Mexiko | Nummer 358 - April 2004

Frauenmorde im Niemandsland

Neuer Anlauf in Ciudad Juárez zur Aufklärung des Femizids

Seit elf Jahren bleiben die Morde hunderter junger Frauen an der Nordgrenze Mexikos ungesühnt. Vieles spricht dafür, dass mächtige Drogenkartelle, Polizei und Politiker in die Morde verwickelt sind. Auf internationalen Druck wurden von der mexikanischen Regierung vor knapp einem halben Jahr neue Maßnahmen gestartet, um den „Femicidio“ aufzuklären.

Anne Huffschmid

Es sei vor allem das „gesteigerte internationale Interesse“ an den Frauenmorden in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez, das die Regierung zu einer „neuen Haltung“ bewegt habe, räumt die neue Sonderbeauftragte Guadalupe Morfín im Gespräch ein. Seit November letzten Jahres ist die Juristin offiziell für „die Prävention und Eliminierung der Gewalt gegen Frauen in Ciudad Juárez“ zuständig. Am guten Willen der renommierten Menschenrechtsanwältin zweifelt in Mexiko kaum jemand. Zweifelhaft scheint vielen jedoch, ob dieser ausreicht, um die Mörder der 375 Frauen, deren Leichen seit 1993 im Umland von Juárez gefunden wurden, auch wirklich dingfest zu machen.

Das Gesicht des Schreckens
„Die Gute hat ja nichts als ihr Flugticket in der Hand“, kommentierte etwa der Anwalt Sergio Dante Almarez die Ernennung. Tatsächlich verfügt Guadalupe Morfín bislang über kein festes Budget, kein eigenes Büro und hat für ihre Arbeit gerade mal ein Team von 18 Mitarbeitern zur Verfügung. Bislang wurde ihr zudem keine Einsicht in die Ermittlungsakten der Mordfälle gewährt.
Nach einem aktuellen Bericht von amnesty international starben knapp vierhundert Mädchen und junge Frauen in der rasant wachsenden Drogenmetropole Juárez seit 1993 eines gewaltsamen Todes. Weitere vierhundert Frauen gelten derzeit noch als verschwunden. Wie viele der Frauenleichen, die im Wüstensand, auf Müllhalden oder in Abbruchhäusern gefunden wurden, zum „Femicidio“ – den durch Frauenhass motivierten Massenmord – zu zählen sind, ist umstritten.
Dem ai-Bericht zufolge erlitten 140 der Toten sexuelle Misshandlungen, 75 waren so stark entstellt, dass sie nicht mehr identifiziert werden konnten. Knapp hundert Leichen wiesen Spuren sexueller Folterung auf: die Körper waren nackt, Brüste und Geschlecht verstümmelt, die Haut mit seltsamen Schnitten markiert, manche waren teilweise skalpiert, viele trugen Würgemale.
Bemerkenswert ist auch, wie ähnlich sich die ermordeten Mädchen waren: Fast alle waren unter 20 Jahre alt, zart gewachsen, mit langem Haar und auffällig attraktiv. „Dieser Frauentyp ist offenbar gezielt ‘bestellt’ und ausgesucht worden. Das ist wie bei gestohlenen Autos, die werden auch nach Marke vorbestellt“, meint der Fotograf Miguel Perea, der seit über zwanzig Jahren Gewaltverbrechen in Juárez fotografiert.
Ein weiteres Merkmal der Opfer ist ihre Armut. Keines der Mädchen hatte ein Auto, alle legten weite Wege zu Fuß oder mit dem Bus durch die zersiedelte Stadtlandschaft zurück. Ein Teil der Mädchen arbeitete in einer der rund 300 um die Stadt angesiedelten Weltmarkt-Fabriken, den Maquiladoras. Andere waren Hausangestellte oder Straßenhändlerinnen, wieder andere wurden auf dem Weg zur Abendschule oder zum Computerzentrum verschleppt.
Lange Jahre haben die Behörden der Provinz Chihuahua jeden Zusammenhang zwischen den Leichenfunden geleugnet, die Mordserie als „normale“ Kriminalitätsquote tituliert oder ein Selbstverschulden der Opfer suggeriert, die ein allzu „freizügiges“ Leben geführt hätten. Doch auch als der Charakter der Serien- und Sexualmorde unübersehbar geworden war, wurden die Ermittlungen in skandalöser Weise verschleppt. Die Spuren- und Tatortsicherung blieb oftmals mehr als mangelhaft. Fundstellen wurden nicht markiert. DNA-Analysen jahrelang unter Verschluss gehalten, Zeugenaussagen ignoriert und Leichen falsch identifiziert. „Viele Beweise sind so für immer verloren gegangen“, sagt der forensische Kriminologe Oscar Maynez. Er leitete im November 2001 die Untersuchung von acht weiblichen Leichen, die in einem brachliegenden Feld gefunden worden waren. „Kaum hatten wir angefangen, mussten wir schon wieder aufhören.“ Die Order von oben lautete, die Fälle schleunigst abzuschließen und Schuldige zu finden. Drei Tage später saßen zwei Busfahrer im Gefängnis, die ein „umfassendes Geständnis“ abgelegt hatten. Die schnelle „Aufklärung“ der Fälle hatte allerdings zwei Haken: Zum einen waren dem Schuldbekenntnis nachweislich Folterungen vorangegangen. Zum anderen stimmten die DNA-Analysen der Leichen nicht mit den Namen der Mädchen überein, deren Ermordung die Busfahrer bezichtigt wurden.
Als einer der ersten Täter wurde der Öffentlichkeit im Oktober 1995 ein ägyptischer Chemiker präsentiert – ein geradezu idealer Sündenbock: ein Ausländer, der in den USA wegen Trunkenheit und sexueller Nötigung vorbestraft war. Die Tatsache, dass nach seiner Festnahme allein zwischen 1996 und 1999 weitere 80 Frauen ermordet wurden, werteten die Behörden als raffiniert inszeniertes Ablenkungsmanöver. Insgesamt wurden bislang über 70 Tatverdächtige festgenommen, von denen ein Teil wieder freigelassen werden musste. „Im Gefängnis sitzt derzeit keiner, der mit den Morden direkt zu tun hat“, glaubt die renommierte US-Reporterin Diana Washington, die seit über vier Jahren für die El Paso Times zu dem Thema recherchiert.
Tatsache ist, dass das Morden ohne Unterbrechung weitergeht. Ob die skandalöse Inkompetenz der lokalen Polizei und Justizbehörden auf Ineffizienz, Frauenverachtung oder Komplizenschaft mit den allgegenwärtigen Drogenkartellen zurückzuführen ist – oder aber auf alles drei –, ist nicht geklärt. Fest steht jedoch, dass in Juárez, das nur durch das Wasser des Rio Grande von seiner adretten US-Zwillingsstadt El Paso getrennt ist, nahezu alles käuflich zu sein scheint. „Willkommen in der Stadt der Geschäfte“ so werden Besucher schon am Flughafen empfangen. An über 1.000 Umschlagplätzen können Drogen erstanden werden, neben Pillen und Pulver gibt es allerorten billigen Sex und Schnaps zu haben.

Irritierende Mordtheorien
In Ermangelung glaubhafter Fakten über die Frauenmorde blühten in den letzten Jahren allerhand makabre Spekulationen über Organhandel, Snuff-Pornos bis hin zu narkosatanischen Riten gut situierter US-Kunden auf. Doch diese Gerüchte entbehren bislang jeder Grundlage. Den Leichnamen fehlen keine Organe, und auch entsprechende Pornofilme sind bislang nicht aufgetaucht. Diana Washington glaubt vielmehr, dass es sich bei einem Großteil der Morde um eine Art Freizeitvergnügen von Personen aus den Drogeneliten handelt. „Blood sports“ wird diese Art der Mordlust genannt, für die Banden und Schlepper die „Beute“ heranschaffen.
Hintergrund ist die Brutalisierung des lokalen Drogenhandels seit der Machtübernahme durch den Clan um Amado Carrillo Fuentes im Jahre 1993. Nach der teilweisen Zerschlagung der kolumbianischen Kartelle übernahm das Juárez-Kartell den Vertrieb der in Südamerika produzierten Ware. Die Stadt wurde in den Neunzigern zum wichtigsten Nadelöhr für den Koks- und Heroinhandel in die USA. Damit mutierte Juárez endgültig zum rechts- und tabufreien Niemandsland. Wurden früher Frauen und Kinder in den blutigen Machtkämpfen der Banden weitgehend verschont, so ist heute die Jagd auf junge, arme Frauen ebenso an der Tagesordnung wie die demonstrative Hinrichtung ganzer Familien.

Unbhängige Nachforschungen mit mehr Erkenntnissen
Mit Spekulationen hat Diana Washington, die neben dem mexikanischen Journalisten Sergio Rodriguez González als bestinformierte Expertin zum Thema gilt, wenig im Sinn. Ihre Rechercheergebnisse, die sie im Frühjahr in dem mit Spannung erwarteten Buch Frauenernte – eine mexikanische Safari erstmals der Öffentlichkeit präsentieren wird, beruhen auf engen Kontakten zu mexikanischen Ermittlern aus der Landes- und Bundespolizei und den Geheimdiensten. Diese hätten im Lauf der Jahre durchaus einiges an Verbindungen zwischen Geschäftsleuten und Drogenszene, dem Polizeiapparat und prominenten Politikern zutage gefördert. Doch keinem der sich häufenden Hinweise wurde weiter nachgegangen, wie etwa den Aussagen von verhafteten Insidern über die Verwicklung der nachkommenden Generation aus den Drogenkartellen und ehemaligen Polizeifunktionären. „Dabei wissen sie längst, wer die Mörder sind“, glaubt Washington. Sie ist die erste, die kürzlich sechs Namen wahrscheinlicher Mörder in Umlauf gebracht hat: mächtige Familien aus Juárez sowie aus dem südkalifornischen Tijuana.
Grenzüberschreitend arbeiten auch die fast zwanzig Nichtregierungsorganisationen, die sich mittlerweile in Ciudad Juárez tummeln. An einem Strang ziehen sie jedoch schon lange nicht mehr. Während Esther Chávez mit ihrem gut ausgestatteten Frauenhaus Casa Amiga den Schwerpunkt auf innerfamiliäre Gewalt und kulturell bedingten machismo legt, halten unabhängige Mütterorganisationen wie Nuestras Hijas de Regreso a Casa (Unsere Töchter auf dem Heimweg) diesen familiären Fokus für fatal: „Es ist eben ein Unterschied, ob der Ehemann oder Bruder eine Frau schlägt, vergewaltigt oder ermordet“, sagt Marisela Ortiz, die Lehrerin einer ermordeten 17-Jährigen. „Oder ob Mädchen auf der Straße von Wildfremden entführt werden und dem Vergnügen mächtiger Männer dienen müssen.“
Die Zeit drängt. Die Killer und ihre Nachahmer haben sich bislang kaum abschrecken lassen. Das Morden greift mittlerweile auch auf andere Städte des mexikanischen Nordens über. Guadalupe Morfín will mit ihrer Kommission in einem halben Jahr einen ersten Untersuchungsbericht vorlegen. Ende Januar ernannte die Bundesstaatsanwaltschaft PGR endlich, wie von zivilen Organisationen seit Jahren gefordert, eine Sonderermittlerin. Zwar gilt die erfahrene PGR-Juristin María López Urbina aus dem Bundesstaat Coahuila nicht gerade als Expertin in Sachen frauenspezifischer Gewalt. Im Gegensatz zur Sonderbeauftragten Morfín wäre sie aber auch mit juristischen Befugnissen ausgestattet. Damit die Bundesermittlerin gegen den zu erwartenden Widerstand der Landesbehörden wirklich alle Fälle neu aufrollen könnte, bräuchte sie allerdings das Mandat der Zentralregierung. Dazu müsste jedoch, wie der Kriminologe Maynez sagt, Präsident Fox die Frauenmorde endlich zur Frage der „nationalen Sicherheit“ erklären – und nicht mehr nur des „nationalen Images“.

aus: ai-Journal März 2004

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