Mexiko | Nummer 429 - März 2010

„Ulises Ruiz’ politische Karriere ist vorbei“

Interview mit der Menschenrechtsanwältin Alba Cruz aus Oaxaca

Seit dem Volksaufstand im Jahr 2006 geht die Regierung mit verstärkter Repression gegen die sozialen Bewegungen Oaxacas vor. Einer der prominentesten Fälle war die Verhaftung des Aktivisten Juan Manuel Martínez (das Interview fand noch vor seiner Freilassung am 18. Februar statt; siehe Kasten). Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit der Menschenrechtsanwältin Alba Cruz über den Fall Juan Manuel, die Antirepressionsarbeit und die Reorganisation der Bewegung.

Interview: Manuel Burkhardt

Am 30. Dezember hat die verantwortliche Richterin die Freilassung von Juan Manuel innerhalb von 30 Tagen angeordnet. Warum ist er dann immer noch im Gefängnis?
Die Richterin hat der Bundesstaatsanwaltschaft eine Frist von zehn Tagen gegeben, gegen ihre Anordnung Revision einzulegen, was diese auch genutzt hat. Ein höheres Gericht soll nun das Urteil überprüfen. Dies geschah unter dem Vorwand, dass es sich um ein schweres Verbrechen handele und Juan Manuel die Zeit zur Flucht nutzen könne. Da es allerdings keine neuen Beweise gibt, mangelt es dieser Revision an Fundament. Unserer Meinung nach geschieht das, um Zeit zu gewinnen, bis sie jemand anderen als Verantwortlichen im Fall von Brad Will präsentieren können.

Wie gehen Juan Manuel und seine Familie mit der Situation um?
Sie sind wirklich sehr beunruhigt, weil sie sich fragen, warum er trotz des Urteils immer noch nicht frei ist. Außerdem sind sie besorgt, weil sie glauben, dass in der Zwischenzeit der Familie oder Juan Manuel selbst etwas zustoßen könnte. Er hat im Gefängnis neue Drohungen erhalten. Seine Kinder sind von Unbekannten fotografiert worden. Sein Vater ist mehrmals von Leuten in Autos verfolgt worden, die kein Nummernschild und verspiegelte Scheiben hatten. Außerdem haben die Nachbarn der Familie berichtet, dass die AFI (mexikanischer Geheimdienst, Anm. d. Red.) Untersuchungen anstellt und das Haus beschattet wird. Das erzeugt ein Gefühl von Unsicherheit. Hinzu kommt, dass dieses Jahr in Oaxaca Wahlen stattfinden und die Situation daher noch angespannter ist.

Die Festnahme von Juan Manuel erfolgte auf Druck der USA, einen Schuldigen im Fall Brad Will zu präsentieren. Wie verhält sich die US-Regierung inzwischen zu dem Fall?
Die Botschaft hat sich einige Male bei der Regierung erkundigt und auch den Kontakt zu Menschrechtsgruppen gesucht, um Informationen zu bekommen. Mir scheint, dass sie den Fall wirklich aufmerksam beobachten, weil sie die Verantwortlichen wollen. Aber angesichts der Umstände des Falles von Juan Manuel haben sie die Untersuchungen ebenfalls in Zweifel gezogen. Über den US-Senat gab es eine Erklärung, dass sie ernsthafte Untersuchungen fordern. Sie äußern sich zwar nicht ausdrücklich, ob die bisherigen Untersuchungen gut oder schlecht waren, aber wir denken, es ist ihre Form zu sagen, dass sie nicht sicher sind, dass Juan Manuel der Verantwortliche ist. Außerdem hat die US-Botschaft in Mexiko in Erklärungen und Artikeln ihre Regierung um Intervention in diesem Fall gebeten. Das ist natürlich verboten, aber wir wissen auch, dass die CIA in Mexiko sehr aktiv ist. Daher denke ich, dass sie auch eigene Ermittlungen anstellen.

Wie kann verhindert werden, dass nach der Freilassung von Juan Manuel ein anderer Unschuldiger als Verantwortlicher präsentiert wird?
Die mexikanische Regierung steht in diesem Fall momentan unter Druck. Die Straflosigkeit ist ihnen zwar eigentlich egal, aber in dieser Angelegenheit gibt es internationalen Druck von Seiten des wichtigsten Verbündeten, den USA. Ihr passt es nicht, dass die USA erneute Untersuchungen fordern. Angesichts der Informationen, die wir haben, und der letzten Entwicklung denke ich, dass sie den Fall wieder an die Staatsanwaltschaft zurückgeben müssen. Diese muss dann neue Untersuchungen anstellen, neue Beweise finden, um den oder die Verantwortlichen zu ermitteln.

Von Großdemonstrationen wie 2006 ist kaum noch etwas zu hören. War die Strategie der Regierung erfolgreich, die soziale Bewegung in Oaxaca mit Antirepressionsarbeit in die Defensive zu drängen?
Sicherlich. Wir Organisationen haben das Hauptaugenmerk auf die Befreiung der Gefangenen und unsere Verteidigung gelegt, und haben die zentrale Forderung, die Transformation des Staates, etwas beiseite gelassen. Inzwischen gibt es aber eine Form von Reorganisation.
Wie sieht diese aus?
Seit November gab es Kongresse der Lehrergewerkschaft auf staatlicher und bundesstaatlicher Ebene. Auch gibt es wieder mehr Foren zur Organisation der Verteidigung der Territorien, ein Thema das für die Zivilgesellschaft und die Gemeinden Oaxacas wieder mehr an Bedeutung gewinnt. Es gibt einen neuen Versuch der Reorganisation der Gewerkschaften aufgrund dessen, was mit der Elektrikergewerkschaft SME passiert ist (siehe LN 426, Anm. d. Redaktion) und der angekündigten Arbeitsreform der Regierung Calderón. So gab es Ende Januar eine große Demonstration der Gewerkschaften. Dass diese nicht die Größe wie vor drei Jahren erreichte, hat auch damit zu tun, dass die lokale Lehrergewerkschaftssektion 22 nicht alle Mitglieder mobilisiert, weil der Staat die Lehrer mit der Drohung unter Druck setzt, die Schulen zu schließen oder diese der abgespaltenen Gewerkschaftssektion 59 zu übergeben. Mir erscheint es aber wichtig, dass die Gewerkschaften verschiedener Bereiche sich wieder gemeinsam organisieren.

Mobilisieren auch andere Sektoren der Gesellschaft?
Laut einer Zählung gab es alleine im Januar 62 Demonstrationen in Oaxaca, und zwar von verschiedenen Sektoren. Von den Triquis (eines der indigenen Völker Oaxacas, Anm. d. Red.), von Organisationen der Küste mit ihrer Problematik, von Gewerkschaften, von Organisationen der APPO aufgrund ihrer politischen Gefangenen, von Transportarbeitern, von Studierenden, von sehr unterschiedlichen Gruppen. Oft kommt es zu Straßenblockaden, was wiederum zu Unmut bei Unternehmern und Verkäufern führt, die sich ihrerseits dagegen organisieren. Es freut mich aber sehr, dass die Leute trotz aller Repression weiter und wieder protestieren und sich nicht einschüchtern lassen. Das gibt uns Mut.

Viele der sozialen Organisationen, die sich in der APPO zusammengeschlossen hatten, haben oder hatten politische Gefangene zu beklagen. Arbeiten diese Gruppen zusammen oder kümmert sich jede nur um ihre eigenen?
In Bezug auf die Verteidigung der politischen Gefangenen haben die Mexikanische Liga für Menschenrechte LIMEDH und wir, das Komitee 25. November, die Mehrheit der Fälle übernommen. Außer Juan Manuel gibt es momentan auch nur noch zwei andere politische Gefangene, die wir als solche bezeichnen. Es gibt zwar eine eigene Verteidigung für jeden Gefangenen, aber auch eine Kollektivität, weil sich die Sektion 22 mit all ihrer Stärke und ihren Ressourcen um alle Gefangenen kümmert. Sie stellt ihre Kommunikationskanäle zur Verfügung, die bis oben in die Justiz reichen. Gerade die neue Gewerkschaftsführung setzt sich sehr für die Gefangenen ein. Dies war ja auch recht erfolgreich, wir haben die meisten der Gefangenen frei bekommen.

Letzten Oktober urteilte der Oberste Gerichtshof, dass der Gouverneur Ulises Ruiz die Schuld an der Verletzung der Menschenrechte in Oaxaca im Jahr 2006 trägt. Welche Konsequenzen hat dieses Urteil, auch wenn es nur Empfehlungscharakter hat, für den Konflikt in Oaxaca und die Antirepressionsarbeit?
Vor allem politische Konsequenzen. Es ist ein Urteilsspruch im moralischen Sinne. Aber die Anerkennung, dass Menschenrechte verletzt wurden und wer dafür die Schuld trägt, ist eine Form den Menschen zu sagen: Ja, es gibt einen Weg zur Gerechtigkeit, wenn auch mit kleinen Schritten. Zum anderen bedeutet es, dass Ulises Ruiz’ politische Karriere vorbei ist. Er ist jetzt offiziell gekennzeichnet als großer Menschenrechtsverletzer, als Repressor. Zudem gibt es den Leuten Mut, Menschenrechtsverletzungen anzuzeigen. Jetzt geht es um eine strafrechtliche Aufarbeitung, die mit dem Urteil ja nicht gegeben ist. Uns hilft dies insofern, da es ein Argument mehr ist, um die fehlende Gewaltenteilung, die Korruption des Systems in Oaxaca anzuprangern und einen Wandel einzufordern.

Wie gefährlich ist momentan die Arbeit der MenschenrechtsverteidigerInnen selbst?
Der Grad der Bedrohung ist gestiegen, nicht für uns aus dem Komitee, sondern auch in den Gemeinden, wo mehrere Menschenrechtsverteidiger ermordet wurden oder verschwanden. Oft geschieht dies im Zusammenhang mit Konflikten um Naturressourcen wie Wasser oder Holz.

Wer ist dafür verantwortlich?
Es gibt starke ökonomische Interessen von transnationalen Unternehmen. Ich denke, je mehr Organisation es seitens der Bevölkerung gibt, desto stärker nimmt die Überwachung zu. Und zwar nicht nur durch die Paramilitärs und Kaziken, die es in jeder Gemeinde gibt, sondern auch durch die Form, in der die Armee auf die Straßen geschickt wurde um so für eine konstante Überwachung zu sorgen. Sie kriminalisieren die Arbeit der Menschenrechtsverteidiger und so steigt der Grad der Bedrohung. Ich selbst wurde auch mehrmals bedroht, telefonisch und auf der Straße. Doch wir fühlen eine Verpflichtung für die Menschen und machen trotzdem weiter.

Kasten zur Person:

Alba Cruz
ist Anwältin des Menschenrechrechtsorganisation Komitee 25. November. Dieses hatte sich gegründet, nachdem am 25.11.2006 die Bundespolizei die Protestcamps und Barrikaden in Oaxaca auf brutale Weise geräumt hatte und Hunderte von AktivistInnen festgenommen und gefoltert wurden.

http://comite25denoviembre.org/

Kasten:

Juan Manuel ist frei!
Kurz vor Redaktionsschluss, am 18. Februar, ist Juan Manuel Martínez aus dem Gefängnis entlassen worden. Im Oktober 2008 war Juan Manuel, Aktivist der 2006 entstandenen Volksversammlung der Völker Oaxacas (APPO), von den Behörden als vermeintlich Verantwortlicher für die Ermordung des US-amerikanischen Indymedia-Journalisten Brad Will im Oktober 2006 verhaftet worden (siehe LN 416). Trotz fehlender Beweise bzw. das Gegenteil beweisender Videodokumentationen sowie der offensichtlich politisch motivierten Konstruktion der Vorwürfe gegen ihn musste er 16 Monate im Gefängnis verbringen. Lokale und internationale Organisationen sowie die Familie von Brad Will haben sich seitdem für Juan Manuels Freilassung eingesetzt. Tausende Menschen empfingen ihn am Tag seiner Freilassung vor dem Gefängnis. Trotz seiner Freilassung sind er, seine Familie und seine Verteidigung weiterhin Bedrohungen ausgesetzt und brauchen die internationale Solidarität. Auch finanzielle Hilfe ist von Nöten, da die Familie mit drei Kindern aufgrund des Verdienstausfalls von Juan Manuel, der als Bäcker arbeitete, ruiniert ist und aufgrund der Bedrohungen wahrscheinlich umziehen muss.
Spenden bitte an: Umweltzentrum e.V.; Stichwort Juan Manuel; Konto-Nr. 4014790400; BLZ 43060967; GLS Gemeinschaftsbank Bochum.

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