenen Mädchen. In seinem Dorf ist das nichts Besonderes. Für sein Alter ist er viel zu klein, seinem nackten Bauch sieht man noch die Hungerjahre der Kindheit an. Nur wenn er vom Fußball spricht, wenn er zeigt, wie er dem Gegner einen unsichtbaren Ball abnehmen würde, dann hat er die Augen eines Jungen in seinem Alter.
Vicente lebt in einem Dorf in der Provinz Formosa, hoch oben im Norden Argentiniens an der Grenze zu Paraguay. Dort, wohin sich normalerweise kein Mensch verirrt, der nicht hier geboren ist. Hier leben noch einige Tausend Nachfahren des Wichi-Volkes. Ihre Gesichter sind schon früh sehr alt. Noch vor hundert Jahren ernährten sie sich als Nomaden von Fischen, Früchten und von dem, was die Natur ihnen gab. Heute überleben sie mit Koka-Blättern, die den schlimmsten Hunger zum schweigen bringen und für ein paar Momente taub machen gegen Hitze und Kälte. Der Boden ist vertrocknet, manchmal regnet es monatelang nicht.
Während ein Regierungsbeamter der unbedeutenden argentinischen Provinz Formosa durchschnittlich 10.000 Dollar im Monat verdient, muss eine Familie hier mit 15 Dollar Unterstützung auskommen. Alle paar Wochen wagt sich ein Beamter mit einem Jeep über die unbefestigten Pfade in die abgelegenen Dörfer, um den Menschen ein Bündel Geld in die Hand zu drücken. Das bunte Papier behalten sie nicht lange. Geschäftstüchtige Händler begleiten das klapprige Auto des Regierungsbeauftragten, um ihnen das Geld gegen Koka-Blätter wieder abzunehmen. Manchmal gibt es auch etwas Reis und Zucker.

Leben mit Lepra

Eine alte Frau schleppt sich nur mühsam zu den staubigen Geländewagen. Ihre langen, grauen Haare sind zerzaust und nur dürftig unter einem zerschlissenen Tuch im Zaum gehalten. Jedem, den sie vor sich vermutet, streckt sie ihren zahnlosen, verfaulten Mund zu einem Lächeln verzogen entgegen. Ihre Augen sind nur noch zwei silbern schimmernde Kugeln. Die Haut löst sich von ihrem Körper. Sie geht gekrümmt, als gebe es in ihrem Körper keinen einzigen Knochen mehr. Jeden will sie umarmen, doch nur Natty Petrosino nimmt ihre ausgestreckten Hände, die von der Lepra gezeichnet sind. Eigentlich sollte es in Argentinien laut Statistik keine Lepra mehr geben. Viele Gelder sind aus Europa an den Río de la Plata geflossen, um diese mittelalterlich anmutende Krankheit zu beseitigen. „Doch anstatt Medikamente zu kaufen, füllten sich nur die Taschen gewisser Politiker“, beschreibt Natty die Korruption in Argentinien. „Aber natürlich darf jetzt keiner mehr Lepra haben. Deswegen diagnostizieren die Ärzte das einfach nicht mehr, sondern stattdessen einen harmlosen Hautausschlag!“
Seit mehr als 30 Jahren kümmert sich die heute 65jährige Argentinierin Natty Petrosino um die Armen Argentiniens. Und die Ärmsten der Armen wohnen in Formosa. In absoluter Einsamkeit, bei 45 Grad im Schatten, Nachtfrost, zwischen riesigen Mosquitos, giftigen Schlangen und Käfern, neben Kaimanen und Piranhas in schlammigen Wasserlöchern.
Als Natty vor acht Jahren zum ersten Mal in diese Region kam, konnte sie kaum glauben, dass es in Argentinien noch solche Armut geben konnte. Die Wichis schliefen unter Plastiktüten, die sie notdürftig an Bäumen befestigt hatten. Ein paar wackelige Holzbretter boten keinen Schutz vor Wind und Sonne. Sie waren unterernährt, viele nackt. Die Kinder aßen Hundekot. Lepra und Cholera schlichen sich in ihre geschwächten Körper. Viele starben schon an einer leichten Erkältung.
In den abgelegenen Dörfern verteilt Natty Petrosino seitdem Medikamente, Nahrung und Kleidung, aber vor allem Liebe für die von der Welt vergessenen Menschen. Um von den Wichis akzeptiert zu werden, schlief sie wochenlang selbst bei Wind und Wetter unter freiem Himmel auf dem nackten Boden.
Vicente blickt müde auf den Boden, malt mit seinen vom ewigen Schmutz gezeichneten Füßen Kringel in den Staub, lehnt sich mit seinen dürren Händen an den weiß getünchten Bretterzaun. Der Junge ist einer der wenigen im Dorf, der ein verständliches Spanisch spricht. Er träumt von der großen Stadt, von Buenos Aires, das aus dieser Entfernung den Glanz eines Schlaraffenlandes annimmt: Riesige Häuser, bunte Autos, Lichter und Menschen, die mit Aktenkoffern geschäftig durch die Straßen eilen. Es ist eine Stadt, die ihm viel verspricht und ihm den Platz in den Elendsvierteln schon bereithält.
Er weiß nichts von den Werbeplakaten in der so genannten Ersten Welt, auf denen kleine Mädchen mit großen Augen und Hungerbäuchen um ein wenig Mitleid betteln. Er weiß nicht, dass das Geschäft mit dem Mitleid auch ein lohnendes Geschäft sein kann, das viele argentinische Politiker reich gemacht hat.
Seine Haut ist verbrannt von der Sonne und durch die Kälte erfroren. Stürme wirbeln den Staub auf, der sich wie Nadelstiche in die Haut bohrt, der jede Regung unmöglich macht und die Augen erblinden lässt. Es ist, als ob die Zeit hier keine Zukunft hätte.
Doch der Lastwagen Nattys mit der Aufschrift „Los del camino“ schaffte, was weder Regierung noch Hilfsorganisationen geschafft haben. Er karrte über Tausende von Kilometern Lebensmittel und Baumaterial heran. Alles Spenden aus der argentinischen Bevölkerung. Mit nahezu unerschöpflicher Energie baute Natty den Wichis eigenhändig in den verschiedenen Dörfern Häuser, Krankenstationen und Schulen.
In La Batería wird gerade eine neue Schule eingeweiht. Rot getüncht ragt sie aus den umliegenden Holzverschlägen hervor. Der Fußboden ist blank gefegt, die Schulbänke frisch gestrichen. Rund um den Zaun stehen die DorfbewohnerInnen von La Batería und beobachten neugierig die Werkenden. Stumm und mit ernsten Augen verfolgen sie jeden Fußtritt Nattys. Kleine Mädchen halten Babys auf dem Arm und tragen ein weiteres im Bauch. „Die Kinder werden schnell erwachsen“, erzählt Natty. Die Mädchen werden mit zehn oder elf Jahren zum ersten Mal schwanger. Vom Nachbarn, vom Bruder, vom eigenen Vater. 2000 Kilometer von der Hauptstadt Buenos Aires entfernt gelten andere Gesetze.

Hilfe aus der Schweiz

Fernab jeglicher Zivilisation stehen die kleinen Mädchen und Jungen in ihren neuen blütenweißen Hemden, der argentinischen Schuluniform, bereit für den ersten Schultag, an dem sie nicht auf sandigem Boden kauern müssen. Immer wieder blicken sie erstaunt und fasziniert an sich herunter, berühren den duftenden, gestärkten Stoff. Zur Feier des Tages bekommen auch die anderen DorfbewohnerInnen neue Kleider, Spenden aus Buenos Aires. Damit sie nicht das Gefühl haben, abgetragene Sachen zu bekommen, bauen Nattys HelferInnen eine regelrechte Boutique auf. Sie legen die Pullover und Hosen liebevoll auf umgestülpten Pappkartons aus und beraten die ‘Kunden’, die dem Familiennamen nach aufgerufen werden. Die Wichis sind es nicht gewöhnt zu wählen. Bislang hat ihnen nie jemand eine Wahl gelassen. „Das gefällt Dir, oder?“ fragt Natty mit einem strahlenden Lächeln eine der jungen Frauen. Die lächelt schüchtern gen Boden. Das fasst Natty als ja auf und drückt ihr gleich einen Stapel an Pullovern und Röcken für sich und ihre Kinder in die Hand.
Susan Berna sieht müde aus. Ihr Gesicht ist mit roten Farbklecksen übersät. Die Wange ziert ein frischer Kratzer. „Das kommt noch von gestern, als wir die letzten Bänke für die Schule gestrichen haben“, sagt sie und lacht. Die Schweizerin ist eigens zur Einweihung der kleinen Schule von La Batería angereist und packt bei den letzten Handgriffen mit an. „Ich weiß genau, wenn ich Natty einen Dollar gebe, dann landet er genau hier“, sagt Susan und tippt mit dem Zeigefinger auf einen der Backsteine in der roten Schulmauer. Seit sie Natty vor fünf Jahren zum ersten Mal begegnet ist, sammelt sie Geld in der Schweiz.
Zurück im reichen Genf musste sie ihren Mann auf eine der ihr verhassten Parties begleiten. „Ich konnte mit all diesen Oberflächlichkeiten einfach nichts mehr anfangen“, sagt sie. Ein Gast aber fragte sie, wie es ihr in Argentinien ergangen sei und sie erzählte ihm von Natty, den kleinen Dörfern in Formosa und von der Armut. „Spontan stellte mir der Mann einen Scheck über 5000 US-Dollar aus!“ Seitdem schickt sie unermüdlich Berichte an Freunde und Bekannte und hat dabei schon über 70.000 US-Dollar zusammen bekommen. „Nachdem man erst einmal gesehen hat, was Natty leistet, kann man einfach gar nicht anders als ihr zu helfen.“
Am Nachmittag kündigt schon von weitem eine riesige Staubwolke den Besuch des Bildungsministers der Provinz Formosa an. Er gesteht: „Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich in diese entlegene Region komme.“ Im Gepäck haben er und seine Begleiter das übliche Geschenk der Regierung: Einen Fernseher und ein Stromaggregat. Verbindung mit einer Welt, die für die Wichi-Kinder unerreichbar weit entfernt zu sein scheint, mit Werbung für Zahncreme und Diätjoghurt. Das Benzin für das Aggregat soll der Lehrer künftig von seinem kargen Gehalt bezahlen. In der Bibliothek der Schule, einem verbeulten Metallschrank, stehen gerade mal eine Handvoll Bücher.
Der Bildungsminister merkt schnell, dass das Werk dieser Einzelkämpferin etwas Besonderes ist, dass sie nicht der ausdrücklichen Erlaubnis des Staates bedarf, um zu helfen. Natty hatte die Schule trotz des Verbots der Provinzregierung errichtet: „Hätte ich auf die Erlaubnis gewartet, wären Jahre vergangen. Bis dahin hätte ich die Schule ein Dutzend Mal gebaut!“ Jetzt stehen die Menschen, die der spanischen Sprache kaum mächtig sind, vor dem roten Gebäude und singen die argentinische Nationalhymne.
„Fernab von allem und doch dem Himmel so nah“, sagt der Minister, nachdem er den Zettel mit seiner eigentlichen Rede ganz schnell in der Hosentasche verschwinden lässt.

Das erste Eigentum

Noch ist die Schule das einzige Gebäude von La Batería. Die BewohnerInnen leben weiter in ihren ärmlichen Bretterbehausungen. Bislang fehlt das Geld für den Weiterbau. Im benachbarten Ort Devisadero, zwei Stunden von La Batería entfernt, ist bereits zu sehen, wie kleine Schritte einen großen Unterschied machen können. Keiner von außerhalb habe in Devisadero wohnen wollen, erzählt der Dorflehrer Matteo Leguizamón. Alles sei verdreckt gewesen und die EinwohnerInnen bewarfen Fremde mit Steinen. Mit Natty wurde alles anders. Heute wohnen fast alle der 220 Menschen in Devisadero in ihren eigenen Steinhäusern. Unter Anleitung der Gruppe Nattys beginnen sie sogar, auf dem kärglichen Boden Bohnen und Süßkartoffeln anzubauen.
Noch sieht man jedoch die kläglichen Überreste eines gescheiterten Projektes von Misereor: Ein Wasserloch, inzwischen völlig mit Steinen und Dreck verstopft. Die Wasserpumpe, die ihnen zur Verfügung gestellt worden war, haben die Wichis längst für Alkohol und Koka-Blätter verkauft.
„Man muss viel Geduld mit ihnen haben. Sie haben noch nie gearbeitet und wissen nicht, was Eigentum bedeutet“, erklärt Natty bei einem Rundgang durch das Dorf. Die Mädchen tuscheln, halten sich die faltigen Hände vor die lachenden Gesichter. Die jungen Männer bleiben stumm, aber beäugen jede Bewegung. Wer verstehen will, was sie sagen, muss in ihre Augen schauen.
Natty erzählt die Anekdote eines kleinen Jungen: „Als das Haus seiner Familie fertig war, ging er erhobenen Hauptes zur Tür, schaute noch einmal nach links und nach rechts, bevor er sie stolz hinter sich zumachte und alles andere draußen ließ. Zum ersten Mal wusste er nun, was es bedeutet, eine Tür schließen zu können!“

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